Großbritannien und der Brexit: Keine EU ist auch keine Lösung
Bald könnten sich die Briten aus dem Räderwerk der Europäischen Union befreien. Doch langsam wird ihnen bewusst, was das für Folgen haben könnte. Ein Kommentar.
Viele überzeugte Briten erleben gerade eine schlimme Zeit. Über Jahrzehnte mussten sie ohnmächtig erdulden, wie die Souveränität und Demokratie ihrer stolzen Nation im Räderwerk der Europäischen Union zerrieben wurde. Nun endlich bietet sich ihnen die Chance, dieser Schmach ein Ende zu machen.
Unter dem Druck seiner eigenen Partei lässt der konservative Premier David Cameron das Wahlvolk über die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der EU abstimmen. In gut drei Wochen, am 23. Juni, könnten sich die Briten also befreien. Doch jetzt müssen sie erkennen: Die Befreiung droht zu scheitern.
Denn seit Monaten vergeht kaum ein Tag, ohne dass ausländische Politiker, kundige Experten und einflussreiche Organisationen mit harten Worten vor dem ersehnten „Brexit“ warnen. Das begann mit US-Präsident Barack Obama. Ohne die EU, konstatierte er, würde Britannien an Sicherheit, Einfluss und Wohlstand verlieren. Schlimmer noch: Für die nach einem EU-Austritt notwendigen neuen Handelsabkommen mit den USA werde das Land sich „hinten anstellen“ müssen, stellte er klar. Es werde keine Vorzugsbehandlung in Washington geben.
Fachleute warnen vor schweren Konsequenzen
Das allein hätten die Bürger ja vielleicht noch ignorieren oder als Meinung eines „Halb-Kenianers“ abtun können, wie es Boris Johnson versuchte, der Londoner Ex-Bürgermeister und Wortführer der „Brexiteers“. Doch inzwischen bestätigten alle maßgeblichen Wirtschaftsexperten Obamas Einschätzung. Gleich ob bei der OECD, dem Internationalen Währungsfonds oder der London School of Economics, überall erwarten die Fachleute drastische Verluste an Wirtschaftsleistung und Jobs, wenn es zum Austritt kommt – und das mit gutem Grund.
Denn große Teile der britischen Wirtschaft leben vom freien Zugang zum EU-Binnenmarkt. Ginge der verloren, würde der Zufluss internationaler Investitionen abbrechen und viele Unternehmen müssten abwandern, wie die Chefs von 15 Weltkonzernen von Airbus bis Microsoft in einem offenen Brief versicherten. Am härtesten träfe es ausgerechnet die Finanzindustrie, die einzige Branche, in der Britannien Weltmarktführer stellt. Banken, Versicherungen und Vermögensverwalter bestreiten rund ein Zehntel des Bruttoinlandsprodukts. Diese Stellung würde nach dem Brexit unvermeidlich verloren gehen.
So müssten die britischen Geldhäuser alle Transaktionen mit Wertpapieren in Euro an Banken und Clearinghäuser auf dem Kontinent abtreten. Denn die EZB besteht mit Recht darauf, dass Geschäfte in Euro auch europäischer Jurisdiktion unterstehen.
So lernen die Briten unter einem wahren Trommelfeuer der Argumente eine harte Lektion
Gleichzeitig würde die „Passregel“ wegfallen, wonach jedes in einem EU-Staat zugelassene Finanzinstitut in allen anderen Mitgliedsländern Filialen unterhalten darf, ohne dass es einer Genehmigung bedarf. Falle diese Rechtsgrundlage weg, sei ein „tiefer Fall“ des britischen Pfundes und eine „massive Verlagerung des Finanzgeschäfts“ nach Frankreich und Deutschland zu erwarten, prognostiziert die Ökonomin Mathilde Lemoin von der Rothschild-Bank. Darum warnt selbst Mark Carney, der angesehene und jeder Parteilichkeit unverdächtige Chef der Bank of England, vor „erheblicher Inflation“ und einer „substanziellen Minderung des Wachstums“ für den Fall des EU-Austritts. So lernen die Briten unter einem wahren Trommelfeuer der Argumente eine harte Lektion, die sich die Nostalgiker des Nationalstaats auch anderswo vorhalten lassen müssen: Die wirtschaftliche Integration in Europa ist eine Einbahnstraße. Das Umdrehen ist höchst gefährlich. Gewiss, die EU ist ein politisches Konstrukt und kein Naturphänomen. Man kann ihre Entwicklung auch wieder rückgängig machen. Aber der Preis dafür wäre hoch, sehr hoch. Und die Verluste an Wohlstand und Jobs würden ganz sicher keine Stabilität bringen. Das heißt keineswegs, dass in der EU alles bleiben könnte, wie es ist. Im Gegenteil: Die Demokratisierung der intransparenten europäischen Institutionen und die Entmachtung der nationalen Zampanos in den geheim tagenden Ministerräten wird jeden Tag dringender, gerade weil sich das anti-europäische Ressentiment ausbreitet. Aber keine EU ist eben auch keine Lösung. Die meisten Briten haben das offenbar verstanden. Das signalisieren neben den Umfragen auch die Meldungen aus den Wettbüros, die im wettfreudigen Britannien zuverlässige Stimmungsbarometer sind. Bei Ladbroke, dem führenden Buchmacher, wetten die Kunden inzwischen im Verhältnis sechs zu eins gegen den „Brexit“.