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Martin Schulz, der sozialdemokratische Spitzenkandidat bei der Europawahl.
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Martin Schulz im Interview: "Kritik an der EU ist absolut gerechtfertigt"

Martin Schulz, der sozialdemokratische Spitzenkandidat bei der Europawahl, will als EU-Kommissionschef einiges anders machen. Im Interview spricht er über seine Pläne, Erwartungen und die Ukraine-Krise.

Herr Schulz, dieses Parlament hat zum letzten Mal getagt, die heiße Wahlkampfphase beginnt. Reisen Sie in alle 28 EU-Staaten?

Wir konzentrieren unseren Wahlkampf auf die großen Länder Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und Polen, in denen die meisten Menschen leben. Aber ich bemühe mich natürlich, auch in anderen, kleineren EU-Staaten zu sein. Ob ich alle 28 schaffe, weiß ich allerdings nicht.

Wahlkämpfer halten häufig die gleichen oder ähnliche Reden. Geht das bei Auftritten etwa in Portugal oder Polen überhaupt?

Das ist eine der schwierigsten Fragen, wenn man einen europäischen Wahlkampf führen will. Wir haben maßgeschneiderte Kampagnenteile für jedes Land. Allerdings haben wir drei Dinge identifiziert, die in allen Staaten Thema sind. Ersten berührt die hohe Jugendarbeitslosigkeit auch Menschen in Ländern, die nicht so stark davon betroffen sind. Das zweite ist die Gerechtigkeitslücke; dass Spekulanten Milliardengewinne machen, keine Steuern bezahlen, aber bei Verlusten die Steuerzahler dafür zahlen müssen. Das verstehen alle. Das dritte Thema ist, dass nicht alles in Brüssel geregelt werden muss.

 Spielt auch die Ukraine eine Rolle?

Natürlich. Auf eine aktuelle Entwicklung mit dieser Dramatik muss man eingehen.

Sehen  Sie eine Mitschuld der EU, von der prominente  SPD-Politiker wie Altkanzler Schröder oder Ex-EU-Kommissar Verheugen reden?

Ich glaube, dass die  EU einen gut ausformulierten Assoziierungsvertrag ausgehandelt hatte, der in Vilnius unterschrieben werden sollte. Dass der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch ihn platzen ließ, kann man nicht der EU anlasten.

Wie viele Europagegner Martin Schulz im Parlament erwartet

Ein europäischer Scheck hätte die aktuelle Krise aus Ihrer Sicht also möglicherweise vermeiden können. Was aber ist jetzt zu tun?

Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat ein souveräner Staat in Europa das Territorium eines anderen souveränen Staates annektiert. Das musste mit Sanktionen gegen Russland beantwortet werden. Nun muss man die Menschen ehrlich darauf vorbereiten, dass noch mehr davon auf uns zukommen könnten: das Einfrieren des Kapitals, keine Waffenlieferungen mehr, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit für führende Repräsentanten der Wirtschaft und der Politik, keine Auslandsinvestitionen aus der EU in Russland, Gas-Importe stoppen – das ist eine lange Liste von Maßnahmen mit weit reichenden Auswirkungen auch auf unsere Wirtschaft.

Zurück zum Wahlkampf: Überwiegt dort der EU-Frust oder das Interesse, da es so viele aktuelle europäische Themen gibt wie nie?

Es kommt darauf an. Rede ich etwa über die Ukraine, begreifen die Menschen den Wert der EU. Mein Gefühl sagt mir: Wir bekommen eine höhere Wahlbeteiligung.

Umfragen sehen im neuen Europaparlament mehr EU-Gegner. Was, wenn 200 Europaabgeordnete die EU abschaffen wollen?

Ich glaube nicht, dass es  so viele sein werden. Ich rechne mit einem Anstieg von derzeit 90 auf 130 bis 140. Schlimmer ist die Situation in einzelnen Mitgliedsländern. Diese Populisten und Europakritiker liegen in einigen Ländern vorn, in anderen sind sie sehr stark. Die entscheidende Frage  ist: Was bewirkt der Zuwachs für diese Gruppierungen in den Gesellschaften? Bewirkt das eine Mobilisierung der proeuropäischen, demokratischen Kräfte? Oder doch Angst vor ihrer radikalen Rhetorik und die Anpassung daran? Dann haben sie gewonnen. Deshalb ist der  Wahlkampf eine wichtige Gelegenheit, um klar zu machen, dass diese Gruppen für alles einen Sündenbock, aber für nichts eine Lösung haben. Das gilt auch für die AfD in Deutschland.

Für den Zuwachs dieser Parteien gibt es aber Gründe: Lange galt die EU als Garant für Wohlstand und Sicherheit, in der Krise nun nicht mehr. Läuft nicht doch einiges schief?

Sie unterhalten sich mit jemandem, der schon lange davor warnt, jeden, der die EU kritisiert, zum Anti-Europäer abzustempeln. Ich als Pro-Europäer kritisiere die EU auch. Viel Kritik ist absolut gerechtfertigt.

Was regt Sie persönlich am meisten an der EU auf?

Die Ungerechtigkeit. Es gibt eine ganze Generation von Menschen, die mit ihren Lebens- und Zukunftschancen bezahlen für eine Krise, die andere verursacht haben. Ein psychologisches Element kommt hinzu: Wir reden nur noch von Milliarden. Für die meisten Menschen sind schon 1000 Euro im Monat eine Riesensumme. Ich will, dass wir über diese 1000 Euro reden. Derzeit fühlen sich viele Menschen abgehängt.

Was wäre als Kommissionspräsident Ihr erstes Signal an diese Menschen?

Wir müssen zwei Dinge kombinieren: In Krisenländern mit hoher Jugendarbeitslosigkeit ist das größte Problem, dass kleine und mittlere Unternehmen keine Kredite bekommen. Ein EU-Programm, finanziert von der Europäischen Investitionsbank oder aus Strukturfonds, könnte das ändern. Diese Hilfe sollten wir mit folgender Ansage verbinden: Wer im Rahmen dieser Investitionen junge Arbeitslose einstellt, bekommt bei Zinsen und Laufzeiten einen Vorteil. Gelingt uns das – und es muss kurzfristig passieren –, können wir Vertrauen zurückgewinnen. Und ich würde in der Kommission selbst Reformen einleiten.

Was soll sich da ändern?

Ich würde den Mitarbeitern folgende Frage stellen: Was machen wir hier, was aus eurer Sicht besser lokal, regional oder national gemacht werden könnte? Und dann delegieren wir das auf diese Ebene zurück.

Und das soll funktionieren? Bürokratien geben doch freiwillig keine Aufgaben ab.

Man muss der Bürokratie sagen: Es geht nicht um euch, sondern um das Überleben der Europäischen Union. Viele Menschen halten inzwischen die Verwaltung für die eigentliche Idee Europas, wie Wim Wenders das einmal gesagt hat. Nun stehen wir vor der Frage, ob wir die Idee aufgeben oder die Verwaltung verändern. Ich würde lieber die Idee retten. Ich war elf Jahre Bürgermeister. Meine Erfahrung ist: Je näher am Bürger eine Entscheidung getroffen wird, desto höher ihre Akzeptanz.

Was Schulz von seinem Kontrahenten Juncker hält

Martin Schulz im Wahlkampf.
Martin Schulz im Wahlkampf.
© dpa

Apropos Bürgermeister: Die Konkurrenz geht damit hausieren, dass Sie keine Erfahrung damit haben, wie man ein Land regiert.

Aber vielleicht habe ich ja Erfahrung mit Menschen und deren Alltagssorgen gesammelt? Übrigens ist in Italien gerade der Bürgermeister von Florenz neuer Ministerpräsident geworden. Dass das bei mir nun  zum Thema wird, ist für mich ein Zeichen, dass die Konkurrenz annimmt, ich könnte gewinnen.

Europas Bürger haben nun die Wahl zwischen zwei Gesichtern. Aber können Sie auch verschiedene Konzepte wählen? Juncker ist Christsozialer, Sie sind kein ultralinker Genosse. Sie beide wollen, dass Brüssel nicht alles an sich reißt, aber auch mehr Integration.

Es ist schon auffällig, dass Juncker dasselbe erzählt wie ich. Dass er oft wie ein Sozialdemokrat redet, war vorher bekannt – auch unter Konservativen, weshalb seine Nominierung umstritten war. Juncker ist mir programmatisch sicher nahe, aber ich verstehe jetzt auch, warum er in Deutschland nicht auf die Plakate soll. Meine Partei klebt den auf die Plakate, der kandidiert, die CDU jemanden, der nicht kandidiert.

Warum wäre Juncker aus Ihrer Sicht dennoch der schlechtere Kommissionschef?

Tatsächlich steht Juncker für das alte Europa, in dem hinter verschlossenen Türen Deals gemacht werden. Und meine Vorstellungen darüber, wie wir Steueroasen und Steuerdumping bekämpfen sollten, wird der ehemalige luxemburgische Ministerpräsident nicht teilen.

Vielleicht wird am Ende keiner von Ihnen Kommissionschef, da nicht nur das EU-Parlament bestimmt, sondern auch die Staats- und Regierungschefs ein Wort mitreden.

Das Empfinden von Millionen Menschen ist: Die in Brüssel entscheiden über mich, aber ich weiß nicht, wer das ist, und habe darauf keinen Einfluss. Das war ein Grund, warum die Verfasser des Lissabon-Vertrags gesagt haben, dass die Bürger Abgeordnete wählen sollen, die mitentscheiden, wer das wichtigste Amt in der EU bekommt. Das ist ein Stück Demokratisierung in Europa, das die Staats- und Regierungschefs bisher mittragen. Würde der neue Kommissionschef wieder hinter verschlossenen Türen ausgekungelt, wäre das ein Riesenschlag gegen diesen demokratischen Fortschritt.

Das Gespräch führten Ralf Joas, Knut Krohn und Christopher Ziedler in Straßburg.

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