BKA-Chef im Porträt: Jörg Ziercke: Eine geballte Ladung BKA
Dem Verbrechen will Jörg Ziercke immer einen Schritt voraus sein. Doch im Fall Edathy haben den Chef des Bundeskriminalamts die Ereignisse überholt. Er kämpft um seinen Posten und den Ruf der Behörde. Am Mittwoch muss er vor dem Innenausschuss des Bundestags Rede und Antwort stehen.
Irgendwann wird es ihm zu viel. Der Grüne Konstantin von Notz löchert ihn mit Fragen, beißt sich in Widersprüchen fest, bohrt nach. Jörg Ziercke, so führt es das Sitzungsprotokoll aus, winkt ab, er ruft etwas dazwischen. "Herr Ziercke, nun seien Sie doch nicht so sensibel", sagt von Notz. Auch Wolfgang Bosbach, einer der erfahrensten deutschen Innenpolitiker, gibt dem Grünen recht. "Das müssen Sie tapfer aushalten. Ich habe schon an Vernehmungen teilgenommen, da sind Zivilisten ganz anders befragt worden von ihren Kollegen. Wir wollen nur den Sachverhalt aufklären", sagt der CDU-Politiker.
Es ist Mittwoch, 19. Februar 2014, Raum 2300 im Paul-Löbe-Haus. Der Innenausschuss tagt. Aber es ist keine normale Sitzung. Es ist eine Art erster Showdown in einer Affäre, die die große Koalition in eine tiefe Krise gestürzt hat. Die Staatsanwaltschaft Hannover hatte gegen den ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy ein Ermittlungsverfahren wegen des möglichen Besitzes von kinderpornografischem Material eröffnet. Das allein ist ein Vorgang. Was sich daran aber anschließt, ist etwas, von dem einige behaupten, es sei eine Staatskrise, in deren Mittelpunkt drei Personen stehen: der ehemalige Innenminister Hans-Peter Friedrich, der SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann – und jetzt der Präsident des Bundeskriminalamtes.
Eine geballte Ladung BKA
Wer mit Jörg Ziercke zu tun hat, trifft auf eine geballte Ladung BKA. Der gebürtige Lübecker ist leidenschaftlicher Polizist, auch jetzt noch, mit 66 Jahren. Ziercke redet meist schnell, er klingt oft ungeduldig. Ziercke spielt gerne sein Wissen aus, er bombardiert Gesprächspartner mit Details, schmückt seine Sätze mit Fakten aus. Der kräftige Mann ist für einen Norddeutschen auffallend offen und offensiv.
Der Ermittler hat eine Mission: Die Bundesrepublik soll gewappnet sein gegen schwere und organisierte Kriminalität, gegen Extremismus und Terrorismus, auch wenn die Verbrechen noch gar nicht geschehen sind. Das Credo des BKA-Chefs lautet, "wir müssen vor die Lage kommen". Die Lage – das ist der Ernstfall. Ziercke hat den Ehrgeiz, den Kriminellen einen Schritt voraus zu sein, ihre Absichten frühzeitig zu erkennen und diese Leute aufzuhalten. Auf diese Maxime hat er das Bundeskriminalamt getrimmt. Doch wo ist er jetzt? Mitten in einer schwierigen Lage.
Der Ermittler hat sich in der Affäre Edathy in zahlreiche Widersprüche verstrickt. Die Opposition hat bereits Zierckes Rücktritt gefordert und möglicherweise wird es bald einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Fall Edathy geben, in dessen Mittelpunkt vor allem das BKA und sein Chef stehen werden. Im Herbst hört Ziercke auf jeden Fall auf, altersbedingt. Ob er bis dahin durchhält? Ungewiss. Es könnte auf jeden Fall ein unrühmlicher Abgang für jenen Ermittler werden, der seit einer Dekade die Geschicke einer der größten Sicherheitsbehörden des Landes verantwortet.
Der Name Edathy fiel angeblich erst spät auf
Der Fall Edathy begann im Oktober 2011. Da bekam das BKA eine Liste der kanadischen Behörden mit 800 deutschen Kunden eines Kinderpornohändlers. 450 Gigabyte Beweismaterial: Namen, Mail-Adressen, Kreditkartennamen befanden sich darauf. Doch, so schilderte es Ziercke vor dem Innenausschuss, kamen seine Mitarbeiter erst im Juli 2012 dazu, das Material zu sichten und zu kategorisieren, weil ein anderes Verfahren Vorrang hatte. Der Name Sebastian Edathy fiel im Sommer 2012 angeblich noch keinem auf.
Das blieb so bis zum 15. Oktober 2013 um 15.21 Uhr. Da meldete sich die Polizeiinspektion Nienburg/Schaumburg beim BKA, um die Ermittler zu informieren, wer Sebastian Edathy ist. Der Chef, Ziercke, wurde davon in Kenntnis gesetzt. Und dann ging alles ganz schnell: Ziercke informierte das Bundesinnenministerium. Die für den ganzen Vorgang zunächst zuständige Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main gab die Order aus, den Fall Edathy vorzuziehen und nach Hannover abzugeben. Was Ziercke aber vor dem Innenausschuss nicht sagte, obwohl er nach weiteren "prominenten" Fällen gefragt worden war: Dass auch ein BKA-Beamter auf der Liste aus Kanada stand und dass man den schon im Januar 2012 entdeckt hatte. Obwohl man doch nach Zierckes Worten die Liste erst im Juli 2012 sichtete.
Jörg Ziercke ist seit 2004 im Amt. Er hat fünf Innenminister erlebt, und wahrscheinlich noch mal so viele Staatssekretäre. Jetzt ist Ziercke dort, wo er so ungern ist: im Hintertreffen. Die Lage hat ihn überholt. Und das nicht zum ersten Mal.
Der Fall Edathy: Und dann ging alles ganz schnell
Da ist der Fall der Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund". Das BKA hatte nicht geahnt, dass die Opfer bei neun der zehn Morde des NSU, Migranten türkischer und griechischer Herkunft, ein Hinweis auf ein rassistisches Tatmotiv sein könnten. Als der NSU im November 2011 aufflog, wollte Ziercke, so geschockt wie das ganze Land, wenigstens bei der Aufklärung schnell sein. Und wurde dann Opfer seiner Ungeduld. Keine drei Wochen später präsentierte der BKA-Chef seine Theorie, der Mordanschlag auf die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn könnte eine "Beziehungstat" gewesen sein. Kiesewetter stammte aus Thüringen, in ihrem Heimatdorf gab es rechtsextreme Umtriebe, Ziercke vermutete einen Zusammenhang. Der BKA-Chef intonierte seine Vermutung so forsch, dass sie fast nach einer Gewissheit klang. Doch die Bundesanwaltschaft sah den Fall Kiesewetter bald anders und geht bis heute davon aus, dass die NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt 2007 zufällig auf die Polizistin und ihren Kollegen stießen. Zierckes Ansehen war gleich zweifach angekratzt. Erst waren der BKA-Präsident und seine Behörde der Terrorzelle nicht auf die Spur gekommen, dann wurden offenbar noch voreilige Schlüsse gezogen. Harte Zeiten für den Perfektionisten Ziercke.
Einer wie er resigniert aber nicht. Das BKA trug mit gewaltigem Aufwand eine solche Masse an Indizien und Beweisen zusammen, dass die Bundesanwaltschaft sich traute, Beate Zschäpe mit der schwerstmöglichen Anklage zu konfrontieren – Mittäterschaft bei allen Verbrechen des NSU. Sollte das Oberlandesgericht München Zschäpe dafür verurteilen, wäre das auch ein Erfolg für Ziercke.
Hoch gepokert und gewonnen
Und er hat sich in einem anderen, auch hochgradig brisanten Fall nicht gescheut, ein großes Risiko einzugehen. Nachdem das BKA wieder einmal nicht "vor die Lage" gekommen war. Am 31. Juli 2006 hatten zwei junge Islamisten am Kölner Bahnhof in zwei Regionalzügen je eine Kofferbombe abgelegt. Polizei und Nachrichtendienste waren ahnungslos. Nur dank einer technischen Panne explodierten die Sprengsätze nicht. Zweieinhalb Wochen nach dem Beinahe-Anschlag wandte sich Ziercke an die Medien. Der BKA-Chef zeigte Videobilder, auf denen die beiden Libanesen auf dem Bahnhof zu sehen waren. Wenige Stunden später wurde einer der beiden in Kiel festgenommen. Der zweite stellte sich einige Tage später den Behörden im Libanon. Ziercke hatte hoch gepokert. Und gewonnen. Wäre in Kiel der Islamist entkommen, hätte sich der BKA-Präsident vorhalten lassen müssen, mit der öffentlichen Fahndung den Attentäter gewarnt zu haben.
Mit fast schon missionarischem Eifer stritt Ziercke für die Online-Durchsuchung. Bundestag und Bundesrat beschlossen 2008 ein BKA-Gesetz, das Zierckes Forderungen weitgehend erfüllt. Doch das reichte ihm nicht. Während der schwarz-gelben Koalition warb er gegen den Widerstand der FDP für die Vorratsdatenspeicherung, die 2010 vom Bundesverfassungsgericht gekippt worden war. Auch den Kampf gegen Kinderpornografie zieht er als Argument heran. Ziercke sieht sich als Mahner und Antreiber für die innere Sicherheit Deutschlands. Mit kräftiger Stimme, festem Blick, die Lesebrille knapp über der Nasenspitze, spricht er - einem Prediger gleich. Fast jede Rede ist eine Salve von Warnrufen. Terror! Banden! Rocker! Phishing! Skimming! Kinderpornos! Eher ruhige Innenminister wie Thomas de Maizière und Hans-Peter Friedrich wirken neben ihm fast schon blass. Mit Ziercke hat es kein Minister leicht.
Erst recht, wenn der BKA-Präsident sich übergangen fühlt. Als de Maizière Ende 2010 vorschlug, BKA und Bundespolizei zusammenzulegen, kritisierte Ziercke den Minister intern hart. Das trauen sich nur wenige Beamte, doch Ziercke konnte es sich leisten. Er hatte sein Haus und die Länderinnenminister auf seiner Seite. Die Fusion fiel aus.
de Maizière und Ziercke treffen erneut aufeinander
Thomas de Maizière wird es nicht vergessen haben. Vielleicht waren die Reibereien mit Ziercke auch ein Grund dafür, dass de Maizière 2013 lieber im Verteidigungsressort geblieben wäre. Als er wieder Innenminister wurde, bekam er es erneut mit Ziercke zu tun. Und das Erste, was er jetzt in der Affäre Edathy tun musste: Ziercke sein Vertrauen aussprechen.
Ziercke hat die Pensionsgrenze bereits überschritten. Doch de Maizières Vorgänger Friedrich verlängerte 2012 seine Amtszeit um zwei Jahre. Während der NSU-Ermittlungen war Kontinuität an der Spitze des BKA wichtiger. Obwohl in CDU und CSU schon lange gegrummelt wird, dass auf Ziercke endlich ein Unionsmann folgen könne.
Zierckes Zeit läuft in diesem Jahr unwiderruflich ab. Ob er nun wegen der Edathy-Affäre vorzeitig gehen muss oder nicht, spätestens im Herbst ist Schluss. Wer nachfolgt, ist offen. Sein größtes Plus derzeit ist die schwierige Suche nach einem Nachfolger. Zuletzt ging das Gerücht um, der CDU-Abgeordnete Clemens Binninger würde neuer Chef in Wiesbaden. Fachlich geeignet dürfte der frühere Polizist aus Baden-Württemberg sein, außerdem machte er als Obmann der Unionsfraktion im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages eine gute Figur. Doch Binninger ist seit Januar Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums, das die Nachrichtendienste des Bundes überwacht.
Ziercke bleibt vorerst im Fokus. Um eine Sondersitzung des Innenausschusses kam er vergangene Woche herum. Was allerdings weniger daran lag, dass man ihn schützen wollte, als vielmehr am Karneval. Am Mittwoch - zur regulären Innenausschusssitzung - wird er wieder antreten, Rede und Antwort stehen müssen. Er muss zeigen, ob er noch Herr der Lage ist.
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