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Terrorismus: Kamikaze im Namen Gottes

Als Kampftruppe gegen die sowjetischen Besatzer Afghanistans gegründet, hat sich Al Qaida zu einem global agierenden Terrornetzwerk entwickelt.

Sie haben den Begriff „Terrorismus“ in eine neue Dimension überführt. Archaisch im Ziel, einen Gottesstaat zu errichten, modern in den Methoden, die keine noch so verrückt erscheinende Tat ausschließen. Die Dschihadisten, die sich zu Al Qaida oder einer der verbündeten Gruppierungen bekennen, folgen einer grausigen Logik. „Ihr liebt das Leben, und wir lieben den Tod“, verkündete Abu Dudschan el Afghani, „Militärsprecher der Al Qaida für Europa“, im März 2004 in einem Bekennervideo zu den Anschlägen in Madrid. Zu dieser Mentalität des Zivilisationsbruchs passt, dass die islamistische Terror-Internationale auch bei starker staatlicher und gesellschaftlicher Gegenwehr eher neue Strategien entwirft, als aufzugeben. Die Zahl der Dschihadisten, die dem bewaffneten Kampf abschwören, ist gering. Der islamistische Terrorismus kombiniert entgrenzte Gewalt mit taktischer Flexibilität. Wie das funktioniert, lässt sich anhand der Entwicklungsphasen von Al Qaida erkennen – vor und nach 9/11.

PHASE 1: DER TERROR EXPERIMENTIERT

9/11 wäre beinahe schon achteinhalb Jahre vorher geschehen. Und noch schrecklicher. Eine Gruppe um den Kuwaiter Ramsi Ahmed Youssef stellt am 26. Februar 1993 einen Transporter voller Sprengstoff im unterirdischen Parkhaus des nördlichen Turmes des New Yorker World Trade Centers ab. Die Explosion richtet große Zerstörungen an, sechs Menschen sterben und mehr als 1000 werden verletzt. Doch Youssefs Plan misslingt, den Nordturm in den Südturm stürzen zu lassen, damit das World Trade Center in Manhattan hineinkracht. Sicherheitsexperten schätzen, ein Aufprall der Türme mitten in New York hätte Zehntausenden das Leben gekostet.

Youssef, der 1995 in Pakistan in einem Al-Qaida-Versteck festgenommen und später in den USA zu 240 Jahren Haft verurteilt wurde, ist der Neffe von Khalid Scheich Mohammed, einem der Chefplaner der Anschläge vom 11. September 2001. Mohammed hat vermutlich schon beim Angriff von 1993 mitgewirkt. Neffe und Onkel planten zudem für 1995 die monströse „Operation Bojinka“. Erst sollte ein Selbstmordattentäter den damaligen Papst Johannes Paul II. bei einem Besuch auf den Philippinen töten. Danach wären elf amerikanische Passagiermaschinen auf dem Flug von Asien in die USA entführt und gesprengt worden. Ein weiteres Flugzeug hätte in das Hauptquartier der CIA in Langley im US-Bundesstaat Virginia fliegen sollen. Die zufällige Festnahme eines Komplizen verhinderte die Tat. Doch Mohammed benutzt gemeinsam mit Osama bin Laden den Plan Bojinka als Blaupause für 9/11.

Die 90er Jahre waren für Al Qaida eine Phase des Experimentierens, des Aufbaus und des Zusammenwachsens. Zuvor hatte Osama bin Laden in den 80er Jahren den Kampf der Mudschahedin gegen die Sowjetbesatzer in Afghanistan unterstützt und dazu Al Qaida gegründet. Die Terrorära begann, als bin Laden sich 1990 mit dem saudischen Königshaus zerstritt. Der Al-Qaida-Chef lehnte die Stationierung von US-Soldaten in Saudi-Arabien, dem Land der für Muslime heiligen Orte Mekka und Medina, vehement ab. Die Amerikaner waren gekommen, um Kuwait zu befreien, das die irakische Armee besetzt hatte. Bin Laden ließ sich dann 1992 im Sudan nieder, von wo aus er Anschläge in Auftrag gab. Als er 1996 ausgewiesen wurde, zog er wieder nach Afghanistan. Die Taliban, Brüder im Geiste, hatten große Teile des Landes erobert. Sie machten Afghanistan zur Heimstätte für Terrororganisationen. Für Al Qaida und andere.

Die nächste Phase: Expansion. Weiter auf Seite zwei.

PHASE 2: DER TERROR EXPANDIERT

Im Jahr 1998 gründete Al Qaida mit weiteren Gruppierungen die „Internationale Islamische Front für den Kampf gegen Juden und Kreuzfahrer“. Initiator war auch der Ägypter Aiman as Sawahiri, selbst Chef einer Terrorgruppe und mutmaßlich beteiligt an der Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar as Sadat im Jahr 1981. Schon seit den 80er Jahren war Sawahiri ein Mitstreiter bin Ladens und wurde schließlich sein Stellvertreter. Die beiden entwickelten eine Strategie der Globalisierung des Terrors. Dschihadisten sollten nicht nur die verhassten Regime ihrer Heimatländer bekämpfen, sondern auch die Staaten der Ungläubigen, welche diese Regime unterstützen, allen voran die USA.

Spätestens mit der „Front“ entstand eine neue Form des islamistischen Terrorismus. Zuvor hatten sich militante Organisationen vor allem auf die eigenen Länder konzentriert, den nahen Feind. Nun kam der ferne Feind hinzu. Und das Netz der Dschihadisten wuchs. Allerdings blieben einige Organisationen außen vor. Die Hamas kämpft nur für die „Befreiung“ Palästinas, auch die libanesische Hisbollah hat ihre eigene Agenda. Außerdem ist die schiitische Truppe für sunnitische Extremisten nicht kompatibel.

Die Expansion des sunnitisch-islamistischen Terrors bekamen vor allem die USA zu spüren. Der Anschlag von 1993 in New York war nur der Auftakt. 1998 wurden die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania bei schweren Anschlägen verwüstet. Zwei Jahre später attackierte ein Al-Qaida-Kommando im Hafen der jemenitischen Stadt Aden das Kriegsschiff „USS Cole“.

PHASE 3: DER 11. SEPTEMBER

Der zweite Angriff auf das World Trade Center in New York, kombiniert mit der Attacke auf das Pentagon und dem von Passagieren vereitelten Flug ins Kapitol, gilt als die brutalste Aktion von Terroristen seit dem Zweiten Weltkrieg. Auch zehn Jahre danach ist der Schrecken kaum verhallt. Mehr als 3000 Menschen starben, Tausende wurden verletzt. Die Anschläge mit vier entführten Passagiermaschinen, gesteuert von islamistischen Todespiloten, ist seit den japanischen Kamikaze-Flügen der unfassbare Höhepunkt im Einsatz von Selbstmordkommandos. Drei Piloten waren aus Deutschland gekommen. Mohammed Atta, Marwan al Shehhi und Ziad Jarrah hatten in Hamburg studiert.

Für Al Qaida bedeutete 9/11 den Zenit, aber auch eine tiefe Zäsur. Die USA reagierten auf die Anschläge mit dem Einmarsch in Afghanistan. Die Taliban, Al Qaida und die verbündeten Terrorgruppierungen flohen nach Pakistan oder zogen sich in kaum zugängliche Randgebiete zurück. Die Ära der ungestörten Trainingslager war vorbei. Doch die Dschihadisten waren keineswegs besiegt.

Das Terrornetzwerk verzweigt sich weiter. Experten sprechen von "Franchising". Mehr dazu auf der nächsten Seite.

PHASE 4: DER TERROR VERZWEIGT SICH

Es gelang Al Qaida, den Taliban und anderen Gruppen, sich im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet einen Rückzugsraum zu etablieren, unter dem Schutz schwer bewaffneter Paschtunenstämme – und offenbar auch mit Unterstützung des pakistanischen Geheimdienstes ISI. Von Wasiristan und anderen pakistanischen Regionen aus setzt das Terrorspektrum seine Feldzüge fort. Ein Beispiel ist der Anschlag eines Selbstmordattentäters auf der tunesischen Insel Djerba. Durch die Explosion eines Transporters mit Flüssiggas im April 2002 starben 19 Menschen, darunter 14 deutsche Touristen. Außerdem verüben militante Gruppierungen in anderen Ländern Anschläge, die von Al Qaida inspiriert, aber nicht oder kaum vorbereitet werden. Sicherheitskreise sprechen von „Franchising“: Militante Islamisten agieren auf eigene Faust, nutzen aber Al Qaida als Marke. Oder Al Qaida übernimmt die Verantwortung für Angriffe anderer Terroristen und erteilt so die Lizenz zum Töten. Zu Franchising-Aktionen zählen unter anderem der Doppelanschlag indonesischer Terroristen auf Diskotheken auf der Insel Bali im Oktober 2002 und die Attacken einer multinationalen Truppe auf Vorortzüge in Madrid im März 2004.

PHASE 5: IRAK

Für Osama bin Laden, nach der Flucht aus Afghanistan auf die Rolle eines animierenden Gurus reduziert, war die US-Invasion im Irak ein Geschenk Gottes. „Wir weisen auf die Bedeutung hin, den Feind in einen langen und erschöpfenden Kampf zu ziehen“, verkündete bin Laden schon im Februar 2003, einen Monat vor der Invasion der US-Truppen und ihrer Alliierten. So kam es auch. Nach dem raschen Sieg über Saddam Hussein begann eine Serie schwerer Terrorattacken auf die Amerikaner und ihre westlichen sowie irakischen Verbündeten. Dort erwuchs Al Qaida zudem eine Filiale unter Führung des Jordaniers Abu Mussab as Sarkawi. Sie nennt sich heute hochtrabend „Islamischer Staat Irak“. Sarkawi schloss sich nach seiner Flucht aus Afghanistan Osama bin Laden an und überzog den Irak mit Gewaltexzessen, auch gegen schiitische Muslime. Im Juni 2006 starb der Vasall bin Ladens durch einen Luftschlag der Amerikaner. Es gelang ihnen auch, einen Teil der irakischen Rebellen aus der Terrorfront herauszuziehen. Doch befriedet ist das Land nicht. Im August starben bei einer Serie von Anschlägen mehr als 60 Menschen. Verantwortlich sind vermutlich der Al-Qaida-Ableger oder die verbündete Gruppierung Ansar al Islam.

Berlin erlebt heute, was Experten "homegrown Terrorism" nennen. Lesen Sie mehr darüber auf der nächsten Seite.

PHASE 6: HOMEGROWN TERRORISM

Als sich im Juli 2005 in London vier Selbstmordattentäter in der U-Bahn und in einem Bus in die Luft sprengten, wurde das Entsetzen der Briten noch durch die Erkenntnis gesteigert: es waren welche von uns, „homegrown terrorists“. Die jungen Muslime, drei aus pakistanischen Familien und einer mit jamaikanischem Hintergrund, hatten im Land gelebt und galten als integriert. Dennoch drifteten sie in den Fanatismus ab. Und Al Qaida reklamierte den Angriff für sich.

Auch Deutschland blieb von dem Phänomen nicht verschont. Die Sauerlandgruppe, eine Clique deutscher Konvertiten und türkischstämmiger Muslime, wollte US-Einrichtungen in der Bundesrepublik mit Autobomben angreifen. Die Täter hatten sich in Wasiristan ausbilden lassen, wo sich inzwischen zahlreiche Dschihadisten aus der Bundesrepublik und anderen Ländern aufhalten.

Während es der Polizei gelang, die Sauerlandgruppe rechtzeitig festzusetzen, konnte ein anderer „Homegrown“-Terrorist nicht mehr gestoppt werden. Der in Frankfurt am Main lebende Kosovo-Albaner Arid U. erschoss am 2. März am Flughafen der Stadt zwei US-Soldaten und verletzte zwei weitere schwer. Der Attentäter hatte sich in kurzer Zeit vor allem über das Internet durch den Konsum salafistischer Propaganda radikalisiert. Ohne einer Organisation anzugehören.

Der Fall belegt exemplarisch die Gefahr, die von islamistischer Hetze im World Wide Web ausgeht. Für Al Qaida ist das Internet längst eine Art zweites, virtuelles Standbein neben dem bewaffneten Kampf.

PHASE 7: „INSPIRE“

Ein „mutiger kosovarischer Kämpfer“ habe die zwei US-Soldaten getötet, lobte das Online-Magazin „Inspire“ den Täter Arid U. im März. „Inspire“, in englischer Sprache und optisch wie eine Hochglanzillustrierte präsentiert, ist das Propagandaorgan von „Al Qaida auf der arabischen Halbinsel“ (AQAH). Die vor allem im Jemen agierende Filiale verkörpert gleich mehrere Entwicklungslinien in der Terrororganisation – man könnte auch sagen, ihre Zukunft. Erst recht, nachdem eine US-Spezialeinheit im Mai in der pakistanischen Stadt Abbottabad Osama bin Laden getötet hat.

Anfang 2009 hatten sich „Al Qaida im Jemen“ und saudische Kämpfer zur AQAH vereinigt. Damit setzte sich in der Terrorszene der Trend fort, regionale Gruppen unter einem Al-Qaida-Logo zusammenzufassen, um die eigene Bedeutung zu steigern. Im Jahr 2006 hatte sich bereits die algerische GSPC („Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat“) mit weiteren nordafrikanischen Trupps als „Al Qaida im islamischen Maghreb“ (AQM) präsentiert. Inzwischen bekennt sich auch die somalische Shabbab-Miliz zu Al Qaida. Diese Ableger, das betrifft auch die Filiale im Irak, sind jedoch weitgehend unabhängig von der Zentrale in Pakistan und Afghanistan, die Sicherheitsexperten heute als „Kern-Al-Qaida“ bezeichnen. Daran wird auch der im Terrornetz nur mäßig beliebte Nachfolger Osama bin Ladens, sein Ex-Stellvertreter Aiman as Sawahiri, kaum etwas ändern können.

Vor allem die jemenitische Al Qaida strebt eine Führungsrolle an, indem sie sich als besonders innovativ darstellt. Das betrifft nicht nur die Präsenz im Internet. Die AQAH, die vom Chaos im Jemen profitiert, probiert auch Anschlagsmethoden aus. Sie hatte einen Selbstmordattentäter losgeschickt, der im August 2009 mit Sprengstoff im Körper den saudischen Vizeinnenminister angriff. Auch der nigerianische „Unterhosenbomber“, der sich im Dezember 2009 in einer Passagiermaschine auf dem Flug in die USA in die Luft sprengen wollte, stammte aus den Reihen der AQAH. Und sie war es, die im Oktober 2010 Paketbomben als Frachtgut aufgab, das in Flugzeugen vom Jemen in die USA gebracht werden sollte. Ein Sprengsatz wurde unentdeckt auf dem Flughafen Köln/Bonn umgeladen. Und kürzlich warnten US-Geheimdienste, AQAH wolle Sprengsätze mit einem speziellen Zusatz bauen – dem hochgiftigen Rizin.

Der islamistische Terror nimmt kein Ende. Auch der Tod Osama bin Ladens dämpft den Fanatismus nicht. Offen bleibt, wie sich der Umbruch in der arabischen Welt auf Al Qaida auswirkt. Bislang profitiert die islamistische Terrorszene nur wenig. Das könnte sich ändern, warnen Sicherheitsexperten, wenn die hohen Erwartungen der Bevölkerung an die Demokratie enttäuscht werden. Und was kommt, wenn die westlichen Truppen aus Afghanistan abziehen? Al Qaida und die islamistische Terrorszene überhaupt, so scheint es, bleiben auf unabsehbare Zeit eine globale Gefahr.

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