Halle, Onlinegames und Risiken im digitalen Raum: „Kinder treffen unkontrolliert auf extremistische Weltbilder“
Das Attentat von Halle erinnert den Cyberkriminologen Thomas Rüdiger an ein Computerspiel. Er fordert eine digitale Generalprävention. Ein Interview.
Thomas-Gabriel Rüdiger (39) ist Cyberkriminologe an der Hochschule der Polizei Brandenburg. Mit ihm sprach Alexander Fröhlich.
Herr Rüdiger, wir führen dieses Interview für Sie standesgemäß als Chat-Interview im Netz. Die Terrorattacke von Halle betrifft genau Ihr Fachgebiet. Was haben Sie gedacht, als Sie von dem Anschlag hörten?
Als ich davon gehört habe, habe ich aufgrund der Rahmenbedingungen natürlich auch an eine extremistisch motivierte Tat gedacht.
Sie haben sicherlich auch das Video gesehen, dass der Täter im Internet gestreamt hat. Was ist Ihnen besonders aufgefallen?
Tatsächlich hat es mich – sicherlich wie viele andere auch – an ein Computerspiel erinnert. Genauer an ein LetsPlay-Video von einem Computerspiel.
Was ist ein LetsPlay-Video?
Bei einem LetsPlay-Video spielen Menschen online Computerspiele und streamen sich dabei. Sie erzählen dann, was sie gerade im Spiel machen, und unterhalten ihre Community.
Hat sich der Täter auch wie in einem Spiel bewegt? Und woran machen Sie das fest?
Es sind nicht nur die Bewegungen, es ist die Gesamtbetrachtung. Der Täter beschrieb, was er macht, auch bei Hindernissen – wie der Tür der Synagoge –, was er als nächstes machen wird. Die Bewegungen ähneln dabei dann aber optisch durchaus Animationen vor allem im Bereich der Open World Games. Die Waffe wegstellen, Rucksack nehmen, Gegenstände auspacken und so weiter. Auch seine Aufmachung und Ausrüstung ähnelt der Darstellung in Spielen. Bis hin zu offenbar zumindest in Teilen selbst hergestellten Waffen, was an ein Crafting Element – also wenn in Spielen Waffen selbst hergestellt werden – erinnert.
Was ist Ihnen an dem elfseitigen Manifest des Täters aufgefallen?
Das habe ich nur in Teilen gelesen. Aber auf den ersten Blick fällt auch hier die Spielethematik auf. Genutzte Waffen und Ausrüstung werden vorgestellt – bis hin zu sogenannten Secret Weapons. Ziele werden dargestellt und ein Plan vorgestellt. Auch eine Art Achievement wird vom Täter dargestellt. Dies kennt man auch aus dem Gamingbereich, also wenn ein Spieler Auszeichnungen für besondere Leistungen erhält. Es ähnelt, so schlimm es sich anhört, einer Spieleanleitung.
Nicht jeder Gamer wird Extremist, Egoshooter führen nicht zwangsläufig zu Gewalttaten in der Realität. Müssen wir den Umgang mit diesen Spielen überdenken?
Heute spielt annähernd jeder Mensch Computerspiele. Je jünger jemand ist, umso wahrscheinlicher ist es auch, dass er oder sie bereits gespielt hat. Das bedeutet, fast jeder, der eine Straftat begeht, hat auch Computerspiele gespielt.
Aber hier verwischen offenbar die Grenzen zwischen virtuellem Spiel und Realität. Das ist doch ein Problem...
Es ist zumindest zu diskutieren. Ich selbst sehe hier zwei weitere Elemente. Das erste ist: Der Täter hat sich vermutlich durch die Struktur als LetsPlay-Video und diese Art von Gamification eine höchstmögliche Aufmerksamkeit erwünscht. Sicherlich getragen durch seine offenbar vorhandene Gameaffinität. Auf der anderen Seite muss auch bewusst sein: Solche Personen spielen faktisch auch Onlinegames. Hier treffen sie auch – vor allem in Spielen, die für Kinder freigegeben sind – auf Kinder und zwar relativ unkontrolliert. In einer spielerischen Umgebung treffen also Kinder auch mit extremistischen Weltbildern von Erwachsenen zusammen und werden so sozialisiert. Daher erscheint es verblüffend, dass Onlinegames im letzten Moment aus dem Regelungsgehalt des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes herausgenommen wurden. Es gibt in machen Spielen daher nicht mal eine Meldefunktion.
Das Gesetzt regelt bußgeldbewehrt, wie Anbieter sozialer Netzwerke wie Facebook mit Beschwerden über Hasskommentare oder andere strafbare Inhalte umgehen müssen. Nur bei Onlinespielen hat der Staat in Deutschland darauf keinen Zugriff?
Kommt darauf an, was sie damit genau meinen. Aber es gibt kaum einen unregulierteren Bereich als Onlinegames.
Welche Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetz wäre denn nötig?
Nun, die Onlinegames aufnehmen. Man muss vielleicht dazu wissen, der Gamingbereich in Deutschland macht mehr Umsatz als Film und Musik zusammen. Ich zeige aber in Publikationen und auf Vorträgen, wie in Onlinegames mit Altersfreigaben ab sechs Jahren offen extremistische Gruppen mit Namen wie "WaffenSS" aber auch "Al Qaeda" auftreten und Kinder dann hiermit konfrontiert werden. Da das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in diesem Bereich nicht gilt, gibt es nicht mal die Möglichkeit, das zu melden. Es herrscht teilweise die Meinung vor, in Spielen gibt es doch keine Hasskriminalität oder Ähnliches.
Der Täter von Halle war Polizei und Verfassungsschutz bislang nicht als rechtsextremistisch aufgefallen, sondern wurde offenbar in der Gamingszene im Netz radikalisiert. Was bedeutet diese Entwicklung für die Polizeiarbeit?
Meine Meinung ist, dass wir den digitalen Raum und die Risiken, die daraus entstehen – wie Radikalisierungen, aber auch sexuelle Belästigungen und ähnliches – nicht als ein singuläres Phänomen betrachten dürfen. Viele haben im Netz das Gefühl, dass hier die Wahrscheinlichkeit, eine Anzeige zu erhalten, viel geringer ist – was auch stimmt. Daher haben wir eine Enthemmung in vielen Bereichen, die aus meiner Sicht die Hemmschwelle für viele Täter senkt. Wir brauchen eigentlich eine Debatte, wie wir mit Normen und digitalen Risiken in einem Raum umgehen wollen, der global ist und keine physischen Grenzen hat. Darauf gibt es keine echte Antwort. Deswegen wird es perspektivisch auch kaum eine Lösung durch einzelne Länder oder deren Polizei geben.
Brauchen wir Gamingermittler? Was wäre nötig?
Tatsächlich glaube ich, dass auch die Sicherheitsbehörden verstärkt den Bereich der Onlinegames im Blick haben müssen. Nicht nur wegen Extremisten, sondern auch wegen Sexualdelikten und so weiter. Ob es eigene Ermittler braucht, ist schwer zu sagen, aber zumindest braucht es Personal in allen Sicherheitsbereichen, die sich auch mit Onlinegames auskennen.
Mehrere Anschläge sind auf dieses Muster wie jetzt in Halle zurückzuführen: Breivik in Norwegen, Tarrant in Neuseeland, mehrere in den USA, selbst der Anschlag in München 2016. Müssen wir jetzt, da die Generation Internet erwachsen ist, Angst vor männlichen "Versagern" haben, die ihr Heil beim Gaming suchen – und möglicherweise auch in der Realität umherballern?
Zumindest kann man sagen, dass bereits eine ganze Generation mit Gaming sozialisiert wurde. Der Amokläufer von München soll beispielsweise auch im Onlinegamingbereich massiv Hasskommentare gepostet haben. Meine eigene Einschätzung ist, dass auch in Zukunft vermehrt Bezüge zum Gamingbereich bei ähnlichen Delikten vorhanden sein werden. Auch schlicht, weil die Täter damit groß geworden sind und die Gesellschaft kaum thematisiert hat, mit wem junge Menschen eigentlich im Netz in Kontakt kommen. Ein digitaler Raum, in dem viele Normenbrüche wie Hasskriminalität und sexuelle Belästigungen als Normalität empfinden. Was auch einen Einfluss auf die Hemmschwelle hat. Hier müssen wir zumindest auch mit Medienbildung und Aufklärung versuchen, entgegen zu wirken. Wenn man aber sieht, dass bis heute Medienbildung nicht verpflichtend überall vermittelt wird...
Dann wird Ihnen Angst und Bange?
Ich sehe zumindest die Notwendigkeit, darauf aufmerksam zu machen. Die Taten von Morgen werden heute verhindert.
Verstehe ich Sie richtig: Die Polizeibehörden in der Bundesrepublik wie möglicherweise auch in anderen Staaten sind auf dieses Phänomen nicht vorbereitet?
Ich denke, man sollte jetzt nicht nur den Gamingbereich thematisieren. Es ist doch eine Auswirkung eines generell kaum regulierten digitalen Raumes ohne Grenzen, das betrifft dann auch nicht nur Imageboards und Co. Wie man auf diese Entwicklung eigentlich reagieren soll aus Sicht eines einzigen Landes, ist nicht klar. Da gibt es eigentlich auch keine Art grundsätzlicher gesellschaftlicher Strategie, wie sie aus meiner Sicht notwendig wäre. Ich bezeichne das als digitale Generalprävention. Also medienkompetente Eltern, die ihre Kinder auf diesen Raum vorbereiten. Schulen, die das vertiefen. Gesetze, die versuchen, auch Betreiber zu Schutzmaßnahmen zu bringen. Und ein Rechtssystem, dass diese Regeln auch hinreichend durchsetzt. Das sehe ich bis heute nirgends. Hier brauchen wir aus meiner Sicht neue Ansätze. Wie die konkret Aussehen, kann ich auch noch nicht sagen. Eine Art digitales globales Strafrecht? Eine Art digitale globale Polizei?
Kommen Sie sich vor wie ein Rufer in der Wüste oder wird das Thema inzwischen in den Sicherheitsbehörden wahrgenommen, ohne damit umgehen zu können?
Ich denke schon, dass gerade in den vergangenen Jahren diese Themen verstärkt in den Sicherheitsbehörden, aber auch in Ministerien aufgenommen werden. Das ist das, was ich als Feedback bekomme. Aber es ist halt eine Art gesellschaftliche Jahrhundertaufgabe, sodass ich das Gefühl habe, man hat noch zu viel Respekt vor diesem ersten richtigen, aber notwendigen Schritt. Der könnte in der Entwicklung einer echten gesellschaftlichen Gesamtstrategie, die auch das Verhältnis von Kontrolle und Freiheit ernsthaft betrachtet, bestehen.
Hat es nach Ihrer Erfahrung bislang ein Ermittlungsverfahren zur Vorbereitung einer terroristischen Straftat gegeben, das auf Erkenntnissen aus den Gamingforen beruhte und mit dem einen Anschlag verhindert wurde?
Das weiß ich tatsächlich nicht.