Verfassungsgericht verhandelt über Klage von Kleinparteien: Keine Sperrklausel bei Europawahl 2014?
In Karlsruhe wird verhandelt, ob es in Deutschland bei Europawahlen auch zukünftig eine Sperrklausel geben soll. Wie wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden?
Auf Aktion folgt Reaktion: Im Juni dieses Jahres beschloss der Bundestag eine neue Sperrklausel von drei Prozent, um bei den anstehenden Europawahlen im Mai 2014 Kleinparteien vor der Tür zu halten. Alle Fraktionen außer den Linken stimmten zu. Zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht erst Ende 2011 die bis dahin geltende Fünfprozentklausel gekippt, weil das Europaparlament in seinen Aufgaben und Kompetenzen an nationale Parlamente wie den Bundestag nicht heranreiche. Nun verhandelt das Gericht Verfassungsbeschwerden und Klagen von Parteien gegen die abgesenkte Hürde. Die Zeit drängt. Verfahren und Urteil können die politischen Konkurrenten im Wahlkampf empfindlich treffen.
Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle umschreibt es in sachlichem Ton als „Besonderheit des Verfahrens“, dass die neue Klausel eine „Reaktion“ auf das Bundesverfassungsgerichts-Urteil war. Der für das Wahlrecht zuständige Berichterstatter im Zweiten Senat, Michael Gerhardt, wird deutlicher, als er davon spricht, es sei die Darlegungslast umverteilt worden. Tatsächlich war das Nein der Richter zur Fünfprozentklausel strikt – so strikt, dass danach sogar die Europaexperten im Bundesinnenministerium das Aus für jede Art von Hürde folgerten.
Ist eine um zwei Prozent gestutzte Hürde nun ein Trick, um das Veto aus Karlsruhe zu unterlaufen? Oder war es gar kein Veto? Das Wahlrecht bildet das Rückgrat der Demokratie. Kein Zweifel besteht daran, dass Sperrklauseln ein Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit darstellen. Trotzdem sehen die Richter die geltende Fünfprozenthürde jedenfalls für den Bundestag als gerechtfertigt an. So würde eine Zersplitterung vermieden, der Geist der Weimarer Zeit, der stabiles Regieren unmöglich mache.
Für aufstrebende oder auch nur stagnierende Kleinparteien sind die Hürden ein Hindernis, sich in voller (Parlaments-)Öffentlichkeit entfalten zu können. Deshalb haben sich einige nach Karlsruhe aufgemacht, die Piraten, die ÖDP, die Freien Wähler, die Satirepartei „Partei“ sowie die NPD. Der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim, der die ÖDP vertritt, rechnet den Richtern vor, dass eine deutsche Partei nunmehr immer noch rund 790 000 Wähler benötige, um Vertreter in das Europaparlament entsenden zu können. Zu viel, meint er. Von Arnim hatte auch das Urteil von 2011 erstritten. Seitdem sei die Lage unverändert, sagt er.
Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments, ist eigens angereist, um dem verklagten Bundestag den Rücken zu stärken. Er erkennt eine „ungeheure Dynamik“ im europapolitischen Prozess. Gemeint ist damit das im Vertrag von Lissabon festgelegte neue Verfahren, den Kommissionspräsidenten zu küren: Gewählt wird er auf Vorschlag des Rates, und zwar unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Parlamentswahlen. Schulz selbst präsentiert sich dergestalt als sozialdemokratischer Kandidat für das Amt und wirbt um Zustimmung. Als Kommissionspräsident müsse er künftig mit einem Programm auftreten, mit dem er vor den Wählern und im Parlament überzeugen könne. Echte Politik, meint er, für die im Parlament eine „strukturelle Mehrheit“ benötigt würde, keine „partikularen Interessen“. Die Kommission sei de facto eine Koalitionsregierung. Vom Charakter eines Verwaltungsorgans sei man „längst weg“.
„Sehr überzeugend“ findet Richter Voßkuhle die These von der neuen Dynamik, die tatsächlich mit einem „neuen institutionellen Ensemble“ verbunden sei. Und es hat sich gezeigt, dass drei Prozent eine überwindbare Hürde sind, etwa für die AfD, worauf der Prozessvertreter des Bundestags, Christofer Lenz, verweist, der dies als Beleg nimmt für ein „dramatisch verändertes Parteiensystem“. Das Europaparlament sei von der Arbeit der Parlamente in den Mitgliedstaaten „nicht weit entfernt“, sagt er.
Die Wahlen 2014 sind die ersten auf Lissabon-Grundlage. Allerdings kannte das Gericht die neuen Bedingungen schon, als es 2011 sein mit fünf zu drei Stimmen auch innerhalb des Senats umstrittenes Urteil fällte. Außerhalb, vor allem in Brüssel, galt es ohnehin als Skandal.
Werden sich die Richter gleichwohl wieder trauen? Es kommt wohl darauf an, ob sie wie Martin Schulz die vorgebliche „neue Dynamik“ spüren. Nach den Europawahlen wäre man klüger gewesen. Aber so lange wollte der Bundestag nicht warten. Ob aus Überzeugung, aus Prinzip oder um Karlsruhe Contra zu geben, bleibt Spekulation. Vermutlich war es alles zusammen. Jost Müller-Neuhof