Unwiderstehliche NS-Vergleiche: Jana aus Kassel und die lange Kette absurder Analogien
Der inflationäre Rückgriff auf Lehren aus der NS-Zeit hat aus der Erinnerung an die Vergangenheit einen Steinbruch gemacht. Jeder bedient sich. Ein Kommentar
Von dem Publizisten und Aphoristiker Johannes Gross stammt der Satz: „Je länger das Dritte Reich tot ist, um so stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.“ Das jüngste Beispiel lieferte am Samstag eine junge Frau in Hannover. Sie trat bei einer „Querdenken“-Kundgebung auf und stellte sich als Jana aus Kassel vor.
„Ich fühle mich wie Sophie Scholl“, sagte sie, „da ich seit Monaten aktiv im Widerstand bin.“ Die Geschwister Scholl gehörten zur Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ und wurden im Februar 1943 vom NS-Regime hingerichtet.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Nun weiß jeder, dass Vergleiche mit der Zeit des „Dritten Reiches“ zwar nie gut ausgehen, aber unwiderstehlich bleiben. Für Helmut Kohl war Michail Gorbatschow wie Goebbels, für Willy Brandt war Heiner Geißler wie Goebbels, für die „Monitor“-Redaktion redet Thüringens AfD-Chef Björn Höcke wie Goebbels. Herta Däubler-Gmelin verglich George W. Bush mit Hitler, Roland Koch sprach von einer „neuen Form von Stern an der Brust“, als es um die Vermögensteuer ging. Jana aus Kassel ist ein weiteres Glied in der langen Kette absurder Analogien.
Folglich ließen sich ihre Worte durch Ignoranz bestrafen – oder aber durch Intervention des Bundesaußenministers aufwerten. Genau das tat Heiko Maas. Wer sich heute mit Sophie Scholl vergleiche, verhöhne den Mut, den es brauchte, Haltung gegen Nazis zu zeigen, twitterte er. „Nichts verbindet Coronaproteste mit Widerstandskämpfer*Innen. Nichts!“
Joschka Fischer und der Kosovokrieg
Heiko Maas wird wissen, dass die Berufung auf Auschwitz besonders im linksliberalen Milieu gang und gäbe ist. Einer seiner Vorgänger, der Grüne Joschka Fischer, legitimierte im Mai 1999 den ersten deutschen Kriegseinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg – die Nato-Intervention im Kosovo – mit einer Lehre aus der deutschen Geschichte. Nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, das gehöre für ihn zusammen, sagte Fischer.
Heiko Maas wird sich auch an die Massenproteste gegen die Volkszählung in den 1980er Jahren erinnern. Viele wetterten gegen einen „allmächtigen Spitzel- und Überwachungsstaat“, begleitet von mahnenden Rekursen auf die Gestapo-Zeit.
Heiko Maas blieb stumm, als die Organisation „Pro Asyl“ im Juli 2018 einen direkten Vergleich zog zwischen der Konferenz von Evian im Sommer 1938 – auf der 32 Staaten ergebnislos über die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge und Verfolgter des Nazi-Regimes berieten –, und dem EU-Flüchtlingsgipfel in Brüssel 80 Jahre später. Die EU-Staaten, so heißt es bei „Pro Asyl“, würden ein „ grenzenlos-brutales System“ ausklügeln, „das die Drangsalierungen und Auflagen, denen die Nazi-Verfolgten in ihren Asylländern ausgesetzt waren, an Härte, bürokratischer Kontrolle, Undurchdringlichkeit und Demütigung bei Weitem übertrifft".
Oskar Schindler und die Flüchtlinge
Und warum wittert Heiko Maas keine unzulässige Instrumentalisierung der Vergangenheit, wenn aus Kreisen der Evangelischen Kirche (EKD) an das Wirken von Oskar Schindler erinnert wird, um zu begründen, warum im Mittelmeer ein eigenes Schiff zur Rettung von Flüchtlingen betrieben wird?
Der Verdacht drängt sich auf, dass es dem Bundesaußenminister nicht in erster Linie um die oft politisch motivierte Vereinnahmung der deutschen Vergangenheit geht. Ihn ärgert vor allem, dass sich dieser Strategie inzwischen auch rechte Politiker und Gegner der Anti-Corona-Maßnahmen bedienen. Der inflationäre Rückgriff auf angebliche Lehren aus der NS-Zeit hat aus der Erinnerung an die Vergangenheit einen Steinbruch gemacht, den inzwischen alle ausbeuten. Jana aus Kassel wird leider nicht die letzte gewesen sein.