Was Kinder lernen sollen: Lesen, denken, reden, kochen
In Schulen muss das Privileg des Analogen genutzt werden. Es geht darum, wichtige Kulturtechniken zu behalten. Das Lesen von Literatur lernt man mit Büchern, Texten. Soziale Kompetenz lernt man mit anderen. Ein Kommentar
Auf in den Lernherbst. Vorbei der Sommer des Vergnügens, vorbei die Schulferien, Semesterferien. In der Bildungsrepublik Deutschland, vor einigen Jahren von höchster Stelle ausgerufen, wird jetzt wieder gelehrt, geforscht, gelernt, gelesen, gerechnet, geschrieben.
Mit guten Nachrichten hat die Saison begonnen, denn der OECD- Bericht „Bildung auf einen Blick 2016“ bescheinigt Deutschland, partiell über dem OECD-Durchschnitt zu liegen. Immerhin, in die Schulen wurde mehr investiert. Das Land von Kant, Humboldt und Einstein will sich nicht länger lumpen lassen. Es gibt mehr Abiturienten denn je, mehr Studierende, mehr Mittel.
Hört man allerdings Hochschullehrern zu, landauf, landab, womit sie es aufnehmen müssen, überwölben Zweifel das schöne Szenario. Geklagt wird – jaja, seit Jahren – etwa über Studienanfänger, die das Lesen nicht gewohnt sind. Einige Akademiker haben die Misere aus ihrer Perspektive geschildert. Viele scheinen zu resignieren: Die Ursachenkette sei einfach so lang.
„Ein ganzes Buch?!“ staunen und stöhnen Studierende. Sollen sie wirklich ein Buch zur Rechtsphilosophie, zur Evolutionsgeschichte oder, oder… von Seite eins bis vierhundert ganz durchlesen? Alles? Besser, das wichtigste Kapitel würde vom Lehrpersonal als Scan ins Netz gestellt, die zentralen Passagen mit leuchtendem Textmarker hervorgehoben. Sie konsumieren, klagen die Lehrenden, und noch dazu diese Orthografie, diese Unlogik, die Wissenslücken! Hochschulen bieten teils Nachhilfe an, um Anfänger auf passableres Niveau zu hieven. Betriebe übrigens auch.
Vieles blieb dysfunktional in der Bildungsrepublik. Ein Gutteil der Kinder von heute erreicht einmal ein Alter von hundert Jahren – in einer Welt, die hundertmal komplexer ist als je zuvor. Aber immer schneller sollen sie zum Abitur gejagt werden, weshalb das „G8“, diese Achterbahn, ja mancherorts schon wieder zurückgebaut wird. Mit der wundergleichen digitalen Revolution des Kommunizierens ist zugleich ein Kosmos aus Fragmenten, Gerüchten, Diffamierungen und Mikromitteilungen entstanden, eine Zerstückelwerkstatt der Welt.
Die ersten volldigitalen Kohorten sind gerade unterwegs
In diesem Kosmos existieren die Kinder und Jugendlichen und Studierenden. Weder sie noch wir prädigital Geprägten wissen, was – und wer! – aus dem Kosmos später wie hervorgehen wird. Das ist noch kaum erforschbar, die ersten volldigitalen Kohorten sind gerade unterwegs.
Auf alle Fälle scheint es ratsam, schlichte, wichtige Kulturtechniken zu behalten. Lesen von Literatur, gleich welcher, lernt man mit Büchern, Texten. Soziale Kompetenz, gleich welche, lernt man mit anderen. Elementare Fächer fehlen. Kritische Mediennutzung wäre eines: um Quellen einschätzen zu können oder um die ubiquitären Wahnwelten von Action, Horror und Fantasy einordnen und deuten zu lernen. Wer Abitur macht, sollte die Grundlagen des Rechts kennen, der Verfassung, das Bürgerliche Gesetzbuch. Sie und er sollten auch ein Basiswissen über Körper und Psyche haben, wie über Kochen und Ernährung. Debattieren, Argumentieren, Informieren: Jede und jeder sollte diese für eine Demokratie unerlässlichen Fähigkeiten in der Schule über Jahre erfahren dürfen.
Die Rede ist viel vom „kompetenzorientierten Unterricht“. Eine wunderbare Idee. Keine Kompetenz aber hat Haltbarkeit, wenn sie nicht geübt, geübt und vertieft, vertieft wird.
Dem steht eine zunehmende schulische „Kultur des Durchwinkens“ im Weg, die wie das Wischen auf dem Display des Smartphones wirkt: Was soll’s, der Schüler kapiert das so halbwegs, nur weiter.
Wer im Elternhaus einen Garten hat und eine Bibliothek, ein eigenes Zimmer und einen eigenen Schreibtisch, dem kann das wenig anhaben. Massive Verlierer der neuen Bildungskatastrophe werden diejenigen sein, die in Spracharmut und mit gleichzeitiger Reizinflation aufwachsen – zwischen flimmernden Playstations, Fernsehern, Smartphones. Und das sind Millionen.
Gerade ihnen muss Schule bieten, was immer essentieller wird: die Kenntnis der enormen Privilegien des Analogen trotz digitalisiertem Alltag. Vermitteln kann das nur der analoge Mensch, der präsente, gut ausgebildete und motivierte, der auch individuell mit Schülern arbeitet. Jemand, der sie sieht.
Das kostet mehr, als sämtliche Schulen mit Computern zu pflastern, einige Milliarden mehr. Besser würde jedoch in die Bildungsrepublik nirgends investiert.