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Eine Mutter mit einem Baby im Arm legt an der London Bridge Blumen nieder.
© imago/PA Images

Großbritannien und der Anschlag: Keep calm and carry on

Die Briten lassen sich nicht einschüchtern, doch Premierministerin Theresa May muss nach den Anschlägen um ihr Amt bangen. Statt von Trauer wird das Land nun vom Wahlkampf dominiert

Sie haben die Schreie gehört und die Schüsse. Sie beginnen zu laufen. Es ist Samstagabend. Drei Männer stechen im Ausgehviertel in der Nähe vom Borough Market wahllos auf Feiernde ein. Die Menschen rennen aus den Pubs, die Straße hinunter, jemand hält die Szene mit seiner Handykamera fest. Das Foto geht um die Welt, verbreitet sich im Netz: Am rechten Bildrand ist zu sehen, wie sich ein Mann in all dem Chaos die Zeit nimmt, auf der Flucht sein Bier zu retten. Es ist der dritte große Terroranschlag in Großbritannien seit März, aber dieser Mann verschüttet keinen Tropfen aus seinem Pint.

Briten beugen sich dem Terror nicht. So kann man das Bild interpretieren, so wollen es viele Briten verstanden wissen. Die Realität sieht etwas anders aus. Denn wenn auf sein Glas Bier zu achten in Zeiten des Terrors ein Symbol für Coolness und Verhältnismäßigkeit ist, dann hat Premierministerin Theresa May ihres gerade gegen die Wand geworfen und zerbersten lassen. Die Regierungschefin ist kurz vor den Neuwahlen am kommenden Donnerstag, die sie selbst initiiert hat, im Panikmodus. Und sie hat allen Grund dazu.

Um 22.08 Uhr Ortszeit fährt auf der London Bridge ein weißer Lieferwagen mit hoher Geschwindigkeit in Fußgänger hinein, bei der Polizei gehen die ersten Notrufe ein. Der Van rast schließlich gegen einen Zaun an der Southwark Cathedral. Kurz darauf greifen drei Männer mit langen Messern Passanten auf der Südseite der Brücke an. Polizisten töten die Attentäter mit 50 Schüssen. Acht Minuten nach dem ersten Notruf ist alles vorbei. Mehrere Augenzeugen sagten der BBC, die Angreifer hätten „Das ist für Allah“ gerufen. Mittlerweile hat der IS die Tat für sich reklamiert.

Großbritannien, so scheint es, hat keine Zeit innezuhalten. Theresa May schon gar nicht. Obwohl die Parteien einen Wahlkampfstop vereinbart haben, tritt May am Tag nach dem Anschlag vor die Presse und verkündet: „Genug ist genug.“ Der Anti-Terror-Kampf müsse sich nicht nur gegen Gewalt, sondern auch die Ideologie dahinter richten. Sie fordert neue Gesetze zur Internetkontrolle, mehr Befugnisse der Sicherheitskräfte, höhere Strafen auch für kleinere Verbrechen. Terror ist jetzt zentrales Wahlkampfthema und Theresa May hat die Abstimmung über das neue Unterhaus mit Macht auch zu einer Abstimmung über die Frage gemacht, wie liberal oder autoritär Großbritannien in die Zukunft gehen will.

Kampf um das politische Überleben

Für May ist es ein Ringen um ihr politisches Überleben. Nach dem Brexit-Referendum ist ihr Land ohnehin tief gespalten und wendet sich zusehends von den europäischen Partnern ab, während unter Donald Trump immer unberechenbarer wird, wie verlässlich die Allianz mit den USA ist. Innenpolitisch ist sie angeschlagen. Auf Platz vier der britischen Single Charts ist seit Tagen ein Song der Band Captain SKA mit dem Titel „Liar, Liar“. „Sie ist eine Lügnerin, Lügnerin!“, heißt es im Refrain des Liedes, das May vor allem für ihre Sparpolitik kritisiert und dafür, dass sie Politik auf Kosten der Armen mache. Millionen gefällt der Protestsong. Nun drängt sich auch noch immer stärker ein Zusammenhang des Anschlags mit Armut, Vernachlässigung und Spardiktat auf.

Denn mittlerweile hat die Polizei mehrere Verdächtige festgenommen, die in Zusammenhang mit dem Attentat stehen sollen. Spezialeinheiten stürmten Wohnungen in den Londoner Stadtteilen Barking und Newham. Dass sich die Razzien und Festnahmen auf Barking konzentrieren, legt nahe, dass die Angreifer dort gelebt haben und ihr soziales Umfeld dort hatten. Die Gegend ist ein Problemviertel. Bei einer Umfrage vor zwei Jahren, bei der es um die Lebensqualität ging, landete der Londoner Bezirk Barking and Dagenham auf dem letzten Platz.

Die armen Stadtteile im Osten der Stadt sehen meist schon auf den ersten Blick heruntergekommen aus. Anstatt großer Supermärkte gibt es dort oft nur kleine Lebensmittelläden, dazu Geschäfte, die billige Telefonate ins Ausland anbieten und viele Wettbüros. Die Kriminalitätsrate ist hoch. Gewaltverbrechen sind an der Tagesordnung. Eine deutsche Ärztin, die in einer Klinik im nahe gelegenen Leytenstone arbeitet, berichtet von Männern, die bereits mit Anfang 20 sämtliche Zähne verloren haben. Immer wieder treffe sie auch auf Patienten, die erzählten, sie seien noch nie im Zentrum von London gewesen. Dabei dauert eine Fahrt mit der Tube von dort ins Bankenviertel in der City of London gerade einmal 15 Minuten.

Die gravierenden Einschnitte bei den Sozialausgaben seit dem Wahlsieg der Tories 2010 haben die sozialen Missstände in Vierteln wie Barking weiter verschärft. Dort herrscht nun die höchste Arbeitslosenquote in London. Rund ein Drittel der Berufstätigen sind Geringverdiener; mehr als ein Drittel aller Kinder leben in Armut.

Eine weitere Folge der Austeritätspolitik: Die Polizisten verschwanden aus dem Stadtbild. Die Regierung baute in England und Wales rund 20000 Polizeistellen ab. Viele Polizeireviere reduzierten ihre Präsenz auf der Straße deutlich, um ausreichend Beamte für Noteinsätze zu haben.

MI5 führt 500 Ermittlungen

Theresa May war damals noch Innenministerin und hat den Stellenabbau überwacht und befürwortet. Das könnte ihr nun zum Verhängnis werden. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat May wegen des Zustands der Polizei zum Rücktritt aufgefordert. Ihre Erklärung, sie habe dafür sorgen müssen, dass Großbritannien „nicht über seine Verhältnisse lebt“, empört jetzt viele Briten. Mays Tories liegen laut einer Umfrage vom Sonntag nur noch einen Prozentpunkt vor der oppositionellen Labour-Partei, nachdem es kürzlich noch 20 Prozentpunkte waren. Bei Amtsantritt erschien Mays Lage komfortabel: Sie hätte bis 2020 regieren können, nachdem sie Mitte Juli in die Downing Street Number 10 eingezogen war. Zunächst schloss sie Neuwahlen aus; doch die hervorragenden Umfrageergebnisse verleiteten die Konservative zu dem Wunsch, sich ein starkes Mandat für die Mitte Juni formell beginnenden Verhandlungen über den EU-Austritt Großbritanniens zu holen. Nun ist nicht einmal mehr sicher, ob sie Premierministerin bleiben kann.

Nach Angaben der Regierung vereitelten britische Sicherheitsbehörden in den vergangenen vier Jahren 18 geplante Terroranschläge. Der Inlandsgeheimdienst MI5 soll um die 500 Ermittlungen gleichzeitig führen. Jederzeit gibt es den Angaben zufolge bis zu 3000 Menschen, die für den Geheimdienst von besonderem Interesse seien. Experten sprechen von Terrorismus, der im eigenen Land entstanden ist. „Die Hauptbedrohung, der wir momentan gegenüberstehen, scheint nicht aus dem Ausland gesteuert zu sein“, sagt auch die Londoner Polizeichefin Cressida Dick.

Die Identität der Attentäter ist der Polizei offenbar bereits bekannt, hat sie aber bisher nicht veröffentlicht. Einer von ihnen hat britischen Medien zufolge über längere Zeit in Irland gelebt. Bei seiner Leiche sei eine entsprechende Aufenthaltsgenehmigung gefunden worden, berichteten die Nachrichtenagentur PA. Unbestätigten Berichten zufolge wohnte der Terrorist eine Zeit lang in Dublin und war mit einer Frau aus Schottland verheiratet.

Theresa Mays Pläne für eine härtere Anti-Terror-Politik werden auch auf Londons Straßen bereits diskutiert, während schwere Betonblöcke auf den Gehwegen, die Fußgänger schützen sollen, von den Veränderungen zeugen, die die Stadt durchmacht. Im Bankenviertel steht am Montag Maxwell Reynish. „Ich fühle mich durch die angekündigten Maßnahmen nicht sicherer“, sagt er, seine Wahl am Donnerstag beeinflusse es auch nicht. Dennoch scheint May einen Nerv getroffen zu haben. „Mehr Militär auf den Straßen fände ich gut“, sagt der 25-Jährige. Eine Forderung, die noch nicht einmal die Konservativen bisher vorgebracht haben. Doch bis zum Donnerstag ist noch Zeit und der Wahlkampf wird immer skrupelloser geführt.

Nur am Dienstag soll er noch einmal stillstehen. Für eine Minute. Wenn um 11 Uhr Ortszeit landesweit der Opfer gedacht werden soll. Mit Schweigen.

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