Islam in Europa: „Korane zu verteilen, ist eine Aktion für die Medien“
Der Schweizer Intellektuelle Tariq Ramadan ist einer der wichtigsten Vordenker eines europäischen Islam. Viele junge Muslime in Europa verehren den brillanten Redner wie einen Popstar. Kritiker werfen ihm vor, dem Islam ein liberales Antlitz verpassen zu lassen. Ein Gespräch über Salafisten, Schwimmunterricht und seine Rolle im französischen Wahlkampf.
Warum tragen Sie keinen langen Bart?
Ich glaube nicht, dass die Länge des Bartes die Tiefe des Glaubens anzeigt.
Aber Sie bezeichnen sich selbst als „Reform-Salafi“, also einer Tradition verpflichtet, deren Referenz die Ursprungszeit des Islam ist. Die uns bekannten Salafisten tragen alle einen langen Bart.
Man muss unterscheiden zwischen dem umgangssprachlichen Gebrauch und dem wissenschaftlichen Begriff in der muslimischen Tradition. Salafi bedeutet zunächst: getreu den Quellen des Islam und den ersten drei Generationen von Muslimen. In diesen Generationen haben wir zwei Typen von Salafi: Jene, die literalistisch herangehen und die Texte buchstabengetreu verstehen. Und jene, die sich anschauen, welchen Zweck die Texte hatten. Für sie gibt es keine Texttreue, ohne die Intelligenz und den historischen Kontext zuhilfe zu nehmen. Dazu gehöre ich. Man muss deutlich machen, dass die Literalisten nicht die Einzigen sind, die dem Islam treu sind. Sie stellen eine Richtung dar, die eine sehr enge, begrenzte Lesart vertritt. die ich als extrem problematisch ansehe: Für diese Leute bin ich kein Muslim mehr.
In Deutschland hat diese Gruppe gerade viel Aufsehen erregt, weil sie auf den Straßen Korane verteilt. Von der anderen Richtung hört man wenig.
Nein, unsere Strömung ist viel verbreiteter, aber die anderen machen mehr Krach. Sie sind medial sichtbarer, durch ihre Kleidung, den Bart und den Gesichtsschleier, und sie verschreiben sich spektakulären Aktionen. Sie sind attraktiv für junge Menschen die ihre Identität suchen, denn ihre Weltsicht ist simpel, schwarz-weiß. Daher sind sie auch für Konvertiten attraktiv, da muss man aufpassen.
Was halten Sie von der Aktion, kostenlose Koran-Exemplare zu verteilen?
Ich verstehe das als eine clevere Medienaktion. Sie zeigt, dass diese Strömung viel Geld bekommt. Sie wollen sich abgrenzen, nicht in der Gesellschaft engagieren. Damit sind sie die Verbündeten aller populistischen Strömungen in Europa, welche die Andersartigkeit des Islam und der Muslime betonen. Beide Gruppen befeuern sich gegenseitig. Und wir sitzen dazwischen.
Aber Sie ermutigen Muslime in Europa doch auch, ihre Traditionen und Kultur nicht zu verleugnen.
Es gibt keinen Widerspruch, sich als Bürger in europäischen Gesellschaften zu engagieren und die verschiedenen Dimensionen seiner Identität zu behalten.
Doch. Einige Mädchen aus muslimischen Familien dürfen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen, an der sexuellen Aufklärung im Biologieunterricht oder an Klassenreisen.
Der einzige Fall, in dem ich für Verständnis plädiere, ist der Schwimmunterricht. Alles was den Körper betrifft, ist nicht nur religiös, sondern kulturell, und da muss man vorsichtig sein. Dafür kann man eine Lösung finden, ohne dass Deutschland untergeht. Alles andere ist überhaupt kein Problem für Mädchen und für Jungen.
Der Islam betont die Pflicht, zu lernen und sich zu bilden. Die Bildungsferne vieler muslimischer Elternhäuser wird in Deutschland als Problem angesehen. Als Ursache wird oft der Islam ausgemacht. Ist das Problem nicht vielmehr, dass viele Muslime ihre Religion nicht kennen?
Viele Muslime in Europa wissen wenig über ihre Religion, und was sie wissen, ist sehr formalistisch, traditionalistisch und nicht sehr tiefgehend: Was ist halal, was ist haram, also: Was ist erlaubt, was ist verboten. Das war’s.
Welche Auswirkungen auf den Islam in Europa werden die Entwicklungen in der arabischen Welt haben, wo islamistische Parteien an die Macht kommen?
Die fundamentale Frage, an der sich das zukünftige Verhältnis Europas zu den mehrheitlich muslimischen Gesellschaften festmachen wird, ist die Beziehung zwischen säkularen und religiösen Gruppen. Die meisten Muslime in Europa haben – anders als oft gesagt wird – die Polarisierung zwischen Laizismus und Religion längst hinter sich gelassen. Diese Erfahrung können wir beitragen. Ich war gerade in Tunesien, und 20 000 Menschen sind gekommen, um mich zu hören. Warum? Sie sehen, dass Glaube und Laizismus und Demokratie zu vereinbaren sind.
Seit Mittwoch sind Sie Teil des französischen Wahlkampfs. Präsident Nicolas Sarkozy hat Ihnen in den Hauptnachrichten im Fernsehen vorgeworfen, Sie hätten ihre Anhänger – unter jungen Muslimen in Frankreich sind Sie sehr populär – dazu aufgerufen, für den Sozialisten François Hollande zu stimmen. Beweise dafür sind nicht zu finden. Will sich Sarkozy damit die Stimmen der Front National sichern?
Ja, das ist reine Instrumentalisierung. Als Reaktion darauf habe ich heute Morgen von Berlin aus in meinem Blog dazu aufgerufen, Nicolas Sarkozy im zweiten Wahlgang zu wählen – das ist natürlich als Scherz gemeint.
Das Gespräch führte Andrea Nüsse.