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Israelische Panzer sind an der Grenze zum Gazastreifen aufgezogen
© Amir Cohen/Reuters

Israel und die Hamas: Kein Interesse an einer ernsthaften Eskalation

Raketenangriffe auf Tel Aviv, Vergeltungsschläge im Gazastreifen: Die neue Konfrontation kommt für beide Seiten eigentlich ungelegen.

Keine sechs Stunden nach der Attacke war der Schuldige ausgemacht: Die Hamas stecke hinter dem Raketenangriff auf Tel Aviv, meldete die israelische Armee in der Nacht zum Freitag – kurz nachdem sie mit Vergeltungsschlägen begonnen hatte.

Mit Kampfjets und anderen Waffen beschossen die Streitkräfte rund 100 militärische Ziele der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen, darunter Verwaltungsgebäude, Raketenfabriken und militärische Trainingsanlagen. Das Gesundheitsministerium in Gaza meldete mindestens zwei Verletzte.

Am Freitagmorgen schien sich die Lage wieder beruhigt zu haben. Zu diesem Zeitpunkt ging die israelische Armee sogar davon aus, dass der Angriff auf Tel Aviv unbeabsichtigt war. Die Raketen könnten während Wartungsarbeiten aus Versehen abgefeuert worden sein, berichteten israelische Medien.

Für die Menschen in und um Tel Aviv spielte das am Donnerstagabend keine Rolle, als unerwartetes Sirenengeheul sie aus ihrer Routine riss. Ausgerechnet in Richtung der bevölkerungsreichen Metropolregion am Mittelmeer flogen die Raketen aus dem Gazastreifen. Kurz darauf war ein lauter Knall zu hören. Der Abfangschirm „Eiserne Kuppel“ wurde aktiviert, holte aber keine der beiden abgefeuerten Raketen vom Himmel. Das teilte die Armee kurze Zeit später mit. Die Geschosse flogen an den Wohngegenden vorbei, verletzt wurde niemand. Zur Sicherheit ließ der Bürgermeister von Tel Aviv, Ron Huldai, die Bunker der Stadt öffnen.

Diese sind ansonsten verschlossen, denn Angriffe auf Tel Aviv sind ungewöhnlich. Das letzte Mal wurde die Stadt mit ihren mehr als 400000 Einwohnern während des Gazakrieges 2014 zum Ziel militanter Gruppen. Während die Bewohner der kleineren Dörfer und Städte rund um den Gazastreifen regelmäßig in die Schutzräume rennen müssen und in den vergangenen Monaten auch mit an Ballonen befestigten Brandsätzen zu kämpfen hatten, die über die Grenze geflogen wurden, gilt die Region rund um Tel Aviv als sicher.

Selbst der Sprecher der israelischen Armee, Ronen Manelis, zeigte sich im israelischen Fernsehen überrascht. Man habe im Vorfeld keine Informationen über den Beschuss gehabt und müsse zunächst herausfinden, wer hinter dem Angriff stecke, sagte er. Sowohl die im Gazastreifen herrschende Hamas als auch der Islamische Jihad leugneten, etwas mit der Attacke zu tun zu haben. Aus dem Innenministerium der Hamas hieß es Medienberichten zufolge sogar, der Raketenbeschuss stehe „abseits des nationalen Konsens“, man würde Maßnahmen gegen jene ergreifen, die dahinter steckten. Ungewöhnliche Worte vonseiten der Terrororganisation.

Auf die Vergeltungsschläge der israelischen Armee reagierte die Hamas in der Nacht zum Freitag gleich drei Mal – jeweils ertönte der Raketenalarm im Süden des Landes. Insgesamt neun Raketen schoss die radikal-islamische Gruppe nach Angaben der Armee auf das israelische Grenzgebiet, sechs davon wurden von der „Eisernen Kuppel“ abgefangen. Verletzt wurde niemand.

Verhandlungen abgebrochen

Dabei schien es, dass Israel und die Hamas derzeit um Ruhe bemüht sind. Während des Angriffs auf Tel Aviv am Donnerstagabend befand sich eine ägyptische Delegation im Gazastreifen, um einen langfristigen Waffenstillstand zu vermitteln. Seit dem Beginn der gewaltsamen Gaza-Proteste entlang des Grenzzauns am 30. März 2018 kam es in den vergangenen Monaten immer wieder zu Eskalationen. Im vergangenen Sommer spitzte sich die Lage mehrmals dramatisch zu, ein Krieg konnte aber jedes Mal abgewendet werden. Zuletzt wurden am vergangenen Wochenende Geschosse auf den Süden Israels abgefeuert, die Armee reagierte mit dem Beschuss von Stellungen der radikal-islamischen Palästinenser-Organisation im Gazastreifen. Die Delegation aus Ägypten, die sich um eine Waffenruhe bemüht hatte, verließ nach den Angriffen den Küstenstreifen.

Die bisherigen Reaktionen von israelischer Seite sowie vonseiten der Hamas weisen allerdings darauf hin, dass keiner Interesse an einer ernsthaften Eskalation hat. Israel steckt derzeit mitten im Wahlkampf. Premier Benjamin Netanjahu, der auch Verteidigungsminister seines Landes ist und am Donnerstagabend zu einer Lagebesprechung im Hauptquartier der Armee in Tel Aviv eintraf, stellen Angriffe dieser Art derzeit vor ein Dilemma. Einerseits muss er weniger als einen Monat vor den Wahlen versuchen, einen Krieg zu verhindern. Andererseits gilt es, Stärke zu beweisen, um von den politischen Gegnern nicht als zu schwach kritisiert zu werden.

Diese forderten bereits wenige Stunden nach dem Angriff ein hartes Durchgreifen: Der Co-Anführer der Partei „Die Neue Rechte“, Naftali Bennett, sagte, es sei an der Zeit, die Hamas zu bekämpfen und ihre Anführer zu eliminieren. Bennett war bislang Bildungsminister und hat Ambitionen, nach den Wahlen ins Verteidigungsministerium zu wechseln. Netanjahus größter Rivale, der ehemalige Armeechef Benny Gantz, mahnte in einem Video zur Entschlossenheit und zu entsprechenden Abschreckungsmaßnahmen. Dass das Thema Sicherheit im Wahlkampf nun wieder in den Mittelpunkt rückt, dürfte dem unter Korruptionsverdacht stehenden Netanjahu allerdings nicht ganz ungelegen kommen: Nach einer Anhörung Netanjahus nach der Wahl will der Generalstaatsanwalt offiziell Anklage gegen den Premier in drei Korruptionsfällen einreichen.

Die Gefahr bleibt

Die Hamas wiederum hat derzeit mit innenpolitischen Querelen zu kämpfen und hätte zumindest Interesse an einer Ablenkung von den eigenen Problemen im Küstenstreifen. Am Donnerstag kam es zu Protesten in der Bevölkerung gegen die Lebensbedingungen – Kundgebungen dieser Art sind im Gazastreifen ungewöhnlich und für die Demonstranten nicht ungefährlich. Berichten zufolge lösten Hamas-Leute die Demonstration schnell wieder auf. An einer Eskalation scheint aber auch die Hamas kein Interesse zu haben, da Israel im Kriegsfall die Terrororganisation langfristig schwächen oder gar ganz vernichten könnte.

Die Gefahr einer Eskalation aber bleibt: Auch 2014 kam es zur Operation „Fels in der Brandung“ – obwohl beide Seiten beteuerten, kein Interesse an einem Krieg gehabt zu haben.

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