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Beim "Sturm auf das Kapitol" trugen Anhänger von Donald Trump die Fahne der Konföderierten mit sich, der Südstaaten, die im amerikanischen Bürgerkrieg für die Fortsetzung der Sklaverei kämpften.
© Shannon Stapleton/REUTERS

US-Präsident löst Geschichtskommission auf: Joe Biden und der kalte Bürgerkrieg

Biden hat ein von Trump eingesetztes Beratergremium aufgelöst. Ein Historiker erklärt, warum das eine seiner ersten Amtshandlungen war. Ein Gastbeitrag.

Mischa Honeck ist Professor für die Geschichte Großbritanniens und Nordamerikas an der Universität Kassel.                         

Das liberale Amerika atmete auf, als Joe Biden bereits in den ersten Stunden nach seiner Vereidigung die politische Kehrtwende einläutete. Per Dekret rechnete der neue Präsident mit der Politik seines Vorgängers ab.

Ganz oben auf Bidens Liste standen bekannte Vorhaben wie die Rückkehr zum Pariser Klimaabkommen oder der Baustopp der Grenzmauer zu Mexiko. Mit einem weiteren Federstrich liquidierte Biden die vor gerade einmal drei Monaten etablierte 1776-Kommission, einem Beratergremium, das der Forderung Donald Trumps nach einem „patriotischen Geschichtsunterricht“ an allen Schulen des Landes Nachdruck verleihen sollte.

Man mag sich wundern, dass in Krisenzeiten die Auflösung einer halbprominenten Gelehrtenrunde zu den ersten Amtshandlungen der neuen Regierung gehörte. Für die Beteiligten steht jedoch Grundsätzliches auf dem Spiel. Wer sind wir? Wie wurden wir zu dem, was wir sind? Kann Geschichte eine gespaltene Nation heilen? Wenn ja, welche historische Erzählung ist dazu überhaupt in der Lage?

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Beobachter sehen im Historienstreit der vergangenen Wochen eine neue Qualität des Kulturkampfes zwischen dem konservativen und progressiven Teil der USA, der inzwischen Züge eines kalten Bürgerkrieges aufweist. Der Gründungsanlass der 1776-Kommission scheint dieses Narrativ zu bestätigen.

Als „linksradikale Propaganda“ beschimpfte der republikanische Senator aus Arkansas Tom Cotton das Pulitzer-Preis-gekrönte „1619 Project“ der New York Times, das die Journalistin Nikole Hannah-Jones vor zwei Jahren ins Leben rief, um die 400-jährige Leidensgeschichte der Afroamerikaner ins Zentrum der historischen Selbstvergewisserung der Nation zu rücken.

Für Trumps Anhänger war die 1776-Kommission ein Akt der patriotischen Notwehr

Dieser Paradigmenwechsel trieb die Chefideologen der „Make America Great Again“-Fraktion auf die Barrikaden. So begrüßte im November 2020 die nationale republikanische Frauenorganisation die Einrichtung der 1776-Kommission als Akt der patriotischen Notwehr. Die liberale Dominanz in den Medien und an den Universitäten führe doch dazu, dass im Geschichtsunterricht Scham statt Stolz zur emotionalen Leitwährung werde.

Wo bleiben Vaterlandsliebe und nationale Zusammengehörigkeit? Bereitet die Erosion jener vermeintlich uramerikanischen Tugenden der Aussöhnung der verfeindeten Lager ein Ende, noch bevor sie beginnt? Anständige Leute auf beiden Seiten, könnte man meinen, würde man die Anliegen der nicht mehr ganz so jungen Neuen Rechten auf diesen Nenner reduzieren.

Die Geschichte des "Whitewashing" der US-Geschichte ist lang

Diese Lesart ist aus zwei Gründen hochproblematisch. Zum einen vernebelt sie die lange Tradition des „Whitewashing“ in der US-amerikanischen Geschichtskultur – einer Schönfärbung der eigenen Vergangenheit, die mit viel Pathos die Heldentaten tugendhaft- draufgängerischer, zumeist angelsächsischer Männer zu einem Narrativ nationaler Größe verschmilzt. Dass dieses Weißwaschen der Herrschaftslogik des weißen Nationalismus entspringt, zeigte bereits vor mehr als hundert Jahren der Konflikt um das Erbe des Amerikanischen Bürgerkrieges.

Kritik an Sklaverei und Segregation waren im weißen Amerika, in dem nach 1900 sogar Denkmäler für abtrünnige Konföderierte errichtet wurden, verpönt. Den Forschungen des afroamerikanischen Soziologen W.E.B. Du Bois, der die demokratische Pionierarbeit der schwarzen Bevölkerung des Südens nach 1865 würdigte, wurde wenig Gehör geschenkt. Stattdessen verharmlosten Historiker wie Ullrich Bonnett Philipps und William Dunning die Gewalt an Afroamerikanern und feierten das Ende der Rekonstruktionsperiode als notwendigen Schritt zur Versöhnung zwischen Nord- und Südstaaten.

Die Geschichtsklitterung ging so weit, dass Versklavte zu Übeltäter umgedeutet wurden

Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die rassistische Geschichtsklitterung im Jahr 1915 mit dem Stummfilm Birth of a Nation, der den Ku-Klux-Klan verherrlichte und die ehemals Versklavten zu Übeltätern umdeutete. Selbst der Mann im Weißen Haus beteiligte sich an den Lobeshymnen. „Schrecklich wahr“ und „Geschichte, wie mit dem Blitz geschrieben,“ soll Woodrow Wilson nach einer Privatvorführung gesagt haben.

Vom rassistischen Konsens der Jahrhundertwende führte der Weg zur Konsensschule der Jahrhundertmitte, die sich in den Fünfzigern den Anstrich einer antitotalitären Geschichtswissenschaft gab. In den weltanschaulichen Großkonflikten des 20. Jahrhunderts war moralische Schützenhilfe gefragt. Führende Vertreter der Historikerzunft lieferten sie, indem es die identitätsstiftende Kraft der universellen Freiheitsideen von 1776 betonten. Die Schurken hießen Hitler und Stalin, nicht John C. Calhoun oder Andrew Jackson. Wer sich dennoch mit den Verbrechen der Sklaverei oder den Gewaltexzessen an den nordamerikanischen Ureinwohnern beschäftigte, bewegte sich an der Grenze zum Vaterlandsverrat.

In der Zeit des Kalten Krieges wurden kritische Historiker als Kommunisten diffamiert

Die Wenigen, die es wagten, unter ihnen der afroamerikanische Historiker John Hope Franklin und sein jüdischer Kollege Herbert Aptheker, wurden zur Zielscheibe antikommunistischer Hetze. Bezeichnenderweise war es die Intervention eines ausländischen Wissenschaftlers, die an den Grundfesten der Weißwäscher-Erzählung rüttelte. In seiner international beachteten Studie An American Dilemma beschrieb der schwedische Ökonom Gunnar Myrdal 1944 die Rassentrennung als Bremsklotz am Bein des amerikanischen Fortschrittsversprechens. Myrdals Einfluss reichte bis in die höchsten Ebenen des US-amerikanischen Justizsystems. Der Oberste Gerichtshof zitierte Myrdals Werk 1956 in seiner Entscheidung, die Segregation an öffentlichen Schulen für verfassungswidrig zu erklären.

In den 60er Jahren brachte die Bürgerrechtsbewegung eine Wende 

Knapp vierzig Jahre später fiel der erste Schuss der aktuellen Geschichtskriege. Mit den sozialen Aufbrüchen der Sechziger Jahre änderten sich auch langsam die Kräfteverhältnisse an den Universitäten. Inspiriert von der Bürgerrechtsbewegung entwarf eine Gruppe um den Revolutionshistoriker Gary Nash 1994 ein ambitioniertes Lehrplankonzept für den Geschichtsunterricht an den Grundschulen und High Schools, das die historischen Erlebniswelten benachteiligter Gruppen in den Kanon der US-amerikanischen Geschichtspädagogik aufnahm. Für Konservative waren Nashs „National History Standards“ ein rotes Tuch.

Angeführt von Lynne Cheney, der Ehefrau des späteren Vizepräsidenten Dick Cheney, starteten die Gegner der Standards eine furiose Pressekampagne, die viele der Anschuldigungen der 1776-Kommission vorwegnahm. Linke Historiker wie Nash, so der Vorwurf, huldigten dem Goldenen Kalb des Multikulturalismus und opferten die Erfolgsgeschichte der USA auf dem Altar der politischen Korrektheit. Die Medienschelte zeigte Wirkung: Der Senat in Washington lehnte die Standards mit nur einer Gegenstimme ab. Die Weißwäscher konnten einen wichtigen Sieg verbuchen.

Der "1776 Report" ist Ausdruck eines peinlichen Rückzugsgefechts 

Doch die Suche nach einer pluralistischen Geschichte, die den diversen Erfahrungsräumen einer multiethnischen Demokratie gerecht wird, ließ sich nicht mehr aufhalten. Gerade unter den jungen Menschen, die nach dem Tod George Floyds im vergangenen Jahr zu Hunderttausenden auf die Straße gingen, ist die Zustimmung zu einer inklusiveren, bunteren, ja auch manchmal unbehaglicheren Geschichte überwältigend. Blickt man dagegen vom Höhenkamm der heutigen Forschung auf den von der Kommission verfassten „1776 Report“, vermag man nicht viel mehr als ein peinliches Rückzugsgefecht erkennen.

Hier tritt das zweite Problem jener Kommentatoren zutage, die von einem fairen Wettbewerb zweier Denkschulen sprechen. Es ist der eklatante wissenschaftliche Regelbruch, der das Vorgehen von Trumps Weißwäschern kennzeichnet. Ihr propagandistisches Pamphlet enthält keine einzige Fußnote. Hinzu kommt, dass sich unter den Autoren kein einziger professioneller Historiker befindet. Selten fiel die Reaktion der ehrwürdigen, für ihre Überparteilichkeit geschätzte American Historical Association, des ältesten Historikerverbands der USA, so heftig aus. Vollgestopft mit „Falschheiten, Ungenauigkeiten, Auslassungen und irreführender Aussagen“ mache der Bericht aus Geschichte eine Karikatur und „aus historischer Ignoranz eine Bürgertugend.“ Trumps Präsidentschaft, so könnte man mit einer Prise Sarkasmus resümieren, hatte ihren logischen Endpunkt erreicht: von Fake News zu Fake History.

Auch ohne die 1776-Kommission wird das reaktionäre Geschichtsbild Abnehmer finden

Die 1776-Kommission mag ein kurzlebiger Spuk gewesen sein. Ihr reaktionäres Geschichtsbild wird jedoch genügend Abnehmer finden. Bildungspolitik ist in den Vereinigten Staaten die Sache der Bundestaaten und der Kommunen; das gilt nicht zuletzt für die Frage, welche Lehrbücher im Geschichtsunterricht zum Einsatz kommen. In republikanischen Hochburgen werden die Schulbehörden weiter an der weißgewaschenen Nationalgeschichte festhalten, und ihre erzkonservativen Fürsprecher im Kongress werden weiter die kritische Befragung der eigene Vergangenheit mit Gehirnwäsche gleichsetzen. Es bleibt zu hoffen, dass sich in der kränkelnden US-amerikanischen Demokratie eine Haltung durchsetzt, wie sie die junge afroamerikanische Lyrikerin Amanda Gorman bei der Amtseinführung Joe Bidens so bewegend artikulierte: „Denn Amerikaner zu sein ist mehr als ein Stolz, den wir erben. Es ist die Vergangenheit, in die wir treten, und wie wir sie reparieren.“ 

Mischa Honeck

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