Müttergenesungswerk: Mama, entspann dich!
Zur Kur fahren, ausruhen, sich erholen. Dass gestresste Mütter das tun können, dafür sorgt seit 1950 das Müttergenesungswerk. Seitdem hat sich viel geändert, aber eins nicht: Die Frauen melden sich immer erst, wenn sie mit ihrer Kraft fast am Ende sind.
Frau K. und Frau R. haben einiges gemeinsam. Sie sind berufstätig, alleinerziehend und nicht mehr ganz jung. Beide haben eine Zeit erlebt, in der ihr Alltag als Mutter sie nur noch überforderte.
Als Frau K.s Kinder sieben und acht Jahre alt sind, beginnen ihre Hände so sehr zu zittern, dass sie nicht mehr als Näherin arbeiten kann. Kreislaufstörungen und Gallenbeschwerden kommen hinzu – und am Ende ein Nervenzusammenbruch.
Frau R. hat zusätzlich zu ihrem Hauptberuf noch zwei Nebenjobs, um über die Runden zu kommen. Ihr Sohn ist vier, sie erzieht ihn von Beginn an allein. Sie hat „es mit der Bandscheibe“. Und immer wieder Schwindelanfälle. „Irgendwann hatte ich keine Kraft mehr und konnte meinen Jungen kaum noch hochheben.“ Schon das Einkaufen war zu viel. Und ihre 45-Stunden-Arbeitswoche erst recht: „Ich bin oft nicht in den Schlaf gekommen, weil ich zu viele Gedanken im Kopf hatte.“ Die Geräusche der Großstadt konnte sie auch nicht mehr ertragen. Beide Frauen machten eine Kur in einer Einrichtung, die zum Müttergenesungswerk gehört.
„Hier fand ich mein Gleichgewicht wieder – seelisch und körperlich“, berichtet Frau K. Und Frau R. sagt: „Ich konnte in der Kur den Knoten im Kopf lösen und habe jetzt viel mehr Energie.“
Zwischen den beiden Geschichten liegen rund 60 Jahre. Frau K. machte ihre Kur Anfang der 1950er Jahre, da war sie 36 Jahre alt. Sie war nach dem Zweiten Weltkrieg gen Westen geflohen, ihr Mann aus dem Krieg nicht zurückgekehrt. Nach einem langen Krankenhausaufenthalt nach ihrem Nervenzusammenbruch wurde sie ins Genesungsheim gebracht. Ihre Geschichte ist nur noch aus Unterlagen des Müttergenesungswerks zu rekonstruieren, ihr voller Name nicht überliefert.
Frau R. fuhr im Januar 2013 mit 40 Jahren zur Kur nach Bayern. Sie heißt mit vollem Namen Janett Röthig. Und man kann sie jederzeit treffen, in einem kleinen Ladengeschäft im Berliner Familien-Stadtteil Prenzlauer Berg, wo sie anderen Frauen dabei hilft, eine Kur zu beantragen. Es ist eine von 1300 Beratungsstellen in Deutschland, die zum Müttergenesungswerk gehören. Die Gespräche führt Janett Röthig unter einer großen Pinnwand voller Postkarten aus wenig exotischen Orten, die die Mütter geschickt haben: aus Pellworm, Langeoog, Kühlungsborn und Bad Bevensen.
Vor rund 60 Jahren wurde das „Deutsche Müttergenesungswerk – Elly Heuss-Knapp-Stiftung“ von der Frau des ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, gegründet. Mehr als vier Millionen Frauen schickte es bis heute zur Kur , zwischen 40 000 pro Jahr in den 50er Jahren und 80 000 in den 60ern. Heute sind es wieder rund 40 000. Die Geschichte der Stiftung, die sich als eine Art Lobbyorganisation für Mütter versteht, ist auch die des Mutterseins in West- und seit 1989 Gesamtdeutschland. Denn so altmodisch der Name klingt, so aktuell ist das Thema noch heute, und während sich einiges sehr verändert hat, ist anderes einfach beim Alten geblieben.
Der größte Teil der Frauen, die sie berate, lebe noch immer mit der „klassischen Aufgabenteilung“ – oder alleinerziehend –, sagt Janett Röthig, bevor sie doch noch mal ans Telefon geht, obwohl sie eigentlich längst Feierabend hat. „Kein Problem“, tröstet sie eine aufgeregte Frau und: „Nicht so schlimm“. Nachdem sie aufgelegt hat, sagt sie: „Die meisten Frauen bürden sich mehr auf, als sie schaffen.“ Dazu komme dann der ewige Zeitdruck. Sie meint damit gar nicht unbedingt sich selbst, obwohl es auf sie passt.
Auch Janett Röthig muss gleich schnell zur Kita radeln, um den Sohn abzuholen, aber auf dem Weg dahin wird sie noch einen Umweg zu einer Bäckerei machen, um dort als Testkäuferin den Service zu prüfen. Das ist einer ihrer Nebenjobs. Im zweiten Nebenjob macht sie die Buchhaltung für eine Messebaufirma. Ihr Alltag hat mit dem Prenzlauer-Berg–Wohlstandsklischee von der im Café sitzenden Latte- Macchiato-Mutter nichts zu tun.
„Ich finde nicht, dass die Situation für Mütter heute viel weniger dramatisch ist als in den 50ern“, sagt auch Anne Schilling, seit zwölf Jahren Geschäftsführerin des Müttergenesungswerkes. „Die meisten Frauen nutzen noch immer erst dann eine Kur, wenn es wirklich nicht anders geht.“ Wenn sie bereits an schweren Schlafstörungen, Panikattacken und Depressionen leiden. Das habe viel mit der Rolle der Frauen zu tun, von denen weiterhin geduldige Anspruchslosigkeit gefordert wird, während umgekehrt die Ansprüche an sie ständig wachsen. „Wie im klassischen Rollenbild sind Mütter weiterhin für alles verantwortlich, was in der Familie schiefläuft“, sagt Anne Schilling. Sie sollten dazu aber bitte auch noch gut aussehen, sportlich und aktiv sein und wenn irgend möglich eine interessante, relevante Karriere machen. Wer soll das schaffen? Und so kamen die Businesskrankheiten in die Mutterwelt. Statt von Erschöpfung spricht man heute von Burn-out.
Selbstmorde waren keine Ausnahme
Anne Schilling sitzt in ihrem Büro in einem Neubau an einer Nebenstraße in Berlin-Mitte, mit Ausblick auf einen Friedhof. Vor ihr auf dem Tisch liegen Texte über Kurteilnehmerinnen aus den 50er Jahren. Es geht um Flüchtlingsfrauen, die nicht wissen, wohin sie ihre fünf Kinder nachts betten sollen. Deren Männer nach dem Krieg verschwunden sind oder zu seelischen Wracks oder erwerbsunfähigen Alkoholikern geworden waren. Um Frauen, die ebenso wie ihre Kinder unter schweren Krankheiten leiden: Kinderlähmung, Tuberkulose, Herzleiden, Tumore. Selbstmordversuche waren keine Ausnahme.
An der Wand hängt ein Porträt von Präsidentengattin Elly Heuss-Knapp. Sie besuchte Ende der 40er Jahre bereits existierende Mütterkurheime, die zu jener Zeit mangels Spenden kurz vor der Pleite standen, und sprach mit Müttern wie Frau K.. Aus dem, was die ihr erzählten, machte sie eine Rede, die sie vor Krankenkassenverantwortlichen hielt. Es war eine überzeugende Rede, denn die Herren Kassenverwalter willigten ein, freiwillig die Mütterkuren zu bezuschussen – nachdem die Bundespräsidentengattin 1950 das Müttergenesungswerk gegründet hatte. Die Stiftung wurde zu einem Netzwerk für die Wohlfahrtsverbände als Träger der Heime. Sie setzte sich dafür ein, dass alle Häuser eine ähnliche Qualität bekamen und organisierte Spendensammlungen, die erste zum Muttertag 1950: Sieben Millionen Blümchen, die das Markenzeichen der Organisation werden sollten, wurden an Spender verteilt. Die steckten 2,5 Millionen D-Mark in Sammelbüchsen. Als Elly Heuss-Knapp 1952 starb, kümmerte sich ihr Mann weiter um das Herzensthema seiner Frau. Zehn Jahre später sorgte Theodor Heuss mit einer Erwähnung im Bundessozialhilfegesetz dafür, dass Mütterkuren staatliche Zuschüsse bekamen.
Anfangs waren vor allem gute Betten und gute Ernährung für die Kurenden wichtig, denn beides hatten viele der Mütter zu Hause nicht. Auch wenn damals psychosoziale Therapie, die heute in allen Mütterkurheimen angeboten wird, noch kein wirkliches Thema war: „Der Ansatz war immer das, was wir heute ganzheitlich nennen: für Körper und Seele“, sagt Schilling. „Stärker werden“ sollten die Frauen in der Kur, auch, um sie wieder fit für ihren Aufgabe in der Gesellschaft zu machen. „Der Arzt rät dringend zu einem sofortigen Erholungsaufenthalt, um die Mutter für ihre Aufgaben im Haushalt und in der Familie wieder einsatzfähig zu machen“, heißt es in einem Bericht aus den 50ern über eine Frau, die zwei Fehlgeburten mit großem Blutverlust hinter sich hatte. Schließlich galt es meist viele Kinder zu versorgen, in diesem Fall vier.
Im Konferenzraum des Müttergenesungswerks in Berlin-Mitte steht ein Videorekorder. Auf VHS-Kassetten hat die Stiftung alte Filme aufbewahrt, die früher mit der Wochenschau in den Kinos gezeigt wurden, um die Spendenbereitschaft zu erhöhen. Der Film aus den 50er Jahren zeigt, wie Frauen Gymnastik machen in weißen Turnhemden und schwarzen Hosen. Die gab es damals als Geschenk zu Beginn der Kur . Mit den Turnsachen sollten sie auch zu Hause Gymnastik machen. Sie sollten in den Heimen etwas lernen, das ihnen nach der Rückkehr den Alltag erleichterte. So gab es auch Eheberatungen während der Kur oder Gespräche mit Sozialarbeitern. Der Film heißt „Mutter braucht Ferien“, und der Titel ist seltsam genug, denn um Ferien, das Positive obendrauf, ging es nie. Es ging um Heilung, um Rettung.
"Die Deutsche Hausfrau arbeitet doppelt so viel wie der Mann"
Doch das waren alles noch jene Jahre, in denen Ehemänner entschieden, was ihre Frauen zu tun hätten. Ob sie arbeiten dürften oder besser zu Hause blieben. Ein anderer Film, um 1970 gedreht, läuft unter dem Titel „Kein Urlaub für Mütter“. Es kommen – selbstverständlich männliche – Experten zu Wort, die den Alltag von Müttern durch Daten und Fakten veranschaulichen sollen: „Nur drei bis sechs Prozent der Kinder können einen Kindergarten besuchen“, heißt es da. Oder „Die deutsche Hausfrau arbeitet rund 80 Stunden pro Woche – rund doppelt sie viel wie der Mann.“ Und: „23 Prozent aller Frauen mit Kind unter 18 sind berufstätig.“ Die Experten tragen Brille, Kittel und Fliege und sprechen davon, dass nicht nur „Bäuerinnen und Arbeiterinnen“ von den Kuren profitieren würden, sondern auch „Frauen von Akademikern“ – Akademikerinnen selbst kommen nicht vor. Im Film sieht man dann diese Frauen beim „Kneippen“ durch spezielle Becken waten. Bei Armgüssen und beim Aufführen von Sketchen. Geturnt wird inzwischen in Sportkleidung, die die Kurenden selbst mitgebracht hatten.
So hat auch Gerda Mißmahl ihre Kur in Erinnerung. Sie war 28 Jahre alt, als sie 1968 zur Kur ins Saarland fuhr, und gerade im dritten Monat mit ihrem zweiten Sohn schwanger. Die Übelkeit war kaum zu ertragen, ihr Blutdruck viel zu niedrig Sie hatte Eisenmangel, und ihr Mann wollte das Kind in ihrem Bauch eigentlich nicht. „Am meisten hat mir das Zusammensein mit den anderen Frauen geholfen“, sagt die heute 73-Jährige, die inzwischen sechsfache Großmutter ist. „Dabei habe ich gemerkt, dass meine eigenen Probleme gar nicht so schlimm waren. Da waren zum Beispiel einige dabei, die wurden von ihren Männern geschlagen.“
Ihren ersten Sohn hatte sie während der dreiwöchigen Kur bei ihrer Schwägerin untergebracht. Bis in die 70er Jahre fuhren die Mütter ohne Kinder zur Kur. Dann kamen die Mutter-Kind-Kuren in Mode, und es begannen heftige Diskussionen innerhalb des Müttergenesungswerks, ob das wirklich gewollt sein könne: dass die Mütter ihr Kind – also ihre Arbeit – mitnehmen. Ob das nicht vielmehr die Erholung gefährden würde. 1983 war die Debatte beendet, wurde diese Kurform offiziell anerkannt, und schon 1985 boten 34 von 118 Einrichtungen Kuren mit Kind an. In den 90er Jahren wurde es ganz und gar unpopulär für Mütter, ihre Kinder zurückzulassen. Heute sind unter 78 Einrichtungen nur noch fünf, in die Frauen allein fahren können. Wenn Mütter das heute täten, ernteten sie oft missbilligende Reaktionen, sagt Anne Schilling. Das arme Kind, werde gedacht, so klein, und die Mutter fährt einfach weg. Es sei heute allerdings auch schwer, jemanden zu finden, der einem wochenlang ein Kind abnehme. Die früher übliche Großfamilie, die das übernehmen könnte, gebe es nicht mehr, und die sozialen Netzwerke seien damit überfordert.
Janett Röthig hat ihren Sohn im Januar natürlich mit zur Kur nach Bayern genommen. Fünf bis sieben Stunden pro Tag wurde der Vierjährige in Gruppen betreut, die Mutter hatte Zeit für sich. Die hat sie für Sport genutzt – Joggen, Nordic Walking, Zumba, Yoga, Snowboardfahren: „Ich war so glücklich. Zu Hause habe ich es einfach viel zu selten geschafft, mich ausreichend zu bewegen“, sagt Janett Röthig. Und sie konnte ihre Probleme in Therapiegruppen besprechen. „Ich habe einiges gelernt, um mit stressigen Situationen gelassener umzugehen. Mir ist es wichtig, dass ich meinem Kind Stabilität geben kann. Dabei hat die Kur geholfen.“ Heute werden bei den Kuren Gruppentherapien angeboten etwa für Alleinerziehende oder Frauen, die eine Abhängigkeits- oder Pflegesituation in der Familie bewältigen.
Janett Röthig hat wie Gerda Mißmahl vor 40 Jahren den Impuls, ihr eigenes Leben mit dem anderer Mütter zu vergleichen, und dabei vor allem festzustellen, dass es anderen noch viel schlechter gehe als ihr. Sie stellt diese Vergleiche auch bei ihrer Arbeit an, bekommt es dort mit häuslicher Gewalt oder schlimmen Sorgerechtsstreitigkeiten zu tun. Statt daraus weiterhin den Schluss zu ziehen, dass sie noch kein Anrecht auf eine Kur habe, sagt sie inzwischen aber: „Einmal im Leben sollte jede Mutter eine Kur bekommen.“ Und wenn das sicher auch in vielen Fällen ein berechtigter Vorschlag ist, fürchtet sie doch gleich darauf, dass jemand die kurenden Mütter für „Schmarotzer“ halten könnte. Mütter sind immer zuerst mit dem Bild von der Gebenden als der Nehmenden verbunden. Änderungswünschen in diesem Betreff wird nur ungern entsprochen. Das gilt auch für Krankenkassen. Mancher Antragstellerin wurde in der Absage vorgeschlagen, statt der Kur einen Familienurlaub zu machen.
Daniela Martens
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