Leitbild im Einwanderungsland: Kleines Grundgesetz für die bunte Republik Deutschland
Sie würden die Leitkulturdebatte gern beerdigen. Knapp 40 Migrations-Expertinnen haben stattdessen ein "Leitbild" fürs heutige Deutschland erarbeitet.
Nur dreieinhalb Din-A-5-Seiten lang ist der Text: „Miteinander in Vielfalt“, der einen Vorschlag macht für eine Selbstdefinition Deutschlands als Einwanderungsland. Einiges im „Leitbild für die Einwanderungsgesellschaft“, das am Dienstag die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özoguz (SPD) vorstellte, liest sich banal – etwa die Feststellung, dass Einwanderung Chancen wie Risiken hat oder das Grundgesetz auch Basis des neuen Zusammenlebens sei. Anderes klingt wie ein Update eben dieses Grundgesetzes, das bei einigen rechts der politischen Mitte als Zumutung empfunden werden dürfte. So enthält das Leitbild ein Bekenntnis zur Stärkung der Demokratie durch Mischung: „Demokratien sind stärker, wenn sich viele und verschiedene Akteure an ihnen beteiligen“ heißt es etwa im Text oder: „Offene Gesellschaften sind wirtschaftlich, sozial und kulturell erfolgreicher“. Er nennt Teilhabe das „zentrale Gerechtigkeitskriterium“ und Diskriminierung als das, was sie verhindert. Und er pflanzt ein Stoppschild in die Identitäts- und Leitkulturdebatte: Da gemeinsame und persönliche Identitäten sich immer wandelten, gebe es „auch nicht die eine und für alle gültige deutsche Identität“. Das, so die Ministerin, sei der eklatante Unterschied zur Idee einer Leitkultur.
"Man kann über Migration auch ganz anders reden"
Ein „Leitbild“ fürs heutige, buntere Deutschland zu entwickeln war ursprünglich eine Forderung des Rats für Migration, des Zusammenschlusses deutscher Migrationswissenschaftlerinnen und –wissenschaftler, die sich allerdings die Volksvertretung als Autorin wünschten. Eine Enquetekommission des Bundestags zum Beispiel hätte aus ihrer Sicht die Zukunft der Bundesrepublik mit jetzt schon einem Fünftel migrantischer Bevölkerung – Tendenz steigend - verhandeln sollen. Nun nahm die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung den Gedanken auf und berief unter Özoguz‘ Vorsitz eine Kommission von 38 Expertinnen und Experten unterschiedlicher weltanschaulicher und beruflicher Herkunft, vom Abteilungsleiter beim Bundesverband Deutscher Arbeitgeberverbände über Migrationswissenschaftlerinnen bis zum Redakteur der Frankfurter Allgemeinen. Gemeinsam, so Özoguz, sei allen Mitgliedern – darunter viele, die selbst Migrationshintergrund haben -, dass sie einen praktischen oder wissenschaftlichen Bezug zum Thema Migration hatten. In einer „sehr enthemmten Zeit“, in der sich Menschen nichtdeutscher Herkunft immer heftigere Angriffe gefallen lassen müssten und Vielfalt politisch unter Beschuss sei, sei der Ansatz gewesen: „Wir setzen jetzt mal ein Gegenbild. Man kann über Einwanderung auch ganz anders reden, erst recht in einer Gesellschaft, die Einwanderung richtig viel verdankt, etwa ihren Lebensstandard.“ Man habe den „falschen Bildern“ etwas entgegensetzen wollen, bevor sich das Land „immer mehr in Widersprüchlichkeiten“ verwickle, aus denen es „nicht mehr herausfinden könnte“. Sie selbst, sagte Özoguz, „würde am liebsten durch ganz Deutschland touren und darüber reden“.
Einwanderungsgesellschaft "zum Wohle aller"
Während sich alle Mitglieder der Leitbild-Kommission aufs Grundsätzliche geeinigt haben, gibt es im Detail Unterschiede, die teils auf den 40 folgenden Seiten erläutert und in Handlungsempfehlungen für die Politik enthalten sind. So sprach sich Farhad Dilmaghani, Berliner Ex-Staatssekretär und Vize-Vorsitzender der Leitbild-Kommission, während der Vorstellung des Texts für ein Teilhabegesetze aus, die es in drei Ländern bereits gibt, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Berlin. Özoguz ist da skeptisch. Gemeinsam vertreten aber alle etwa, was Dilmaghanis Kollege im Vorstand, Herbert Brücker, formulierte: „Migration ist keine Bedrohung, sondern ein Prozess, der politisch gestaltet werden muss.“ So trivial die Erkenntnis sei, dass Deutschland schon immer ein Einwanderungsland gewesen sei, so sehr seien viele Chancen lange nicht wahrgenommen worden, weil das Land sich gegen diese Erkenntnis gesperrt habe.“ Als Ökonom, so Brücker, der das Nürnberger Institut für Berufsforschung leitet, eine Tochter der Bundesagentur für Arbeit, füge er hinzu: „Migration ist mit Wohlfahrtsgewinnen verbunden.“ Soweit sie soziale Ungleichheit produziere, gehe die stets zulasten der Neuen, nicht der Alteingesessenen. Für ein alterndes Land wie Deutschland seien die Vorteile sogar besonders groß. An geschlossenen Wirtschaften wie den untergegangenen Planwirtschaften könne man auch sehen, dass „Vielfalt ein Produktionsfaktor“ sei. Im Leitbild-Text, an dem Brücker mitgearbeitet hat, wird die Frage nach dem Nutzen gleich am Anfang beantwortet: Man beschreibe eine Gesellschaft, "die niemanden ausschließt und zum Wohle aller gestaltet werden kann".
Eine Aufgabe für den Bundestag
Etwas schmallippig blieben die Kommissionsspitzen zur Frage, ob nicht der Bundestag der überzeugendere Ort für eine Leitbild-Debatte sei als eine Kommission, die von einer parteinahen Stiftung einberufen wurde – in den Nachrichtensendungen vom Dienstag wurde in der Tat immer wieder erwähnt, dass es sich um eine Kommission unter dem Vorsitz der stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Özoguz handle. Man sei der Ebert-Stiftung sehr dankbar für die Initiative, betonte die pflichtgemäß. Der Versuch, Leitbilder im Bundestag zu entwickeln, sei kurz vor einem Bundestags- und Landtage-Wahljahr naturgemäß gescheitert. Der Text, der jetzt vorliege, sagte Özoguz, „schließt aber überhaupt nichts aus“. Sie hoffe, „dass das jetzt der Stein des Anstoßes ist, nicht an Begriffen wie Leitkultur festzuhalten“, sondern sich einem Leitbild zu widmen, das alle mitnimmt, die autochthonen wie die neuen Deutschen. „Selbstverständlich“ sei er dafür, dass Thema in den Bundestag zu bringen“, antwortete Brücker. Man habe einen Anstoß geben wollen, „deshalb war ich sehr gern dabei“.
Andrea Dernbach