Weißrussland: Leben mit Tschernobyl
In Weißrussland wurde fast ein Drittel des Staatsgebiets verstrahlt. Trotzdem will das Land nun sein erstes Atomkraftwerk bauen.
Glücklich wer in Gomel lebt. Die Jugend flaniert im Park rund um das Stadtmuseum, in den Kneipen unten am Stadtfluss, dem Sosch, tobt das Partyleben bis tief in die Nacht. Die Bezirkshauptstadt, nur 120 Kilometer nördlich von Tschernobyl gelegen, sieht auf der weißrussischen Strahlenkarteaus aus wie eine grüne Insel umgeben von bedrohlichen orange-roten Kreisen. In der Karte werden die am schwersten kontaminierten Gebiete verzeichnet. Auf das nahe Dorf Bolschewik, nur vierzig Minuten mit dem Sammeltaxi Marschrutka Richtung Norden, hat sich schon wieder ein tiefroter Punkt gelegt. Im Einkaufsladen am Hauptplatz ist allerdings auch davon nichts zu spüren. Man ist froh, dass das lokale Holzkombinat noch etwas Arbeit hat, dass die Renten aus dem fernen Minsk rechtzeitig kommen und die Preise nicht ins Unermessliche steigen.
72 Prozent der am 26. April 1986 und in den Tagen danach aus dem Reaktorblock vier von Tschernobyl entwichenen Radioaktivität gingen über Weißrussland nieder. Knapp 25 Prozent des Ackerlands und 20 Prozent der Waldfläche wurden damals verstrahlt – und sie sind es noch immer. Etwa zwei Millionen der knapp zehn Millionen Weißrussen gelten offiziell als Tschernobyl-Opfer, jeder fünfte Einwohner des armen und politisch isolierten Landes.
Um der Region südlich der Bezirkshauptstadt Gomel wirtschaftlich unter die Arme zu greifen, hat der Präsident Aleksander Lukaschenko im weißrussischen Teil der radioaktiv kontaminierten Sperrzone, die 30 Kilometer rund um den Atomkomplex umfasst, schon vor ein paar Jahren einen Naturpark und eine Sonderwirtschaftszone dekretiert. Der „Radiations-Ökologische Landschaftspark Polesja“ umfasst jene Dörfer, in denen langlebige Isotope wie Cäsium-137 und Strontium-90 mit einer Halbwertszeit von etwa 30 Jahren das Leben auch heute noch zu gefährlich machen.
Polizeistreifen sichern diese Sonderzone entlang der Hauptstraße nach Mosyr. Leere Fensterhöhlen und eingestürzte Dächer erwarten den Besucher des am Zonenrand gelegenen Dorfes Rudakow. Aus dem Kulturhaus sprießen Bäumchen, die Zäune sind eingerissen, die Gärten überwuchert. Am Ende des weitgehend verfallenen Straßendorfes wohnt Maria Denissenko. Wütend kläfft ein Köter im Hof und zerrt an seiner Kette. In der Küche gackern ein paar Hühner. Mit eigenen Händen hat das Ehepaar in jungen Jahren das für hiesige Verhältnisse stattliche Häuschen gebaut. Maria hatte ihren Nikolaj vor mehr als 60 Jahren während der Zwangsarbeit im Ruhrgebiet kennengelernt. Nach dem Krieg sind sie in sein Heimatdorf gezogen und haben in der „Stalin-Kolchose“ Arbeit gefunden. Nikolai war dort 48 Jahre lang Chauffeur, Maria 42 Jahre Melkerin. Als unweit des Dorfes in der damaligen Sozialistischen Ukrainischen Sowjetrepublik der Atomreaktor explodierte, hatte ihre Kolchose längst einen anderen Namen. Tagelang wusste man in Rudakow nichts von dem Unglück. Später wurden zuerst die Familien mit Kleinkindern evakuiert. Wer umsiedeln wollte, dem wurde geholfen. „Wir sind geblieben; was hätten denn die Tiere ohne uns gemacht“, fragt Maria Denissenko. Zudem solle man einen alten Baum nicht verpflanzen. Hundert Höfe habe Rudakow vor 25 Jahren gehabt, heute seien es noch vier, erzählt die rüstige alte Dame. „Arbeit gibt es immer genug“, meint Maria Denissenko auf die Frage nach der Einsamkeit. „Wir haben den Krieg überstanden, die Zwangsarbeit – und dann auch Tschernobyl.“
Nicht nur mit, sondern auch von Tschernobyl leben gelernt hat ein Mann um die vierzig, der seinen Namen aus gutem Grund nicht nennen will. Mit Dreitagebart und verfilzten blonden Haaren steht er auf der matschigen Dorfstraße und hält einen Fahrradreifen in der Hand. Eine auffällige Narbe zieht sich über seine Wange. Leben könne man hier eigentlich nicht, sagt der Mann in seiner speckigen, wattierten Jacke und zeigt auf die Ruinen entlang der Dorfstraße. Doch weiter weg, tief in der Zone, gebe es noch Schätze zu holen, raunt er dem Besucher zu. Bis drei Kilometer an Pripyat heran sei er mit ein paar Kumpels schon gefahren; das Altmetall könne man in Weißrussland für gutes Geld verkaufen. „Irgendwie muss der Mensch halt leben“, sagt der Blonde achselzuckend und geht seines Weges.
Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben die Menschen erfahren, was sich in Tschernobyl eigentlich zugetragen hat. Als Weißrussland wie das Nachbarland Ukraine 1991 ihre Tschernobyl-Gesetze verabschiedeten, wollten die Parlamente Wiedergutmachung oder zumindest kontinuierliche Hilfe für die Betroffenen durchsetzen. Doch waren diese „Sondergesetze, nach denen mehr als eine Million Menschen das Recht auf staatlich finanzierte Umsiedlung aus den kontaminierten Regionen zugesprochen bekamen, freilich in der Annahme entwickelt worden, dass ihre Finanzierung überwiegend aus dem Unionshaushalt“ der sowjetischen Nachfolgestaaten, vor allem Russlands „finanziert werden würde“, schrieb Astrid Sahm, Leiterin der internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte in Minks in einem Beitrag für „Aus Politik und Zeitgeschichte“. Nach der Auflösung der Sowjetunion musste Weißrussland die Mittel selbst aufbringen. Nach einer Schätzung der belarussischen Akademie der Wissenschaften aus den 90er Jahren liegt der Gesamtschaden für Weißrussland durch die Reaktorkatastrophe bis 2015 bei 235 Milliarden US-Dollar. Andere Schätzungen gibt es nicht. Nach Regierungsangaben lag der Anteil der Tschernobyl-Sozialprogramme im Staatshaushalt im Jahr 1992 bei 19,9 Prozent. Noch immer bringt Weißrussland demnach jährlich etwa fünf Prozent des Budgets dafür auf. Auf der Homepage der weißrussischen Botschaft in Deutschland heißt es, dass die UN rund 50 Millionen US-Dollar für die Tschernobyl-Hilfe in Weißrussland ausgegeben hätten. Dazu kämen jährlich etwa 50 Millionen US-Dollar „unentgeltlicher humanitärer Hilfen von Wohlfahrtsorganisationen und Privatpersonen“. Trotz dieses Engagements, vor allem eine Million Erholungsaufenthalte für Tschernobyl-Kinder beispielsweise in Deutschland, hat sich an der internationalen Isolation des autokratisch regierten Landes nichts geändert.
Astrid Sahm hat bei der Eröffnung einer Fotoausstellung aus dem Sperrgebiet im Willy-Brandt-Haus vor wenigen Tagen berichtet, dass die Atomkatastrophe in Fukushima in den staatlichen Medien in Weißrussland nahezu nicht vorkommt. Kein Wunder. Fünf Tage nach Beginn der Atomkrise in Fukushima haben Aleksander Lukaschenko und der russische Premier Wladimir Putin einen Vertrag über den Bau des ersten weißrussischen Atomkraftwerks abgeschlossen. Das 9,4 Milliarden US-Dollar teure Projekt soll mit einem Sechs-Milliarden-Dollar-Kredit Russlands finanziert werden.
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