Brasilien in der Krise: Kalter Putsch
Die alten Eliten des lateinamerikanischen Landes wollen Präsidentin Dilma Rousseff loswerden – mit allen Mitteln. Eine Analyse
Eine Kinderärztin im südbrasilianischen Porto Alegre weigert sich, den Sohn einer Lokalpolitikerin zu behandeln, weil diese der Arbeiterpartei (PT) von Präsidentin Dilma Rousseff angehört. Die Ärztin erhält großen Zuspruch.
In Rio de Janeiro trägt eine 29-Jährige ihr Baby in einem rotem Strampler über die Straße. Ein Motorradfahrer stoppt und beschimpft sie als „Nutte“, die er samt ihrer Tochter erschießen werde. Der Grund: Rot sei die Farbe der Arbeiterpartei.
In São Paulo werden eine Radfahrerin und ein Skateboarder von Anti-Regierungsdemonstranten brutal verprügelt, weil sie aussähen wie „Kommunisten“. Wegen des roten Fahrrads sollten sie sich nach Kuba scheren.
Der Hass sitzt tief
Fast täglich liest oder hört man in Brasilien von solchen Vorfällen. Man überlegt sich, ob man ein rotes T-Shirt anzieht, wenn man in Rios wohlhabende Südzone fährt. Dort lebt die Mehrheit der Regierungsgegner, sie halten sich für das rechtschaffene Brasilien. Üble Streits erlebt man auch auf Facebook und Twitter. Es ist eindeutig, aus welcher Richtung der Hass kommt. Es schreit eine entfesselte Rechte gegen jeden, der im Verdacht steht, Präsidentin Rousseff und die Arbeiterpartei zu unterstützen oder irgendwie ein „Roter“ zu sein: Gewerkschafter, Intellektuelle, Künstler, Aktivisten für die Rechte von Landlosen, Schwarzen, Frauen, Homosexuelle. Und im Parlament? Brüllen Abgeordnete und werden handgreiflich.
Das Land spaltet sich
Brasilien ist nicht wiederzuerkennen. Ein Land spaltet sich, dem einst Harmoniesucht nachgesagt wurde.
Ein Ende der Polarisierung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Täglich erfahren die Brasilianer neue Ungeheuerlichkeiten vom Korruptionsskandal rund um den Erdölkonzern Petrobras. An ihm entzündete sich der Konflikt, seine Untersuchung wird noch lange nicht abgeschlossen sein, er liefert den täglichen Brennstoff.
Zweitens wird sich das vom brasilianischen Parlament eingeleitete Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Rousseff nicht so schnell entscheiden lassen.
Und wie soll es überhaupt danach weitergehen? Das kann keiner beantworten. Brasiliens politisches Personal ist unwillig, über das Tagesgeschäft hinaus zu denken. Es geht ihm mehrheitlich um kurzfristige machtpolitische und damit verbundene finanzielle Interessen.
Es reicht ein rotes T-Shirt, um verprügelt zu werden
Brasilien, siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt, Ausrichter der diesjährigen olympischen Sommerspiele und Anwärter auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat stolpert orientierungslos und aufgeregt durch den Nebel all seiner ungelösten Konflikte und ungeklärten Verfahren. Das Hintergrundrauschen kommt von einer tiefen Wirtschaftskrise.
Für all das wird Präsidentin Dilma Rousseff verantwortlich gemacht. Sie und ihr Vorgänger Lula da Silva haben Brasilien mit vorbildlichen Sozialprogrammen gerechter gemacht. Sie haben jedoch auch Brasiliens Abhängigkeit von Rohstoffexporten vertieft und nichts für die internationale Wettbewerbsfähigkeit getan, sprich Bildung, Sicherheit und Infrastruktur vernachlässigt. Ebenso wurde die Reform des politischen Systems versäumt, das privatwirtschaftliche Wahlkampffinanzierung zulässt – Hauptgrund für die endemische Korruption.
Rousseff soll an allem schuld sein
Rousseffs seit 15 Jahren regierende Arbeiterpartei ist tief in den Petrobras-Skandal verstrickt. Es geht um rund zwei Milliarden Dollar, die systematisch als „Prämien“ an Politiker weitergeleitet wurden, wann immer ein Unternehmen einen Zuliefervertrag von Petrobras bekam. Untersucht werden aber Politiker fast aller Parteien, nicht nur der PT, sondern auch der Opposition und des großen Koalitionspartners PMDB (Partei der Demokratischen Bewegung). Diese hat sich gerade von Rousseff abgesetzt und geriert sich nun als Opposition. Dabei stellt man weiterhin den Vizepräsidenten. Er würde im Falle von Rousseffs Sturz die Macht übernehmen. Tropische Absurditäten.
Die Vorwürfe gegen Rousseff reichen nicht für eine Amtsenthebung, sagen Experten
Zu ihnen zählt auch, dass Dilma Rousseff gar nicht zu den Verdächtigen im Petrobras-Skandal gehört, obwohl einige selbstherrliche Richter in Zusammenarbeit mit dem mächtigen Globo-Medienkonzern alles tun, um diesen Eindruck zu erwecken.
Tatsächlich soll Rousseff wegen fiskalpolitischer Unregelmäßigkeiten abgesetzt werden. Während ihrer ersten Amtszeit wurden Haushaltsausgaben manipuliert. Experten streiten, ob das laut Verfassung für ein Impeachment überhaupt ausreicht. Aber es ist egal. Rousseff soll weg! So wollen es Brasiliens Wirtschaftseliten, Globo und die internationalen Börsen. Ihre Verbündete ist die ressentimentgeladene weiße Oberschicht. Es ist also nicht übertrieben, wenn von einem kalten Putsch die Rede ist. Brasiliens Linke vereint sich hinter dem Begriff. Sie hat zu Recht Angst vor dem Danach. Es wäre ein Präzedenzfall für Lateinamerika. Und Brasilien würde weiter auseinandergerissen. Neuwahlen wären die beste Lösung. Doch die sind in Brasiliens Verfassung nicht so einfach vorgesehen.
Die Ära der linken Regierungen geht zu Ende
Die Ära der linken Regierungen geht in Brasilien und ganz Lateinamerika zu Ende. Dilma Rousseff ist der beste Beweis dafür, sie ist erstarrt und ideenlos. Aber das ist kein Grund für eine Amtsenthebung. Die nächsten Wahlen in Brasilien sind 2018.