Wegen Aufrufen zu Gewalt und Protesten: Justizministerium will Telegram als soziales Netzwerk regulieren
In mehreren Städten Deutschlands hatten am Wochenende wieder Menschen gegen die Corona-Maßnahmen demonstriert. Organisiert über soziale Medien.
Angesichts wiederholter gewalttätiger Zwischenfälle bei den andauernden Protesten gegen die Corona-Maßnahmen warnen Politiker vor einer weiteren Radikalisierung.
Nach den Worten des nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Reul (CDU) instrumentalisieren zunehmend Rechtsextremisten den Protest. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kündigte in diesem Zusammenhang ein härteres Vorgehen gegen den Messengerdienst Telegram an.
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Reul sagte am Sonntagabend bei Bild TV über den extremistischen Teil der Protestierenden: „Die sind brandgefährlich, weil sie mittlerweile nicht nur reden, schwätzen, sich gegenseitig hochstacheln, sondern auch zu Taten schreiten.“
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) sagte der „Bild“-Zeitung: „Unsere Gesellschaft und der Staat müssen den Spaltern und Corona-Hetzern Paroli bieten. Denn am Ende bedrohen sie nicht nur Politiker, sondern uns alle.“ Der thüringische Innenminister Georg Maier (SPD) sagte Bild TV, eine kleine Minderheit werde „immer lauter, immer radikaler“, Rechtsextremisten nutzten das aus.
Bundesinnenministerin Faeser sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe angesichts von Gewaltaufrufen bei Telegram: „Gegen Hetze, Gewalt und Hass im Netz müssen wir entschlossener vorgehen.“ Die Messengerdienste würden derzeit vom Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) nicht erfasst, soweit sie zur Individualkommunikation bestimmt sind.
In Telegram könne man inzwischen aber Nachrichten in öffentlichen Gruppen mit bis zu 200.000 Mitgliedern veröffentlichen, was den Dienst zu einem Netzwerk mache wie Facebook oder Twitter. „Das Bundesamt für Justiz hat gegen Telegram zwei Verfahren wegen Verstoß gegen das NetzDG durchgeführt, auf die Telegram nicht reagiert hat. Das wird diese Bundesregierung so nicht hinnehmen“, sagte Faeser, ohne konkret zu sagen, wie die Regierung vorgehen will.
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Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zeigte sich besorgt, dass die Proteste zunehmen. Auch sei eine Radikalisierung „durchaus spürbar“, sagte die SPD-Politikerin am Sonntagabend in der ZDF-Sendung „Berlin direkt“. Bas forderte ein Verbot von Demonstrationen vor Privathäusern von Politikerinnen und Politikern sowie eine verschärfte Beobachtung von Telegram-Chatgruppen. Über den Messengerdienst vernetzen sich viele Kritiker von Corona-Maßnahmen.
Das Bundesjustizministerium sieht in dem Messengerdienst Telegram ein soziales Netzwerk, das auch als solches reguliert werden soll. Das sagte eine Sprecherin am Montag in Berlin. In der Debatte über die Verbreitung von Hass und Hetze im Internet hatten Bund und Länder Telegram bereits in der vergangenen Woche vorgeworfen, zu wenig gegen Radikalisierungstendenzen seiner Nutzer zu tun.
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Hintergrund ist, dass sich etwa Corona-Leugner über die Plattform in öffentlichen Gruppen mit Tausenden Mitgliedern organisieren. Als soziales Netzwerk ist Telegram verpflichtet, strafbare Inhalte innerhalb von 24 Stunden zu löschen.
Allerdings deutete das Justizministerium an, dass es schwierig ist, ein Unternehmen zu sanktionieren, das seinen Sitz in Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) hat. Das Bundesamt für Justiz habe gegen Telegram bereits zwei Bußgeldverfahren eröffnet, weil es keinen klaren Meldeweg und keinen Verantwortlichen in Deutschland benenne.
Bereits im Mai 2021 sei dem VAE-Außenministerium über die deutsche Botschaft eine sogenannte Verbalnote für das Unternehmen überreicht worden. Beide Bußgeldverfahren befänden sich derzeit im Stadion der Anhörung. „Rechtshilfeverfahren mit VAE können durchaus etwas länger dauern“, fügte die Sprecherin hinzu.
Verletzte bei Protesten gegen Corona-Regeln
In mehreren Städten Deutschlands hatten am Wochenende wieder Menschen gegen die Corona-Maßnahmen demonstriert.
Am Rande von Protesten gegen die Corona-Maßnahmen wurden am Sonntag im bayerischen Schweinfurt zehn Menschen vorläufig festgenommen. Acht von ihnen hätten mit Schlägen und Tritten Beamte attackiert, die ihre Personalien feststellen wollten, teile die Polizei in der Nacht zum Montag mit. Zwei hätten versucht, ein Zivilfahrzeug der Schweinfurter Polizei in Brand zu stecken.
Die Polizei sprach von „in der Hauptsache friedlichen und für polizeiliche Maßnahmen zugänglichen Protestlern“ bei der nicht angemeldeten Versammlung am Sonntag. In der Spitze hätten sich zwischen 1.800 und rund 2.000 Menschen daran beteiligt.
Zum größten Teil seien diese ohne Maske auf zu engem Raum unterwegs gewesen. „Einige Dutzend aufwiegelnde Aggressoren“ hätten immer wieder weiter Gruppen zum Widerstand gegen die Polizei aufgerufen.
In Sachsen stoppte die Polizei am Sonntagabend mehrere Aufzüge von Kritikern der Corona-Schutzmaßnahmen im Vogtland. Am späten Nachmittag hatten sich bis zu 400 Personen an verschiedenen Stellen im Stadtgebiet von Plauen versammelt, wie die Polizeidirektion Zwickau mitteilte. Im vogtländischen Auerbach kamen rund 150 Menschen zu Protesten zusammen.
Knapp 1500 Menschen kamen am Sonntag im thüringischen Gotha zu einer nicht angemeldeten Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen zusammen. Es seien mehrere Straftaten begangen worden, darunter ein Flaschenwurf auf einen Polizisten, teilte die Polizei in der Nacht zum Montag mit. Verletzt worden sei aber niemand.
Darüber hinaus sei gegen das Betäubungsmittel- und Waffengesetz verstoßen worden. Außerdem wurden Zeichen verfassungswidriger Organisationen gezeigt. Auch verstießen die Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmer gegen die Hygieneschutzmaßnahmen, trugen teils keine Masken und hielten Mindestabstände nicht ein. Gegen den mutmaßlichen Versammlungsleiter wurde ein Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet.
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Bereits am Samstag war es im thüringischen Greiz zu den heftigsten Zusammenstößen des Wochenendes gekommen. Dort wurden nach Polizeiangaben 14 Polizisten bei den Protesten verletzt. Nach Aufrufen in sozialen Medien hatten sich dort am Samstag bis zu 1000 Menschen versammelt, wie die Polizei am Sonntag mitteilte. Protestierende versuchten, eine Polizeikette zu durchbrechen. Die Polizei setzte daraufhin Pfefferspray ein.
In auf Twitter verbreiteten Videosequenzen war zu sehen, wie Protestierende mit den Einsatzkräften rangelten, um die Absperrung zu durchbrechen. Ein Fotograf der Deutschen Presse-Agentur vor Ort berichtete von einer aggressiven Stimmung.
Zwei verletzte Polizisten seien vorübergehend nicht mehr dienstfähig, hieß es von der Polizei. Eine verletzte Beamtin sei zeitweilig im Krankenhaus behandelt worden. Die Polizei stellte die Identität von 207 Protestierenden fest, sprach 108 Platzverweise aus und leitete 44 Strafverfahren ein. Zudem liefen 47 Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten.
In Reutlingen (Baden-Württemberg) nahmen am Samstag laut Polizei rund 1500 Menschen an einer Kundgebung unter dem Motto „Für Freiheit, Wahrheit und Selbstbestimmung“ teil. Aufforderungen zum Tragen einer Maske seien ignoriert worden, hieß es. Infolgedessen wurde die Versammlung aufgelöst.
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Eine Gruppe zog laut Polizei dennoch weiter. Dabei zündeten Teilnehmer des Aufzugs vereinzelt Pyrotechnik und Fackeln. Beim Versuch der Polizei, die Versammlung zu stoppen, durchbrachen Teilnehmer nach Polizeiangaben mit Gewalt die Kette der Beamten, so dass diese Pfefferspray und Schlagstöcke einsetzten. Im Laufe des Abends wurden mehrere Strafverfahren wegen tätlichen Angriffs auf Beamte, Beleidigung und versuchter Körperverletzung eingeleitet. Zudem wurden rund 100 Platzverweise erteilt.
Zu Verletzungen kam es auch in Bennewitz nahe Leipzig. Zwei Polizisten sind nach Polizeiangaben am Sonntagvormittag leicht verletzt worden. Auch zwei der Demonstranten hätten leichte Verletzungen davongetragen. Insgesamt hatten sich laut Polizei rund 25 Menschen im Ortsteil Schmölen versammelt. Versammlungen mit mehr als zehn Menschen sind wegen der Corona-Lage in Sachsen derzeit nicht gestattet.
Im sächsischen Plauen stoppte die Polizei am Sonntagabend eine nicht genehmigte Demonstration von mehreren Hundert Menschen. Die Personalien von 226 Teilnehmern wurden aufgenommen. Das Geschehen blieb nach Polizeiangaben friedlich.
Bundespolizei mit emotionalem Appell
An einer verbotenen Demonstration in Frankfurt (Hessen) nahmen am Samstag knapp 100 Menschen teil. Die Polizei löste die Versammlung nach eigenen Angaben auf. Einen nicht angemeldeten Protestmarsch der „Querdenker“-Bewegung gegen die Corona-Regeln mit zeitweise 550 Menschen stoppte die Polizei auch in Hamm (Nordrhein-Westfalen).
Bei dem Aufzug am Samstagnachmittag kam es nach Angaben der Polizei zu vielen Verstößen gegen die Corona-Schutzverordnung und gegen die Allgemeinverfügung der Stadt. Gegen den mutmaßlichen Versammlungsleiter wurde ein Strafverfahren wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz und wegen Beleidigung eingeleitet.
In Hamburg, Trier, Berlin, Schwerin und verschiedenen sachsen-anhaltischen und bayerischen Städten gingen Menschen ebenfalls gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße, es blieb jeweils friedlich. So demonstrierten im Landkreis Dachau am Sonntagabend in zwei Orten insgesamt 750 Menschen. Zu Wochenbeginn erwartet die Polizei in Sachsen-Anhalt nach eigener Aussage wieder zahlreiche Zusammenkünfte mit Corona-Bezug.
Mit einer emotionalen Pressemeldung hat die Bundespolizei in Hannover ihrem Ärger über zahlreiche Verstöße gegen die Maskenpflicht und nervenaufreibende Auseinandersetzungen mit den Ertappten Luft gemacht.
„Wir diskutieren nicht mit euch. Und eure Meinung interessiert uns auch nicht! Bei Verstößen gegen die Corona-Schutzvorschriften erfolgt eine sofortige Anzeige“, heißt es in der Mitteilung vom Sonntag. Und weiter: „Setzt einfach eure Maske auf und erspart uns euren Wohlstandstrotz. Wir haben schon genug zu tun!“
Zuvor hatten Bundespolizisten den eigenen Angaben zufolge allein in der Nacht auf Sonntag 57 Verstöße gegen die Maskenpflicht im Zugverkehr festgestellt, die meisten davon im Hauptbahnhof der niedersächsischen Hauptstadt Hannover. Immer wieder sei es dabei zu aufgeheizten Situationen sowie Widerstandshandlungen gekommen.
Unter anderem sei ein 53-jähriger Mann „sofort aggressiv“ geworden und habe die Beamten dabei mit dem Tod bedroht. Ein 22-Jähriger sei den Polizisten wiederum ständig ins Wort gefallen, habe die Kontrolle abgelehnt und letztlich derart „erheblichen Widerstand“ geleistet, dass er zwangsweise auf die Wache gebracht worden sei.
Auch außerhalb Deutschlands gab es an diesem Wochenende Proteste: In Barcelona beteiligten sich rund 3000 Menschen an einer der in Spanien eher seltenen Demonstrationen gegen Corona-Einschränkungen. Dabei ging es vor allem um die in Katalonien bestehende Pflicht zur Vorlage eines Corona-Passes beim Betreten von Nachtclubs, Discos, Restaurants oder Fitnessclubs. In Österreich kamen am Samstag rund 15.000 Menschen nach Polizeiangaben bei einer Kundgebung auf dem Wiener Heldenplatz zusammen. Der Chef der rechten FPÖ, Herbert Kickl, rief zu Widerstand gegen die ab Februar geplante Impfpflicht auf. (dpa, epd)