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Politik: Maß voll, zeitlos

Unter Kastanien sitzen, trinken, essen, reden oder nicht reden: Gibt es viel Schöneres? Vor 200 Jahren haben die Bayern den Biergarten erfunden.

Sie: Grad schee is do.

Er: Du kommst doch gar nicht aus Bayern.

Sie: Im Biergarten schon. Immer.

Er: Seit 200 Jahren ...

Sie: Ha, ha. Es soll Leute gegeben haben, die sich aus geringeren Anlässen mit Maßkrügen die Köpfe eingeschlagen haben.

Er: Ich meine doch nur, dass es seit 200 Jahren Biergärten gibt. Seit ziemlich genau 200 Jahren.

Sie: Du kennst doch nicht etwa das Dekret König Maximilians I. anno 1812, das den öffentlichen Bierausschank erlaubte?

Er: Das schöne Dekret oben links auf dieser Seite?

Sie: „Den hiesigen Bierbrauern gestattet seyn solle, auf ihren eigenen Märzenkellern in den Monaten Juni, Juli, August und September selbst gebrautes Märzenbier in Minuto zu verschleißen, und ihre Gäste dortselbst mit Bier u. Brod zu bedienen. Das Abreichen von Speisen und anderen Getränken bleibt ihnen aber ausdrücklich verboten.“

Er: Das muss ich jetzt wirken lassen. Ich hol’ uns mal eine Maß in minuto.

(Sie bleibt schweigend und sinnierend zurück, im Biergarten nicht unüblich.)

Er: Wieso eigentlich Märzenbier?

Sie: Früher wurde in Bayern hauptsächlich untergäriges Bier gebraut, das im Sommer sehr schnell verdarb – also wurde nur bis März gebraut.

Er: (wischt sich den Schaum aus dem Dreitagebart) Aber gesoffen wurde doch immer!

Sie: Eben! Deswegen sitzen wir bis heute so gerne im Biergarten. Um das Bier im Sommer kühl zu lagern, legten die großen Münchner Brauereien entlang der Isar sogenannte Bierkeller an ...

Er: Ein Prosit auf die Brauer!

Sie: ... tief in der Erde, in denen die Fässer auf Eis ruhten. Um zusätzlich für Kühle zu sorgen, wurden die Keller oben mit Kies bestreut und flach wurzelnde Bäume gepflanzt.

Er: Ein Prosit auf die Kastanie!

Sie: Die drei ältesten Münchner Biergärten gibt es bis heute: den Augustinerkeller, Paulaner am Nockherberg und den Hofbräukeller am Wiener Platz.

Er: Scho schee do.

Sie: Wo jetzt?

Er: Na, am Wiener Platz zum Beispiel. Klein, überschaubar, gemütlich, kein Schischi, kein Bussi-Bussi, und die meisten bringen sich ihre Brotzeit von daheim mit.

Sie: Das macht den Biergarten ja aus. Eine Halbe ...

Er: ... eine Maß ...

Sie: ... eine Breze, einen Radi, einen Leberkas’ und einen Obatzdn.

Er: Wir sitzen hier in Berlins ältestem Biergarten, dem Prater, siehe oben rechts auf dieser Seite – da müssen wir das wahrscheinlich übersetzen.

Sie: Radi geht leicht.

Er: Rettich. Breze ist Brezel, und Leberkas’ ist Leberkäse.

Sie: Und Obatzda ist, äh, Angemachter.

Er: Aha.

Sie: Butter, Camembert, Zwiebeln, Kümmel, Paprikapulver, Salz und Pfeffer und ein paar Esslöffel Bier.

Er: Ein Prosit auf den Obatzdn!

Sie: Biergarten ohne Obatzdn geht überhaupt nicht.

Er: Aber Biergarten nennt sich heute alles, was einen Tisch und vier Stühle ins Freie stellt.

Sie: Mit Stühlen geht’s ja schon los. Bänke, es müssen Bänke sein! Weißt du, was ein Bierkieser ist?

Er: Klar, die Bierbeschauer, die in ihren Hirschledernen auf hölzernen Bänken im Hofbräuhaus hockten. Die Bänke waren zuvor mit einigen Maß übergossen worden, es wurde eine volle Stunde gezecht, dann standen die Kieser auf. Wenn die Bank an den Hosenböden festpappte, war das Bier gut. Wenn sie runterfiel, bekam der Brauer wegen zu dünnen Biers eine Strafe. Ich möchte Bierkieser sein.

Sie: Ein Prosit auf die Lederhose!

Er: Bänke sind ja auch total sozial, wenn ich an dieser Stelle kurz aus der Bayerischen Biergartenverordnung vom 20. April 1999 zitieren darf: „Biergärten erfüllen wichtige soziale und kommunikative Funktionen, weil sie seit jeher beliebter Treffpunkt breiter Schichten der Bevölkerung sind und ein ungezwungenes, soziale Unterschiede überwindendes Miteinander ermöglichen. Die Geselligkeit und das Zusammensein im Freien wirken Vereinsamungserscheinungen im Alltag entgegen.“

Sie: Kann ich nur bestätigen. Ein Prosit auf die „Sozialadäquanz“! Steht auch in der Verordnung, das schöne Wort.

Er: Nicht so laut! Das war ja der Grund für die Biergartenverordnung: Weil Anwohner der Waldwirtschaft in Großhesselohe sich über den Lärm beschwerten, ging die Bayerische Staatsregierung her und legte einen Immissionsrichtwert von 65 dB(A) für Biergärten fest. Und entsprechende Öffnungszeiten: von sieben bis 23 Uhr.

Sie: Ein Prosit auf sieben Uhr!

Er: Wobei die „WaWi“ nicht gerade der Inbegriff für griabige Gemütlichkeit ist. Aus der Eigenwerbung: „Bei schönem Wetter balancieren fesche Kellnerinnen Maßkrüge durch die Menschenmenge.“

Sie: Mit feschen Kellnerinnen geht’s ja schon los. In einem echten Biergarten holt man sich seine Maß am Ausschank gefälligst selbst. Und ein Carpaccio von der Ochsenlende mit WaWi-Spezial-Trüffelsoße oder Souvlaki- Spieße findet man gottlob auch nirgends.

Er: Ich hol’ uns noch was.

(Sie bleibt schweigend und sinnierend sitzen. Er kommt mit dem Bier zurück.)

Sie: Wieso muss ich jetzt mit Strohhalm trinken?

Er: Ich hab ein echtes Weißbier und ein alkoholfreies Weißbier bestellt. Damit ich’s nicht verwechsle, hat mir die fesche Kellnerin am Ausschank eine „information“ ins Glas gesteckt, „informäition“ hat sie gesagt, ganz polyglott: den Strohhalm.

Sie: Ein Prosit auf die „informäition“! Ein Prosit auf Berlin!

Er: Wo bleibt eigentlich der internationale Biergartenschutz? Ich finde, der Biergarten ist zu wertvoll, um nicht geschützt zu werden. Wissen wir, was der gemeine Holsteiner im einzigen Biergarten des Landes in Kiel so treibt? Und ob das irgendetwas mit dem Megapark an der Playa de Palma zu tun hat, unten auf Malle?

Sie: Wissen wir nicht.

Er (redet sich in Rage) Sonnenschirme statt Kastanien! Plastikstühle! Aperol sprizz! Kein Prosit!

Sie: Wobei der Prater ja nicht nur Biergarten war und ist. 1837 wurde hier zum ersten Mal Bier ausgeschenkt, schon bald aber übernahm Paul Kalbo die Restauration und baute sie für allerlei Lustbarkeiten aus: als Variété, Volkstheater und Ballsaal. Ein echter kultureller Hotspot.

Er: Du wieder mit deiner Kultur. Hier wurde Politik gemacht! Hier hat Ferdinand Lasalle im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein agitiert, schon seit 1891 feierte man jährlich den 1. Mai, der Ernst-Thälmann-Film der DEFA ist hier gedreht worden, es gab Parteikonferenzen, Arbeiterjugendkonferenzen ...

Sie: Und die tranken alle was?

Er: Berliner Bier. Pfefferberg, Engelhardt, Schultheiss, Charlottenburger ...

Sie: Ein Prosit auf die bayerischen Brauereien!

Er: Oder wenn ich mit dem Fehlfarben-Sänger Peter Hein sprechen darf: „Wahrscheinlich liegt’s einfach am Berliner Wasser, dass das Bier so schlecht ist.“

Sie: Die Hertha, die S-Bahn, der Flughafen – und jetzt auch noch das Wasser (sinkt brütend in sich zusammen).

Er: Die Anarchie! Biergärten sind immer Orte für Anarchie.

(Sie nimmt einen großen Schluck.)

(Er nimmt einen großen Schluck.)

Sie: Es ist also anarchistisch, dass wir hier zusammensitzen?

Er: Na klar, oder trinkst du jeden Mittag ein paar Halbe? Im Biergarten geht es laut zu, wenig gesittet, man politisiert, polemisiert, frönt der Völlerei und lässt sich von niemandem nichts vorsetzen.

Sie: Und das ist alles, was der postmoderne Mensch an anarchistischen Begierden zu bieten hat? Georg Elser war da bekanntlich weiter, 1939 im Münchner Bürgerbräukeller ...

Er: ... an der Stelle steht heute ein Luxushotel ...

Sie: ... beim Bombenattentat auf Adolf Hitler, was leider nicht klappte. Schlechtes Wetter, Hitler musste mit der Reichsbahn zurück nach Berlin fahren und war schon weg, als der Sprengsatz explodierte. Elser wurde am 9. April 1945 in Dachau hingerichtet.

Er: Ein Prosit auf den Elser Georg!

Sie: Kein Prosit auf Ernst-Günther Krause!

Er: Genau! Niemals!

Sie: Das müssen wir jetzt erklären.

Er: Dieser Krause ist so ein Möchtegern- Frankenberger. Ein Pedant für die ganz Armen!

Sie: Aha.

Er (zündet sich eine Zigarette an und redet sich wieder in Rage): Dieser Krause ist noch schlimmer als dieser Frankenberger. Der fordert in Biergärten ernsthaft ein Rauchverbot! Für alle!

Sie: Sehr anarchisch.

Er: Stört dich etwa mein Rauch?

Sie: Dein Rauch stört mich nie.

Er: Irgendwann werden diese Krause-Frankenbergers auch noch ein Bierverbot im Biergarten fordern. Für alle!

Sie: Du übertreibst.

Er: Ich geh’ Bier holen.

Sie: Sag ich doch, du übertreibst.

Er: Was wahr ist, ist wahr. (Geht, ist schnell wieder da, mittags herrscht im Prater wenig Betrieb.) Diesmal ohne „informäition“.

Sie: Welcher ist dein Lieblingsbiergarten?

Er: Wenn ich es ruhig haben will, dann der Hofbräukeller in München. In Berlin sitzt man am Schlachtensee sehr schön und am Neuen See im Tiergarten auch.

Sie: Als Anarchist.

Er: Vielleicht darf ich hier mal einen Gedanken zu Ende führen? Zweiter Teil also: Und wenn ich es krachledern möchte, gehe ich in München zum China-Turm. Und du?

Sie: Das ist mir alles viel zu städtisch. Der Tutzinger Biergarten am Starnberger See, das ist meiner. Oder der auf der Theta in Bayreuth.

Er: Am Starnberger See, bei den Großkopferten, typisch!

Sie: Nix da. Gegenüber das Pocci- Schlössl, am Horizont Zugspitze, Wetterstein, Karwendel, das weite blaue Land, was für ein Panorama – und wenn’s einem innen nicht nass genug ist, dann rein in die schönsten aller Fluten. Gerne schon ab 13, 14 Grad.

Er: Das Panorama lasse ich mir gefallen, aber 13, 14 Grad – bei mir nie unter drei Maß! Auf der drüberen Seeseite hat übrigens der Bierbichler Sepp, der Schauspieler, sein Etablissement, „Zum Fischmeister“. Da sitzt man auch sehr schön.

Sie: Und nicht weit weg davon ist unser Kini angeblich ins Wasser gegangen, ganz ohne Biergarten.

Er: Deswegen vielleicht. Aber mein Kini war er eh nicht, der unglückliche Ludwig, ich bin Rheinländer.

Sie: Meiner schon. Schon wegen Richard Wagner.

Er: Saß der im Biergarten?

Sie: Er mochte alles, was mit Lust und Luxus zu tun hatte. Seidene Unterhosen, brokatene Tapeten, große Orchester und laute Musik. Außerdem war er Anarchist.

Er: Wie gehen denn seidene Unterhosen und Brokattapeten mit Anarchie zusammen?

Sie: Man darf das einfach nicht so eng sehen. Wagner war erstens Sachse, zweitens Künstler und drittens kein Ideologe. Und wir sind erstens Genießer, zweitens keine Pedanten und drittens Bayern im Herzen. Gell?

Er: Oans, zwoa, g’suffa.

Sie: Vom Achternbusch Herbert gibt’s einen frühen Film, „Das Andechser Gefühl“. Ich hab auch gerade so ein Gefühl, so ein Biergarten-Gefühl, so ein warmes Gefühl von Tagträumen und Zeitlosigkeit.Man muss nur aufpassen, dass einen die Realität dabei nicht erwischt.

Er: Und warum gehst du dann weg?

Sie: Irgendwann ist eben Zeit. Für dich, für mich, für uns. Grad schee war’s. Du kennst dich in Hamburg doch aus, oder?

Er: Da gibt’s auch einen Biergarten. Gar nicht so übel. Und trotzdem, ach ja. Ich glaube, ich hole uns lieber noch was.

Christine Lemke-Matwey, Helmut Schümann

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