Anschläge und Unruhen: Konflikt in Nigeria droht sich zum Bürgerkrieg auszuweiten
Streiks und Bomben lähmen Nigeria. Das bevölkerungsreichste Land Afrikas könnte in einen Bürgerkrieg rutschen.
Wer „eine Revolution oder einen Militärputsch heraufbeschwören will, muss es so machen“. Derart fasst der Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Abuja, Klaus Paehler, die Lage in Nigeria zusammen. Der Generalstreik gegen die Streichung der Benzinpreissubventionen zum Jahreswechsel geht am Donnerstag in den vierten Tag und überlagert eine andere Krise, die das Land ohnehin seit einem halben Jahr erschüttert: die immer häufigeren und tödlicheren Terroranschläge der Islamistengruppe Boko Haram.
Paehler findet es zwar grundsätzlich richtig, die Benzinpreissubventionen zu streichen. „Aber dafür setzt man doch nicht die Existenz eines Landes aufs Spiel.“ Dass die Regierung den Generalstreik einfach aussitzen kann, glaubt Paehler dieses Mal nicht. Christine K, Büroleiterin der Heinrich- Böll-Stiftung in Abuja gibt ihm recht. Doch im Gegensatz zu Paehler, der gerade wenig Positives sieht, weist Christine K auf zwei interessante Entwicklungen hin: Die Proteste gegen die Subventionsstreichung laufen unter der Überschrift Occupy Nigeria, und sie „einen die Menschen zu einer Nation“, ergänzt Elizabeth Donnelly, Nigeria-Expertin beim britischen Thinktank Chatham House. „Die Ethnie spielt dabei bisher keine Rolle“, sagt Christine K. Allerdings schränkt sie ein, dass sich das „jederzeit“ ändern kann. Das Zweite, worauf sie hinweist, sind Akte der Solidarität zwischen Muslimen und Christen, die sie „bemerkenswert“ findet. Im Norden hätten Muslime eine Kirche umstellt, um sie vor Angriffen zu schützen, und im Süden hätten Christen Muslime beim Gebet bewacht. Allerdings sieht Christine K das große Risiko, dass es überall im Land zu Revancheattacken auf die jeweils andere Glaubensgemeinschaft kommen kann, „und dann bleibt nur noch ein militärisches Eingreifen“, befürchtet sie. Paehler ergänzt, „dass die Regierung die Tatsache wird zur Kenntnis nehmen müssen, dass die meisten Nigerianer nichts zu verlieren haben und sie deshalb kaum Einfluss auf ihr Verhalten hat“.
Elizabeth Donnelly weist darauf hin, dass in Nigeria seit Jahren über eine Abschaffung der Benzinpreissubventionen diskutiert worden sei. Doch nun habe die Regierung keinerlei Anstrengungen unternommen, die Vorteile herauszustellen. Zwar hat sie ein Investitionsprogramm aus den eingesparten rund acht Milliarden Dollar angekündigt, doch das bleibt seltsam ungenau. Paehler meint, die Regierung habe die soziale Wirkung der Entscheidung komplett ignoriert. Zwei Drittel der Nigerianer lebten von einem oder zwei Dollar am Tag. Die Verdoppelung der Benzinpreise hat den Transport dramatisch verteuert, sie hat Lebensmittel, ja das gesamte tägliche Leben für die Mehrheit in Nigeria unbezahlbar gemacht.
Nahezu zeitgleich mit der Subventionsstreichung hat der nigerianische Präsident Goodluck Jonathan zum ersten Mal die Gefahr durch Boko Haram drastisch geschildert. Er vermutet, dass die Gruppierung, die aus einer radikalislamischen Sekte in Maiduguri im Nordosten des Landes hervorgegangen ist, die gesamte Regierung, die Justiz und die Sicherheitsbehörden unterwandert habe. Der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka sagte dem britischen Sender BBC: „Diejenigen, die diese gesichtslose Armee geschaffen haben, haben die Kontrolle über sie verloren.“ Er warnte, die Nation „ist auf dem Weg in den Bürgerkrieg“. So dramatisch sehen Christine K und Elizabeth Donnelly die Lage noch nicht. Aber der Versuch der Regierung vor zwei Jahren, Boko Haram militärisch zu zerschlagen, „hat zur Radikalisierung beigetragen“, denken beide. Der Anführer Mohammed Yusuf war damals festgenommen und im Polizeigewahrsam ermordet worden. Erst in dieser Woche hat die Familie von Mohammed Yusuf dafür 100 Millionen Naira (rund 475 000 Euro) Entschädigung vom nordöstlichen Bundesstaat Borno dafür erhalten. Donnelly sieht das Risiko, dass sich Boko Haram zu einem Terror-Franchise-Unternehmen entwickeln könnte. Niemand wisse genau, wer die Anführer seien, sagt sie, auch wenn sich am Mittwoch Abubakar Shekau in einem You- Tube-Video als Chef der Truppe bezeichnete. In dem Video rechtfertigte er die Angriffe auf Christen im Norden des Landes.
Nach den Anschlägen auf Kirchen im Norden ist es am Mittwoch zu Revanche-Attacken in Benin-City im Süden gekommen. Eine Moschee und eine Koranschule wurden angegriffen und in Brand gesetzt. Mindestens fünf Menschen starben, während am Mittwoch in der Stadt Potiskum im Bundesstaat Yobe im Nordosten des Landes erneut mindestens zwölf Menschen von Boko-Haram-Anhängern erschossen wurden. Im Bundesstaat Niger nahe der Hauptstadt sind derweil die Benzinpreisproteste außer Kontrolle geraten. Jugendliche stürmten Regierungsgebäude, der Gouverneur verhängte am Abend eine 24-stündige Ausgangssperre.
Was auf den ersten Blick wie ein Krieg der Religionen erscheint, ist vor allem ein Kampf um die immer knapperen Ressourcen. Zwar hat der mit fast 160 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Staat Afrikas nach der langen Herrschaft des Militärs seit 1999 wieder eine gewählte Regierung, doch sind die staatlichen Institutionen zu schwach und zu korrupt, um die Konflikte der mehr als 250 Volksgruppen zu entschärfen. Vor allem wirtschaftlich ist der Aufholbedarf nach den vielen verschenkten Jahren seit der Unabhängigkeit 1960 riesengroß. Obenan steht die katastrophale Stromversorgung. Wer es sich leisten kann, wird zum Selbstversorger und legt sich einen Generator zu. Mehr als zwei Drittel der Elektrizität im Land werden heute in Kellern und Hinterhöfen produziert.
Das Gleiche gilt für die maroden Ölraffinerien. Ihr Ausfall führt zu der absurden Situation, dass Nigeria als weltweit achtgrößter Ölproduzent das Rohöl exportiert, es in Rotterdam verarbeiten lässt und als Benzin wieder importieren muss. Um Treibstoff für die arme Bevölkerung bezahlbar zu machen, wurde das Benzin subventioniert und nach Einschätzung von Ölministerin Diezani Alison-Madueke im benachbarter Ausland teurer weiterverkauft. So begründete sie in der Tageszeitung „Guardian“, warum die Subventionen gestrichen wurden.
Faruk Dalhatu, Chef des Freedom Radio in der zweitgrößten Stadt Kano im Norden des Landes, glaubt, dass es für „korrupte Politiker kein Weiterso mehr geben wird – falls wir das überleben“. In Kano hat es beim Sturm auf den Gouverneurspalast vier Tote und mindestens 30 Verletzte gegeben. Dalhatu ist überzeugt, dass der Gouverneur ermordet worden wäre, „hätte die Polizei nicht geschossen“, denn die Demonstranten seien zu Tausenden in den Palast gestürmt. Seit zwei Tagen gilt in Kano und anderen großen Städten im Norden des Landes eine Ausgangssperre. Dalhatu beschreibt die Lage als „beängstigend“.
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