Global Challenges: Joe Biden und das Ende der europäischen Ausreden
Mit dem neuen US-Präsidenten wird es für Europa anstrengender. Dennoch kann der alte Kontinent sich freuen, dass die USA sich Richtung Pazifik orientieren. Ein Gastbeitrag.
Das deutsch-amerikanische Verhältnis war zuletzt so schlecht wie nie zuvor – und zwar nicht nur wegen des irrlichternden Präsidenten Donald Trump. Die Eintrübung ist vielmehr auch darauf zurückzuführen, dass sich die geopolitische Lage seit dem Ende des Kalten Krieges fundamental geändert hat: Nicht mehr die UdSSR oder Russland verkörpern die strategische Herausforderung der USA, sondern die aufstrebende Weltmacht China. Der Indopazifik hat den Atlantik als zentrale Wirtschaftsachse abgelöst. 600 Jahre der Europazentriertheit Amerikas sind definitiv zu Ende.
Deshalb setzte schon lange vor Trump eine Prioritätenverschiebung der USA zu Lasten Europas ein. Zum Teil hat der Konflikt zwischen Deutschland und Europa auf dieser Seite des Atlantiks und den USA auf der anderen also nichts damit zu tun, ob der amerikanische Präsident nun Donald Trump oder Joe Biden heißt. Es geht stattdessen zunehmend um unterschiedliche Ausgangslagen und Interessen. Die entscheidende Frage lautet: Gibt es zwischen den USA und Europa noch ausreichend große Schnittmengen? Oder wird sich der Graben weiter vertiefen.
Natürlich haben Trump und die radikalisierten Republikaner massiv zur Beschädigung des transatlantischen Verhältnisses beigetragen. Trump ist der erste US-Präsident, der meinte, auf Allianzen und Partnerschaften verzichten zu können. Das ist erstaunlich, weil die Fähigkeit, Allianzen als Multiplikator globaler amerikanischer Macht zu bilden, den zentralen Unterschied zwischen den USA und anderen Großmächten markiert. Weder China noch Russland haben Alliierte oder Partner, sie kennen nur Abhängige. Doch aus Trumps Perspektive machen die „großen Jungs“ mit bilateralen Deals Weltpolitik.
So ähnlich dürften auch Chinas Führer Xi Jinping und Russlands Präsident Wladimir Putin die Welt sehen. Ihnen schwebt eine Art „Jalta 2.0“ vor, wo die Starken wie einst 1945 die Welt unter sich aufteilen. Für Europa bliebe nur die Rolle des folgsamen Knappen. In dieser „darwinistischen“ Sicht liegt ein wesentlicher Grund für die Spaltung zwischen Europa und den USA in den vergangenen vier Jahren: Trumps Auffassung, nur die Stärksten dürften in der weltpolitischen Arena die Spielregeln bestimmen, steht der europäischen Sicht diametral entgegen. Auf dem alten Kontinent gilt trotz ebenfalls unübersehbarer autoritärer Tendenzen die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren.
Unter dem demokratischen Präsident Biden werden die transatlantischen Konflikte schon wegen der unterschiedlichen Interessen nicht verschwinden. Mit Blick auf China, Russland, Verteidigungsausgaben und Handelskonflikte gibt es keine großen Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern. Die Hoffnung vieler Europäer, mit Biden kämen „die guten alten Zeiten“ zurück, ist illusionär. Dennoch eröffnet sich mit ihm die Chance, alte Allianzen zu erneuern. Das wird den Europäern aber viel abverlangen, denn das frühere transatlantische Bündnis war für uns sehr bequem. Wir konnten uns auf uns selbst konzentrieren – für den Rest der Welt hatten wir die USA.
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Diese Zeiten sind vorbei. Auch unter Biden wird die US-Politik sich mehr pazifisch und weniger europäisch orientieren. Was dabei meist übersehen wird: Die Konzentration der USA auf den Indopazifik ist im europäischen Interesse, weil dort nur die USA für eine geopolitische Balance mit China sorgen können. Wir Europäer können das nicht.
Aber wir werden das im Nahen Osten und in Afrika entstehende Vakuum füllen müssen, dass der Rückzug der USA in diesen Regionen hinterlässt. Bislang agieren hier alle möglichen Kräfte – Russland, Iran, die Türkei oder die Vereinigten Arabischen Emirate; nur wir Europäer nicht. Das sollte sich ändern, Europa muss hier eine Machtprojektion entwickeln.
Die Frage ist: Welche Vorteile hat die Partnerschaft mit der EU für die USA?
Das soll nicht heißen, dass wir überall militärisch auftreten müssen, aber ohne militärische Machtprojektion bleibt man politisch einflusslos. Tatsächlich werden unsere Herausforderungen also größer, als sie in der Vergangenheit waren. Mit einem US-Präsidenten Biden haben wir keine Ausrede mehr, warum wir uns nicht mehr anstrengen. Die vergangenen vier Jahre waren auch noch aus einem weiteren Grund sehr bequem. Wir hatten für alles einen Schuldigen: Donald Trump.
Europa ist aufgerufen, wirtschaftlich, technologisch, politisch und auch militärisch mehr Gewicht in die geopolitische Waagschale zu werfen. Denn auch ein europafreundlicherer US-Präsident wird sich fragen, welche Vorteile eine Partnerschaft ihm eigentlich bringt. Diese Frage sollte Europa als Chance begreifen. Biden und sein designierter Außenminister Tony Blinken haben versichert, die Allianzen und Partnerschaften der USA wieder revitalisieren zu wollen – nicht aus transatlantischer Sentimentalität, sondern weil sie wissen, dass Trumps Spiel „Bowling alone“ die Interessen der USA gefährdet. Beide wollen die internationale Kooperation stärken, weil sie die Vereinigten Staaten stärken wollen – nicht zuletzt gegenüber China.
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Warum sollte man jetzt also nicht eine transatlantische Debatte darüber starten, wie wir wachsende Ungleichheit, Hunger und Armut zurückdrängen und der Globalisierung soziale und ökologische Regeln geben können? Gemeinsame Initiativen im Klimaschutz und bei der Entwicklung der Wasserstofftechnologie könnten helfen, den Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2 zu entschärfen. Warum kein abgestimmtes Angebot von den USA und Europa zur chinesischen Seidenstraßeninitiative an die Länder Zentralasiens und Afrikas? Nicht zuletzt gibt es mit Biden neue Chancen, den digitalen Märkten wirksame Regeln zu geben und sie endlich angemessen an der Finanzierung des Gemeinwohls zu beteiligen.
Der bald 78-jährige Biden, dessen innenpolitischer Spielraum wegen der Polarisierung der US-Gesellschaft begrenzt sein dürfte und der für völkerrechtlich bindende Verträge eine nicht absehbare Zweidrittelmehrheit im Senat benötigte, wird schon jetzt als „Übergangspräsident“ bezeichnet.
Es ist wie bei reißenden Flüssen: Man braucht für die Querung Geländekenntnisse
Aber ehrlich gesagt brauchen die USA jetzt genau das: Einen Präsidenten, der sein Land beim Übergang in eine geopolitisch, ökonomisch und auch ökologisch völlig veränderte Welt begleitet und führt. Das wäre das glatte Gegenteil von Trumps illusionärem Angebot einer Rückkehr in die Vergangenheit.
Die Demokraten müssen nun unter Beweis stellen, dass sie den Übergang für eine möglichst große Mehrheit der Bevölkerung wirtschaftlich, sozial, ökologisch und geopolitisch besser gestalten können. Es ist wie bei reißenden Flüssen: Man braucht gute Geländekenntnis und muss die eigenen Stärken und Schwächen richtig einschätzen, um die beste Durchquerung zu finden. Das ist eine schwierige Aufgabe, für die man Erfahrung, Empathie und Courage benötigt. Präsident Joe Biden hat diese Eigenschaften. Es werden also spannende Jahre für Europa und die USA.