Kirchentag in Stuttgart: Joachim Gauck: Wachstum ist nichts Menschenfeindliches
Auf dem Kirchentag in Stuttgart streitet Bundespräsident Joachim Gauck mit dem Jenaer Soziologen Hartmut Rosa über Wettbewerb und den Sinn des Wachstums.
Kirchentage sind Foren, auf denen die ganz großen Fragen verhandelt werden. Wie kann man gut und sogar klug leben?, steht an diesem Donnerstagmittag in der Schleyer-Halle auf dem Programm. Bundespräsident Joachim Gauck soll Antworten geben. Aber erst einmal spricht der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa. Mit seiner Gesellschaftskritik heizt er den 10 000 Christen so gründlich ein – wie in der Nachbarhalle die Lobpreisgruppe den frommen Pietisten.
„Wir leben auf rutschenden Abhängen“, sagt Rosa. Statt der Verheißung der Moderne, frei und selbstbestimmt leben zu können, hätten die Menschen „die Ausweitung der Kampfzone“ bekommen. Schuld daran seien Wachstumsdenken, Beschleunigung und Wettbewerb. Was eigentlich nur als Mittel zum Erreichen von Wohlstand, Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten gedacht gewesen sei, sei nun zum Selbstzweck geworden. Alles und jedes werde der Wachstumsdynamik unterstellt. „Wir rennen unentwegt“, sagt Rosa. „Aber wir rennen keinem Ziel entgegen, sondern nur noch, um der Krise zu entkommen.“ Das mache Menschen psychisch kaputt und ohnmächtig. Auch die Politik hechele nur noch der Wachstumsrhetorik hinterher. Strukturzwänge würden als Sachzwänge deklariert und als alternativlos hingestellt. Das sei bei Gerhard Schröders „Basta“-Politik so gewesen. Das sei bei Merkels „Alternativlos“-Politik genauso. Rosas Sätze sprechen vielen Kirchentagsbesuchern aus dem Herzen. Sein Vortrag wird von Wellen des Jubels begleitet.
Bundespräsident Gauck machen Rosas Sätze wütend. „Ich hätte von einem Soziologen etwas anderes erwartet als so viel angstmachendes Dunkel“, sagt er. Die westliche Welt sei mitnichten düster, Wettbewerb und Wachstum seien auch nichts Menschenfeindliches, sondern gehörten zum Menschsein dazu. Rosa bemühe die Angst als eine Attitüde. Härter kann man einen Wissenschaftler nicht angehen. Rosa liefere mit seiner negativen Sicht Menschen einen Vorwand, sich ohnmächtig zu fühlen und nichts mehr zu tun. Das sei gefährlich. Die Gesellschaft lebe vom Engagement der Bürger.
In der Porsche-Arena nebenan predigen Pastoren der „Lebendigen Gemeinde“, dass es sowieso keinen Sinn hat, sich allzu sehr aufs Hier und Jetzt einzulassen. „Gesellschaften und Kulturen ändern sich. Klug ist, wer sein Glück auf Jesus Christus aufbaut“, predigt eine Theologieprofessorin. In der „Lebendigen Gemeinde“ versammeln sich die Pietisten der württembergischen Landeskirche. Sie sind frommer und entschiedener als viele andere Protestanten und haben im Rahmen des Kirchentags ihren eigenen „Christustag“ organisiert. Debatten übers Wirtschaftswachstum gibt es hier nicht. Umso mehr wird gebetet, gesungen und gepriesen. Sieht so die Flucht aus der Wirklichkeit aus?
„Die Menschen sind oft sehr egoistisch, das Leben ist selten nett“, sagt eine 40-jährige Stuttgarterin. „Jesus Christus hilft mir, das alles zu ertragen.“
Ertragen ist zu wenig, scheint ihr Gauck von nebenan zuzurufen. „Ihr seid nicht ohnmächtig!“, ermutigt der Bundespräsident. „Ihr habt so viel Freiheit, Rechtssicherheit und Gestaltungsmöglichkeiten wie nie zuvor!“ Auch Gauck bekommt nun Applaus. Als Pfarrer fühle er sich Hartmut Rosa nah, gibt Gauck zu. Er predige ja selbst gern prophetisch und gesellschaftskritisch. Doch die theologische Dimension der Erlösung sei etwas anderes als die menschliche Dimension des Machbaren. Flucht ist für Gauck keine Alternative. Auch nicht die Flucht in die Wohlfühlzone des Religiösen.