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Generaloberst Alexander von Kluck (mit Cape) kommandierte im Sommer 1914 die 1. Armee.
© picture alliance / Everett Collection

Die Schlacht an der Marne 1914: „Majestät, wir haben den Krieg verloren“

Sind sie Helden oder Versager, die beiden Generäle, die jene schicksalshafte Schlacht an der Marne im Spätsommer 1914 für Deutschland führten? Eine Suche nach ihren Spuren, in München und Frankreich.

Er war noch ein Junge, als Vicco von Arnim über sein Erbe aufgeklärt wurde. Sein Großvater nahm ihn beiseite, zeigte ihm einen mit preußischen Adlern und Kronen verzierten Metallstab und sagte, „den erbst du einmal“. Es war der Feldmarschallstab seines Urgroßvaters Karl von Bülow. Ein bedeutender Mann musste das gewesen sein.

So erinnert sich der 58-jährige Unternehmensberater in seiner Münchner Wohnung an den Moment, als der Erste Weltkrieg Teil seines Lebens wurde. Etwas, das er nicht verstand, aber aufbewahren sollte. Sein Großvater schraubte den Knauf des Stabs ab und zeigte ihm, dass er innen hohl war. Früher seien Goldmünzen darin gewesen. Der Enkel überlegte. „Machst du ihn mir wieder voll?“

Heute lacht Vicco von Arnim darüber. Seine Augen blitzen aus einem gemütlichen Gesicht, das ergraute Haar tanzt keck über der Stirn. Was hätte er als das Kind, das er damals war, auch mit dem Symbolischen dieser Ahnenfolge anfangen sollen? Eingebrannt hat es sich ihm trotzdem. Er bekam eine erste Ahnung von der „Besonderheit des Namens“, derer er sich heute so bewusst ist.

Der fehlende Name war wie eine Lücke

Ein paar Tage vorher in einem kleinen Häuschen am Ufer der Dordogne zieht der Franzose Michel Rateau die Geburtsurkunde seiner Mutter aus einem Dokumentenstapel. Denise Mathilde Guerbette, geboren am 13. Dezember 1915 in Pinon an der Aisne. Der Name von Mathildes Mutter ist vermerkt, der ihres Vaters nicht. „Noch auf ihrem Sterbebett beklagte sie, ihren Vater nie gehabt zu haben“, sagt der Sohn. „Sie muss zeitlebens sehr darunter gelitten haben, als Kind nicht akzeptiert worden zu sein.“

Der fehlende Name war wie eine Lücke in ihrem Leben. Noch immer da, als Mathilde 2005 starb, eine Frau, die elegant und ernst gewesen war, mit einem sinnlichen Mund und blonden Locken, die sie zeitlebens hochsteckte. Eine Schauspielerin, Tänzerin und Sängerin, von der das beste Fotostudio in Paris Porträtaufnahmen gemacht hatte. Rateau legt die vergilbten Abzüge auf den Tisch. „Sie dachte immer“, sagt er, „dass sie es anderen Menschen recht machen müsse.“

Also hat sich der Sohn auf die Suche nach dem Ursprung dieses Gefühls gemacht. Seit beinahe 40 Jahren stellt er Nachforschungen an. Er ist dabei den Geschichten gefolgt, die man sich in Pinon und in der Familie Guerbette erzählte. Und da fiel immer wieder ein Name: Alexander von Kluck.

Sie waren am Boden, aber der Feind nutzte es nicht aus

In der Geschichte des Ersten Weltkriegs ist der Name dieses preußischen Heerführers vor allem mit einer anderen Lücke verknüpft, einer Lücke von etwa 30 Kilometern, die zwischen seiner 1. Armee und der von Karl von Bülow befehligten 2. Armee entstanden war. Beide konnten die Lücke in der Front nicht mehr schließen. Der Gegner hatte das auch erkannt. Und so scheiterte am 9. September 1914 an der Marne der kühne Angriffsplan, mit dem das Kaiserreich in seinem Zweifrontenkrieg alles auf eine Karte gesetzt hatte. „Majestät, wir haben den Krieg verloren“, teilte Helmuth von Moltke, der Organisator dieses Feldzuges, Wilhelm II. mit.

Das kaiserliche Heer war einen Monat zuvor in das neutrale Belgien eingefallen, hatte einen weiten Bogen durch Nordfrankreich geschlagen und trieb die Gegner so schnell vor sich her, dass deren Rückzug „fluchtartigen Charakter“ angenommen hatte, wie Bülow notierte. Die Idee war, den französischen Verteidigungsgürtel an der deutschen Grenze in einem riesigen Umfassungsmanöver auszuhebeln. Die 1. und 2. Armee bildeten dafür den äußersten Flügel. Das verlief zunächst nach Plan. Der Fluss Marne war überschritten, Paris bedroht. Doch dann tat sich diese Lücke auf.

In ihr passierte nicht viel. Aber da sie sich nun einmal aufgetan hatte, hörten die Deutschen auf anzugreifen und sortierten sich. Die Franzosen sprechen seither vom „Wunder“ an der Marne. Sie waren am Boden, aber der Feind nutzte es nicht aus.

Man kann sagen, dass sie es vermasselt haben. Auch wenn das natürlich ungerecht ist

Hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist es vor allem die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, die jetzt in Gedenkfeiern und Analysen ausgeleuchtet wird. „Es kam, wie es kommen musste“, fasst ein Historiker den Blick auf diesen Krieg zusammen und meint damit: Stellungskrieg, Schützengräben, Stacheldraht, Maschinengewehre und Giftgas. Im Westen nichts Neues. Tote auf allen Seiten, 17 Millionen insgesamt, und der Untergang beinahe sämtlicher Großmonarchien in Europa. Dabei war die „Entscheidungsschlacht an der Marne“, wie sie der Historiker Sebastian Haffner nannte, nur ein Nebenschauplatz.

An der Marne gibt es kein Mahnmal und keine Soldatenfriedhöfe wie in Verdun, wo die Landschaft hundert Jahre später noch ein von Granaten aufgewühltes Niemandsland ist und in der Erde die Gebeine abertausender Soldaten liegen. Gestorben wurde an der Marne auch. Trotzdem sah es für einen Moment so aus, als würde der Krieg an seinem strategischen Wendepunkt eher gedanklich-taktisch geführt als mit Waffen.

Die beiden Befehlshaber Kluck und Bülow waren Schlüsselfiguren in dieser Phase. Man kann sagen, dass sie es vermasselt haben. Auch wenn das natürlich ungerecht ist. Aber wie interessant müsste es sein zu erfahren, ob ihr Bild von ihren Nachkommen bewahrt wird und wie das geschieht. Als Versager oder als Helden? Die Frage stand am Anfang dieser Geschichte, einer Spurensuche durch das Jahrhundert.

Was passt ins Bild?

„Mir ist egal, welche Verantwortung mein Urgroßvater für die Marneschlacht trägt“, sagt Vicco von Arnim. „Ich akzeptiere heute seine Lebensleistung, aber ich finde mich nicht in ihm wieder. Er ist parallel zum Kaiserreich gestorben.“ Dass Karl von Bülow ein knorriger Pedant und „Eisenkopf“ gewesen sein soll, bringt ihn dem Urenkel auch nicht unbedingt näher. Aber er fragt doch, ob man Haffners Buch zur Marneschlacht gelesen habe.

Vicco von Arnim war nie beim Militär, genau wie seine Brüder. Wie überhaupt der Sinn fürs Militärische aus dem Land ja so vollständig verschwunden sei, dass „einem heute eher die Chefs der Deutschen Bank oder von Thyssen-Krupp einfallen als die Namen der Generalinspekteure“. Der Urenkel bedauert das nicht. Als Held passe der Urgroßvater nicht mehr ins Bild der Familie heute.

Was passt ins Bild? Das fragt sich Michel Rateau oft. „Ich behaupte nicht, dass der Generaloberst von Kluck mein Großvater ist“, sagt er. Ihm fehle der Beweis. Aber es sei doch merkwürdig, dass alle an diese Geschichte glaubten. Vor allem seine Mutter Mathilde.

Michel Rateau ist ein kluger, unruhiger Mann, in dessen Häuschen am Dordogne-Ufer Enzyklopädien und alte Bücher bis unter die Decke reichen. Manche sind so alt, gedruckt noch vor der Französischen Revolution, dass er sie kaum aufzuklappen wagt. Wenn er sie doch endlich verkaufen würde, sagt er. Der 72-Jährige könnte seine kärgliche Rente mit dem Erlös aufbessern. Aber dann ... Jedes Buch hinterließe eine Leerstelle. So etwas erträgt er ganz und gar nicht. Seine Familiengeschichte hat bereits zu viele davon.

Er solle die Vergangenheit ruhen lassen, rieten die alten Frauen

Selbst sitzend noch verbreitet Rateau die quirlige Unrast eines Mannes, der Rätseln auf den Grund gehen muss. Im Südwesten Frankreichs genießt er deshalb als Historiker, Linguist und Genealoge hohes Ansehen. Man schreibt ihm Briefe, bittet ihn um Rat. Er lässt nicht locker, bis ein Wort lückenlos hergeleitet ist. Als würde ihm seine Mutter ins Ohr flüstern: Du musst dir der Ursprünge sicher sein.

Die Ursprünge also: Pinon, 1915. Das Dorf mit etwa 550 Einwohnern war von den Deutschen besetzt. Die Front verlief entlang der Aisne, Generaloberst von Kluck hatte nach seinem Rückzug von der Marne an diesem Fluss Verteidigungsstellungen ausbauen lassen. Sein Stab und er selbst residierten im Schloss der Fürstin de Poix, das später vollkommen zerstört werden sollte. Die Männer von Pinon waren fort, auf der anderen Seite der Front. Die Frauen waren sich selbst überlassen mit den Alten, den Kindern und dem Bürgermeister.

So wurde es Michel Rateau später berichtet, als er sich zum Geburtsort seiner Mutter aufmachte. Er solle die Vergangenheit ruhen lassen, rieten ihm die alten Frauen des Ortes. Wörtlich sagten sie: Ne remuer pas la merde. Aber das konnte er nicht, nachdem der Sohn des Bürgermeisters gesagt hatte, dass damals „totale Konfusion“ geherrscht habe, weil das Dorf „amputiert“ worden sei von seinen Frauen, „seinem Herzblut“. Der Bürgermeister sei gezwungen gewesen, 90 Prozent von ihnen im Schloss für die Deutschen arbeiten zu lassen. Für den Feind. Für kultivierte Männer mit weißen Hemden und geputzten Stiefeln. Ein eigener Hofstaat war entstanden mit Werkstätten, in denen die Stabswagen repariert wurden, mit Wäscherei und Küche. Was konnte in Pinon passiert sein?

Er will sich mit dem Gerede der Alten nicht zufrieden geben

Michael Rateau will das Rätsel um die Herkunft seiner Mutter lösen.
Michael Rateau will das Rätsel um die Herkunft seiner Mutter lösen.
© Kai Müller

Marie Guerbette, 33, Mutter eines damals fünfjährigen Sohnes, war auch unter denen, die ins Schloss beordert worden waren. Sie soll Klucks Haushälterin gewesen sein. „Keine der Frauen, die im Schloss gearbeitet hatten, sagte, dass nichts passiert sei“, meint Rateau. „Es heißt sogar, es sei eine Romanze gewesen.“

Im März 1915 wurde der Generaloberst bei einem Frontbesuch schwer verwundet. Es gibt ein Gemälde, das ihn auf seinem Lager im hellgrauen Generalsmantel zeigt, den rechten Arm in der Schlinge, im Rücken ein großes Kissen, der Blick freundlich und aufgeschlossen, er sieht viel jünger aus als 69. Kurz darauf sollte er seines Postens enthoben werden und nach Berlin zurückkehren. Neun Monate später brachte Marie Guerbette ihre Tochter Mathilde zur Welt.

Rateau hat Dutzende weißer Mappen mit Korrespondenzen und Dokumenten auf dem Tisch verteilt. Er will sich mit dem Gerede der Alten nicht zufrieden geben. Wie verlässlich kann das sein? Zum Beispiel, dass ein deutscher Offizier 1916 bei Marie Guerbette aufgetaucht sein soll. Offenbar im Auftrag Klucks, um herauszufinden, ob es ein Junge oder Mädchen geworden war. Einen Jungen hätte er nach Berlin bringen sollen, ein Mädchen nicht. So blieb das „Von-Kluck-Mädchen“, wie es die Alten nannten, in Pinon.

Mit anderen "Kriegskindern" ins Sammellager

Niemand außer Marie selbst hätte das Gerede bestätigen können. Aber sie war verheiratet und sagte nichts. Dafür zogen andere ihre eigenen, unerbittlichen Schlüsse. Der Bürgermeister, der forderte, man möge ihm die Last der Verstrickung nehmen, indem die neuen Kinder in den Familien Aufnahme fänden, als seien es die eigenen. Oder Monsieur Guerbette, der 1917 von der Front zu seiner Frau Marie heimkehrte. Er hatte sie mit einem Kind verlassen, nun waren da zwei. Das zweite verstieß er.

So soll Mathilde als Zweijährige mit 5000 weiteren „Kriegskindern“ in einem Sammellager namens Camp de Chauny interniert worden sein. Für Mathilde wurde eine Bankiersfamilie gefunden. Die Gilberts liebten das Mädchen und es liebte sie, es hatte eine unbeschwerte Kindheit, wurde auf die besten Schulen in Paris geschickt und vergaß vermutlich, woher es kam. Wobei ihm unverzeihlich bleiben sollte, dass es auf dem Abschlussball seiner von Adelstöchtern besuchten katholischen Eliteschule plötzlich unerwünscht war. Und irgend etwas hielt auch die Gilberts davon ab, ihm ihren Namen zu geben.

In Rateaus Garten hat es zu regnen begonnen. Ein friedliches Geräusch. Gut für die Tomaten, sagt er und richtet seinen Körper auf, weg von den Dokumenten. Er hat sich die quadratische Statur des ehemaligen Feldwebels bewahrt, der mit knapp 20 im Algerienkrieg war. Aus ihm sei der Mensch geworden, den die Mutter verehren konnte, sagt er. Überaus belesen, mutig, unverzagt. Er lebte in Südafrika und wie ein Abenteurer im Urwald Perus, auch Deutsch spricht er gut. Berlin war längst noch nicht wieder vereint, da „schmuggelte“ er sich zum Grab Alexander von Klucks in Stahnsdorf, südlich der Stadt. Als Franzose war ihm nicht erlaubt, Berlin ohne Visum zu verlassen. Er wagte es trotzdem. Dabei erwartete er nichts vorzufinden, als was man eben auf Friedhöfen findet, verwitterte Grabplatten, Namen, Daten.

Er hofft, die Lösung im Archiv zu finden

So einer ist er. Bei Kongressen erlauben sich seine Kollegen den Spaß, ihm knifflige Aufgaben zu stellen. Sie schließen Wetten auf ihn ab, ob er die Ursprünge dieses oder jenes Wortes kennt, erzählt er und springt auf. Sein Ehrgeiz hat etwas Verspieltes. Wie sehr seine Mutter unter einem Vater, den sie nicht hatte, und den Gerüchten, die sich daraus ergaben, gelitten hat, ist ihm in seinem Forscherstolz schon gar nicht mehr so wichtig. Er gibt die Hoffnung nicht auf, dass ihm Registraturen und Archive doch eines Tages die Antwort auf das Kluck-Rätsel liefern. Geschichte, so sieht er das, ist nicht das, was verloren ist. Sie mache einen reicher.

Um einen abstrakt gewordenen Reichtum geht es auch Vicco von Arnim. Seine Altvorderen haben ihre Brandenburger Besitztümer 1945 aufgeben müssen, wurden vertrieben und standen vor dem Neuanfang. Auf der Flucht vor der Roten Armee konnten nur wenige Dinge gerettet werden. Diese wird er behüten müssen. Neben dem Feldmarschallstab Karl von Bülows ist das vor allem der Orden vom Schwarzen Adler, die höchste Auszeichnung, die Preußen zu vergeben hatte, sowie das Ölgemälde, das Max Liebermann von dem Armeeführer angefertigt hat. Noch lagert all das in einem Tresor. Über die Gültigkeit des Vermächtnisses, sagt Vicco von Arnim, befinde jede Generation neu.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

Kai Müller

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