Zum Tod von Ariel Scharon: Krieger, Held und Bösewicht
Viele Israelis werden den Tod des einstigen Regierungschefs allenfalls mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nehmen. Das ist verwunderlich. Schließlich gehörte Ariel Scharon zur Gründergeneration und hat die Geschicke des jüdischen Staates lange Zeit gelenkt. Ein Nachruf.
Er hat viele Schlachten geschlagen. Militärisch wie politisch. Einige wichtige hat der bullige Mann gewonnen und sich damit einen Namen gemacht. Andere gingen verloren, haben ihm Schimpf und Schande eingebracht. Doch Ariel Scharon war nicht nur ein Haudegen, ein Haudrauf, sondern auch ein Steher. Einer, der Niederlagen wegsteckte und es verstand, diese mit großem taktischem Geschick in Erfolge umzumünzen. Einer, der bereit war, seine Ideologie pragmatisch den Gegebenheiten anzupassen. Gleichwohl kämpfte er für seine Überzeugungen. Wenn Scharon etwas für wichtig und damit richtig hielt, versuchte er mitunter brutal und skrupellos, jeden Widerstand aus dem Weg zu räumen. „Bulldozer“ nannten ihn Gegner und Anhänger. Doch am Ende hat die Kraft nicht mehr gereicht. Seine letzte Schlacht, die gegen seinen Körper, hat er nun verloren.
Wenige Israelis interessierten sich für Scharons Schicksal
Viele Israelis werden den Tod des einstigen Regierungschefs aber allenfalls mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nehmen. Schon seit Jahren interessierte sich außer den beiden Söhnen kaum jemand mehr für das Schicksal des alten Herrn im Wachkoma. Eigentlich verwunderlich. Schließlich gehörte Scharon zur Gründergeneration, hat die Geschicke des jüdischen Staates lange Zeit gelenkt, das Land und seine Politik geprägt. Und wie kaum ein anderer hat er polarisiert und provoziert, wurde wahlweise gehasst und verehrt. Von Israelis wie Palästinensern.
Er tat sich durch Mut und Cleverness hervor
Eigentlich hatte Scharon, als Sohn weißrussischer Juden am 26. Februar 1928 im britischen Mandatsgebiet Palästina geboren, davon geträumt, Bauer zu werden. Doch im Unabhängigkeitskrieg 1948 brauchte das junge Israel vor allem Soldaten. „Arik“, wie ihn seine Freunde nannten, tat sich rasch durch Mut und Cleverness hervor. Und als Vorbild. Eine schwere Verletzung überlebte der junge Mann knapp, indem er blutend durch ein brennendes Feld robbte. Fünf Jahre später verwandelte Scharon die Fallschirmjägertruppe 101 in Israels erste Kommandoeinheit und begründete damit den Ruf der Armee als erfolgreiche, gleichwohl unerbittliche Militärmaschinerie.
Scharons größte Stunde schlug im Jom-Kippur-Krieg 1973: Als viele Israelis sich nach dem Überraschungsangriff durch Ägypten und Syrien am Rand des Untergangs wähnten, ignorierte Scharon kaltschnäuzig einen Rückzugsbefehl seiner Vorgesetzten und griff die Ägypter genau an ihrer Schwachstelle an. Er überquerte den Suez-Kanal und kesselte die feindlichen Armeen ein. Plötzlich standen die Israelis kurz vor Kairo, Ägypten flehte um einen Waffenstillstand – und Scharon wurde zur lebenden Legende.
Ein gewiefter Politiker
Seine Popularität half dem General, in der Politik Karriere zu machen. 1973 gelang es ihm mit anderen Mitstreitern, mehrere rechte Parteien im Likud zu vereinen. Dann löste das konservative Bündnis 1977 die bis dahin unangefochten dominierende Arbeitspartei an der Regierung ab. Scharon wurde Verteidigungsminister – und stürzte sein Land 1982 quasi im Alleingang in den Libanonkrieg. Das Kabinett ließ er damals wahrheitswidrig wissen, der Angriff auf palästinensische Terroristen im Nachbarland werde nach 48 Stunden vorüber sein. Tatsächlich hatte Scharon jedoch größere Pläne: Israels Armee drang bis Beirut vor. Dort wollte Scharon eine pro-israelische, christliche Regierung einsetzen und dann Frieden schließen. Anders als sein eigenwilliger Coup gegen die Ägypter 1973 schlug dieses Vorhaben völlig fehl: Ein Massaker christlicher Milizen an Palästinensern in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila, bei dem mehr als 700 Menschen getötet wurden, löste auch in Israel Empörung aus, weil die Armee das Morden nicht verhindert hatte. Scharon wurde dafür mitverantwortlich gemacht und musste sein Amt aufgeben. Ohnehin sahen nicht nur die Araber in ihm einen üblen Kriegsverbrecher.
Glühender Anhänger einer Groß-Israel-Ideologie
Doch der gewiefte Politiker, den Weggefährten im Privaten als höflich und zurückhaltend beschreiben, blieb nur vorübergehend ein Ausgestoßener. Bereits 1990 kehrte Scharon als Bauminister ins Kabinett zurück, gerade als rund eine Million Juden begannen, aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel einzuwandern und deshalb dringend Wohnungen benötigten. Scharon nutzte die Gelegenheit, um rücksichtslos Fakten zu schaffen. Gegen alle Bedenken in seinem eigenen Ministerium ordnete er an, tausende Häuser zu errichten. Doch Scharon ließ als glühender Anhänger einer nationalistischen Groß-Israel-Ideologie und Patron der Siedlerbewegung nicht irgendwo bauen, sondern in den besetzten Palästinensergebieten. Mit den programmatischen Worten „Erobert jede Hügelspitze. Jeder Ort, an dem wir jetzt bauen, wird eines Tages uns gehören“ trieb er seine Anhänger an.
Auch später schreckte Scharon vor gefährlichen Provokationen nicht zurück. Als Oppositionsführer brüskierte er im Jahr 2000 die arabische Welt mit einem Besuch des Jerusalemer Tempelbergs. Es war die Zeit, in der Israelis und Palästinenser über eine Teilung der Stadt verhandelten. Kurz danach – viele Beobachter meinen genau aus diesem Grund – brach die zweite Intifada aus. Palästinensischer Terror brachte zunächst die Verhandlungen zum Stillstand – und zerstörte dann den Glauben der Mehrheit daran, dass eine Übereinkunft mit Palästinensern überhaupt möglich sei.
Politische Kehrtwende im Amt
Statt Frieden sehnten sich die Israelis jetzt nach einem starken Mann, der die Terroristen bekämpfen sollte. Israelische Medien unkten damals: „Diejenigen, die ihn nicht als Generalstabschef haben wollten, bekamen ihn als Verteidigungsminister; diejenigen, die ihn nicht als Verteidigungsminister wollen, werden ihn als Premierminister bekommen.“ Sie behielten Recht: Der Kriegsheld Arik gewann 2001 die Wahlen.
Im Amt vollzog Scharon dann eine politische Kehrtwende, deren Ursprung wie Motiv bis heute ungeklärt ist: Ausgerechnet der Fürsprecher einer radikalen Groß-Israel-Ideologie ließ im Westjordanland eine Sicherheitsbarriere errichten und teilte damit das „verheißene“ Land. Mehr noch: Der Siedlervater ließ 2005 einseitig alle jüdischen Siedlungen im Gazastreifen räumen. Befragt nach seinem Sinneswandel, antwortete Scharon in der ihm eigenen zynischen Manier: „Was man vom Sessel des Premiers sieht, sieht man nicht, wenn man in der Opposition sitzt.“
Nach 2005 bekam ihn die Öffentlichkeit nicht mehr zu Gesicht
Eine lapidar anmutende Formulierung angesichts der erheblichen politischen Folgen. Das Friedenslager war nach Scharons Tempelbergbesuch und den folgenden palästinensischen Selbstmordattentaten praktisch bedeutungslos geworden. Der Siedlerbewegung hatte Scharon gewissermaßen eigenhändig einen schweren Schlag versetzt. Das Gleiche galt für das rechte Lager und den sich immer extremistischer gebenden Likud. Von beiden wandte sich der Premier ab und gründete die gemäßigte Kadima. Scharon war auf dem Höhepunkt seiner Macht angelangt. Sogar Ägyptens Präsident Husni Mubarak gab im November 2005 zu: „Scharon ist der einzige israelische Politiker, der mit den Palästinensern Frieden machen kann.“
Sein Schlaganfall überrumpelte Scharon
Siegesgewiss und selbstbewusst setzte Israels Regierungschef für Anfang 2006 Neuwahlen an. Doch am 18. Dezember 2005 wurde Scharon selbst überrumpelt. Das Schwergewicht erlitt einen Schlaganfall. Seine Ärzte gaben ihm Blutverdünnungsmittel, um ihn auf eine Untersuchung seines Herzens vorzubereiten. Diese Entscheidung wurde ihm zum Verhängnis. Am 4. Januar 2006 platzte ein Blutgefäß in Scharons Gehirn. Er verlor im Krankenwagen auf dem Weg nach Jerusalem das Bewusstsein. Nur auf Druck seines Sohns Gilad machten die Ärzte noch einen verzweifelten Versuch, das Leben des Premiers zu retten und operierten ihn. Seitdem lag er im Koma. Nur Scharons engste Vertraute und Familieangehörige durften das streng bewachte Zimmer im Scheba-Krankenhaus bei Tel Aviv betreten. Die Öffentlichkeit bekam ihn nicht mehr zu Gesicht.
Wie er selbst geriet so auch sein schwieriges politisches Erbe in Vergessenheit. Wenn es überhaupt eines gibt. Die Rechte verteufelt ihn bis heute, weil er den Gaza-Streifen hat räumen lassen. Viele Ultra-Orthodoxe sind sogar davon überzeugt, dass Scharons Schlaganfall eine Strafe Gottes war. Seine auf ihn zugeschnittene Partei Kadima büßt mehr und mehr an Bedeutung ein. Auch die Linke hat ihre Begeisterung für einseitige Rückzüge verloren: Im Gazastreifen herrscht heute nicht Frieden, sondern die radikalislamische Hamas, deren Raketen inzwischen viele israelische Städte erreichen können.
Ob Israels bekanntester Patient von diesen Entwicklungen etwas mitbekommen hat, weiß kein Mensch. Sicher ist allerdings, dass das ganze Land bis heute mit den Folgen einer Politik lebt, die der ehemalige Premierminister begonnen, aber nicht zu Ende gebracht hat. Vielleicht ist es ja an seinem Nachfolger Benjamin Netanjahu, Frieden mit den Palästinensern zu schließen. Dann käme dem einstigen Krieger Scharon zumindest das Verdienst zu, als Realpolitiker einer Zwei-Staaten-Lösung das Terrain bereitet zu haben.