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Immer mehr Obdachlose: Keine Randerscheinung

Die Zahl der Obdachlosen in Deutschland steigt deutlich. Woran liegt das und was kann dagegen getan werden?

Wenn es um Armut und Ausgrenzung geht, ist Ulrich Schneider kein Mann der leisen Worte. Bei den Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen müssten jetzt doch „sämtliche Alarmglocken schrillen“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Was den Mann vom Fach so entsetzt, ist die neueste Schätzung zum Anstieg der Wohnungslosigkeit in Deutschland. Um 15 Prozent habe die Zahl der Obdachlosen zwischen 2010 und 2012 zugenommen, teilte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) mit. Von 248000 auf 284000. Und nochmal 130000 Menschen stehe der Verlust der Wohnung unmittelbar bevor.

Auch bei der Caritas nennen sie die Entwicklung besorgniserregend. Im vierten Jahr in Folge sei die Zahl der Obdachlosen nun schon gestiegen, betont der Fachreferent des Verbandes, Stefan Kunz. Und das, nachdem es vorher mit der Wohnungslosigkeit in Deutschland kontinuierlich nach unten ging. Im Jahr 2008 lag die Quote bei 227000. Dann scheint sich irgendwas gedreht zu haben.

Nun handelt es sich, mag man einwenden, bei alledem nicht um eine amtliche Zahlen, sondern um bloße Schätz werte. Eigenartigerweise wird Wohnungslosigkeit in Deutschland nämlich nicht statistisch erfasst. Vor ziemlich genau einem Jahr haben das SPD, Grüne und Linkspartei nochmal ausdrücklich gefordert, um dem wachsenden Problem, wie sie schrieben, „angemessen begegnen zu können“. Doch was sie von der Regierung bekamen, war eine Abfuhr. Der mit einer bundesweiten Erhebung verbundene Aufwand sei für ein Ergebnis, das wegen der schwierigen Zählerei ohnehin nur begrenzte Aussagekraft besitze, „nicht zu rechtfertigen“, ließ der zuständige Minister Peter Ramsauer (CSU) mitteilen.

Harte Hartz IV-Sanktionen: Jungen Arbeitslosen kann der Zuschuss zur Wohnung ersatzlos gestrichen werden

Wie Opposition kritisiert auch die BAGW diesen Zustand. Man fordere seit Jahren eine amtliche Erfassung für den Bund und die einzelnen Länder, sagt Geschäftsführer Thomas Specht – in Nordrhein-Westfalen funktioniere das schließlich auch. Gleichwohl gelten die Schätzungen der Arbeitsgemeinschaft in Fachkreisen als seriös. Ihnen zufolge ist die Zahl derer, die nur auf der Straße leben, seit 2010 von 22000 auf 24000 gestiegen. Der Rest behilft sich mit Notunterkünften, manche verkriechen sich auch auf Campingplätzen. Allein 2012 habe es 65000 „Wohnungsverluste“ gegeben, heißt es in dem Schätzbericht. 25000 Wohnungen wurden zwangsgeräumt, 40000 schon vorher verlassen. Drei von vier Obdachlosen seien männlich, zwei Drittel alleinstehend, der Rest lebe mit Partner oder Kindern zusammen. Die Zahl der wohnungslosen Minderjährigen wird auf 32000 geschätzt. Für Ostdeutschland geht man derzeit von 35000 Obdachlosen aus, für die alten Bundesländer von 249000. Vom Anstieg her gibt es kaum einen Unterschied.

Als Hauptgrund für die wachsende Zahl von Obdachlosen nennt die Arbeitsgemeinschaft den Mangel an preiswerten Wohnraum in Ballungszentren. Einerseits gebe es dort immer weniger Sozialwohnungen, andererseits verarmten die unteren Einkommensgruppen immer stärker, sagt Specht.

Vor allem Alleinstehende mit niedrigem Einkommen fänden in prosperierenden Städten keine Wohnungen mehr. Und bei jungen Hartz-IV-Empfängern führe eine Regelung oft geradewegs in die Obdachlosigkeit. Um Arbeitslose unter 25 für Fehlverhalten zu sanktionieren, darf ihnen nämlich der Zuschuss zu den Wohnungskosten gekürzt oder komplett gestrichen werden. Ähnlich katastrophal sei die Vorgabe dass junge Arbeitslose nicht von Zuhause ausziehen dürfen, sagt Caritas-Experte Kunz. Wer dies trotzdem tue, erhalte keine Unterstützung.

Die Sanktionierungsmöglichkeit gehöre abgeschafft, verlangt auch Schneider. Zudem fordert er eine Mietpreisbremse, Verbesserungen beim Wohngeld und deutlich mehr sozialen Wohnungsbau. Vor allem aber müssten Zwangsräumungen unterbunden werden. Deren wachsende Zahl, so der Verbandsgeschäftsführer, komme „immer mehr einer staatlich legitimierten Armutsvertreibung aus teuren Innenstädten gleich“.

Rainer Woratschka

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