Politik: Kinder ohne Bindung
Der Ethikrat berät über anonyme Mutterschaft, die Experten sind sich einig: Statt Babyklappen sollte es mehr Hilfe für Familien geben
Berlin - Im Sankt-Anna-Hospital in Herne waren es zweiundzwanzig Frauen: Sie kamen anonym, ihr Neugeborenes ließen sie zurück. Über ihre Beweggründe ist wenig bekannt. „Die Hälfte der Frauen war arbeitslos“, so viel weiß Joachim Neuerburg, Chefarzt in der Herner Klinik. Der Mediziner war einer von acht geladenen Experten, die dem Deutschen Ethikrat auf seiner Oktobersitzung jetzt über ihre Erfahrungen mit Babyklappen und anonymer Geburt berichteten.
Das Sankt-Anna-Hospital war eines der ersten Krankenhäuser in Deutschland, das Frauen die anonyme Geburt anbot. Mittlerweile machen das etwa 130 Kliniken. Dazu kommen mehr als achtzig geheizte Wärmebettchen, sogenannte Babyklappen, in denen Kinder Tag und Nacht abgelegt werden können. Das ist rechtswidrig, wird aber von den Behörden seit acht Jahren geduldet. Man hofft, auf diese Weise die Tötung von neugeborenen Kindern verhindern zu können. Der Gesetzgeber kündigte mehrfach eine Legalisierung an, scheiterte aber immer wieder an der verfassungsrechtlichen Hürde. Kinder haben das Recht zu erfahren, wer ihre leiblichen Eltern sind. In dieses Grundrecht darf nicht ohne Not eingegriffen werden. Ist es zu rechtfertigen, Menschen die Kenntnis ihrer Herkunft zu nehmen? Zu dieser Frage hat es zahllose Anhörungen gegeben. Nun beschäftigt sich auch der Ethikrat damit.
Sechs Stunden lang referierten die Sachverständigen und alle waren sich einig: Das Angebot von Babyklappen und anonymer Geburt hat nicht dazu geführt, die Zahl der Kindestötungen zu verringern. Dem stimmten auch die Vertreterinnen des Sozialdiensts Katholischer Frauen (SkF) zu, dem bundesweit größten Babyklappen-Anbieter. Ihre rund zwanzig Babyklappen schließen wollen sie dennoch nicht. Es sei ein Weg, mit den Frauen in Kontakt zu kommen, argumentierte Monika Kleine vom SkF Köln. Rund die Hälfte der Frauen, die die Kölner Babyklappe genutzt haben, haben sich noch einmal gemeldet. Die Situation dieser Frauen, so Kleine, sei von Gewalt und Not geprägt gewesen.
Ein Grund, ein Baby heimlich wegzugeben, sei auch Angst vor dem Kindesvater. Neuerburg bestätigt: Auch Frauen in Herne hatten Angst. „Muslimische Frauen sind von ihrer Familie gezwungen worden, ihr Kind verschwinden zu lassen.“ Das waren insgesamt sechs anonyme Geburten, die Kinder wurden danach zur Adoption freigegeben. „Was mit den Müttern passiert ist, wissen wir nicht.“ In Berlin kennt man andere Fälle, dort wurden behinderte Kinder in den Babyklappen gefunden: Im letzten Jahr ein zwei Monate altes Kind mit Down-Syndrom, zwei Jahre zuvor ein schwer behindertes sechs Monate altes Kind. Auch Geschwister finden sich in den Berliner Klappen. Das stellte man mit einem DNA-Test fest: Drei Kinder, die über die Jahre dort abgelegt wurden, stammten offenbar von derselben Mutter.
Nichts über seine leiblichen Eltern zu wissen, ist für Kinder schwer erträglich. Das wurde in der Diskussion immer wieder deutlich. Die Psychologin Irmela Wiemann berichtete von schwerwiegenden Identitätsstörungen bei Findelkindern: „Sie fühlen sich ein Leben lang verstoßen und verloren.“ Menschen dies zuzufügen, hält Wiemann nicht für vertretbar. Sie verwies auch auf die Situation der Mütter, die ihre Kinder nicht aus freien Stücken abgeben: „Diese Frauen werden in ihrer Not allein gelassen.“
Die Vize-Vorsitzende des Ethikrats Christiane Woopen nannte es in der anschließenden Diskussion zynisch, auf diese Weise soziale Probleme lösen zu wollen. Auch Ethikrat-Mitglied Michael Wunder, er ist Psychologe in Hamburg, betrachtet die Fallzahlen vor allem als Ausdruck sozialer Probleme. Frauen die anonyme Entsorgung ihrer Kinder anzubieten, hält Wunder für keinen guten Weg. Er plädierte dafür, die Beratung auszubauen und Frauen dabei zu helfen, sich aus Gewaltverhältnissen zu befreien.
Der Ethikrat will das Thema weiter beraten. Im Dezember soll über das weitere Vorgehen entschieden werden.
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