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Gewinnend. Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern.
© Marty MELVILLE/AFP

Neuseelands Premierministerin: Jacinda Ardern – die Inselbegabung

Glamour, Nachhaltigkeit und ein Ende neoliberaler Politik: Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern erfindet die Sozialdemokratie neu. Es hat seinen Preis. Ein Porträt.

Kindness. Ein Wort, das schwer zu übersetzen ist. Eine genaue Entsprechung im Deutschen fehlt, Freundlichkeit trifft es nicht ganz. Will man kindness erleben, muss man vielleicht an diesem Freitagmorgen im Mai dabei zusehen, wie die Frau, der so viele Menschen über die Krankenhausflure des North Shore Hospital folgen, ein Krankenzimmer betritt. Darin eine Patientin, herzkrank und alt.

„Ich bin's nur“, sagt die Besucherin, und sofort heben die Menschen, die hinter ihr stehen, die Mikrofone in die Luft. Die Patientin sieht verunsichert aus. „Sind nur ein paar Freunde von mir“, sagt die Besucherin und schickt ein großes, weites Lächeln in den Raum. Kurz darauf sitzt die Premierministerin Neuseelands auf der Bettkante der kranken Frau und hält ihre Hand, so als würde hier eine Nichte ihre alte Tante besuchen.

Sie wolle kindness zurück in die Politik bringen, hat Jacinda Ardern am Tag ihrer Vereidigung im vergangenen Oktober gesagt. Kurz vor Arderns Besuch im North Shore Hospital nahe Auckland verkündete ihre Regierung den neuen Haushaltsplan. Mit einem Finanzzuschuss von mehreren Milliarden Neuseeland-Dollars ist das Gesundheitssystem der Gewinner des Budgets – und auch Ardern, Chefin der neuseeländischen Labour-Partei, ist eine Gewinnerin.

Gerade in Europa, wo Sozialdemokraten nur noch in fünf von 28 EU-Staaten an der Regierung beteiligt sind, wird sie als Heldin gefeiert. „Wir hoffen auf Inspiration. Du bist ein Vorbild“, sagte der ehemalige SPD-Bundesvorsitzende Kurt Beck, als Ardern auf ihrer Deutschlandreise im April die Friedrich-Ebert-Stiftung besuchte. Auf die Frage, wie sich die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert neu erfinden könne, sagte Ardern: „Wir sind positiv und wir haben einen Plan.“

Mit 37 Jahren ist Jacinda Ardern nicht nur die jüngste Ministerpräsidentin in Neuseelands Geschichte, drei Monate nach der Vereidigung verkündete sie, dass sie schwanger ist. Am 21. Juni ist ihre Tochter geboren worden. Damit ist sie nach Benazir Bhutto aus Pakistan die zweite Staatschefin weltweit, die während der Amtszeit Mutter wird. Jacinda Ardern trinkt gern Whiskey, manchmal legt sie als DJ auf. Nach ihrer Inauguration spielte die neuseeländische Band Fat Freddy's Drop vor dem Parlament. Als sie die Queen besuchte, trug Ardern einen kahu huruhu, den traditionellen Federmantel der Maori, des indigenen Volks Neuseelands.

Die Modezeitschrift Vogue brachte kürzlich eine Geschichte mit glamourösen Fotos der Premierministerin, ihr Lebensgefährte Clarke Gayford hat eine beliebte Fernsehsendung übers Fischen mit dem Titel „Fish of the day“. Beide haben das Zeug zum It-Couple, auch durch ihre Social-Media-Präsenz. „Ab welchem Alter ist es nicht mehr zulässig, nackt durch den Rasensprenger zu laufen? Frage für einen Freund“, twitterte Gayford neulich. Ein anderes Mal postete er bei Instagram ein Foto, das zeigt, wie er bei einer Angelexpedition einen Hai mit einer Stange abwehren musste. Über ihre Schwangerschaft hat Ardern die Menschen ebenfalls via Instagram informiert – mit einem Foto, das zwei große und einen kleinen Angelhaken zeigte.

Mit 28 war sie jüngste Abgeordnete

So viel zu den launigen Oberflächlichkeiten, die manchmal darüber hinwegtäuschen, dass man es hier mit einer Frau zu tun hat, die es sehr ernst meint mit ihren politischen Ambitionen. Mit 17 trat Ardern der Labour-Partei bei. Sie studierte Politikwissenschaften und PR an der Universität Waikato, arbeitete für die ehemalige neuseeländische Premierministerin Helen Clarke genauso wie 2006 in einer New Yorker Suppenküche und wurde mit 28 Jahren die damals jüngste Abgeordnete im neuseeländischen Parlament. Ihr erklärtes Ziel: Kinderarmut bekämpfen.

Neuseeland ist ein Land mit einer starken sozialdemokratischen Tradition. 1856 gegründet, galt der kleine Pazifikstaat schon bald als Musterbeispiel eines Wohlfahrtsstaats. Noch im 19. Jahrhundert wurden Acht-Stunden-Tag, Mindestlohn und Altersversorgung eingeführt. Der amerikanische Sozialreformer Frank Parsons nannte Neuseeland den „Geburtsort des 20. Jahrhunderts“, der deutsche Sozialwissenschaftler Alfred Manes sprach von einem „Land der sozialen Wunder“, Politiker und Forscher in der ganzen Welt bezeichneten den kleinen isolierten Pazifikstaat als Laboratorium der Welt. Mehr als 100 Jahre später ist Neuseeland zwar eins der reichsten Länder der Erde, zugleich leben fast ein Drittel der Kinder in Armut, Gewalt in Familien ist weit verbreitet und das Land weist von allen OECD-Staaten die höchste Selbstmordrate unter Jugendlichen auf.

Wenn Ardern darüber spricht, dass sie diese Missstände beseitigen will, lässt sie es klingen, als seien sie Folgen der neoliberalen Politik der National Party, die neun Jahre lang an der Macht war. Tatsächlich war es eine Labour-Regierung, die den neuseeländischen Wohlfahrtsstaat in den 80ern in einer Weise umbaute, die radikaler nicht hätte sein können. Die Kontrolle über Mieten, Löhne und Preise wurde aufgegeben, Landwirte verloren jegliche Förderung. Bahn, Post und Banken wurden verkauft und nahezu alle staatlichen psychiatrischen Kliniken geschlossen, der Universitätsbesuch deutlich teurer.

Die internationale Gemeinschaft betrachtete das Experiment voller Interesse. Die „Financial Times“ sprach von einer „Blaupause für den schrumpfenden Staat“, der US-amerikanische Politiker Newt Gingrich schickte in den 90ern eine Delegation nach Neuseeland, die sich genau anschauen sollte, wie das geht mit der Deregulierung.

Ardern hält nun dagegen: Ihre Regierung hat ein kostenfreies erstes Studienjahr eingeführt. Stellt Geld für die Verbesserung von frühkindlichen Hilfen bereit. In Zukunft sollen schon Dreijährige psychologisch betreut werden, wenn im Kindergarten Verhaltensauffälligkeiten festgestellt werden. Schulen in einkommensschwachen Gegenden bekommen medizinische Fachkräfte, welche die Kinder direkt in der Schule versorgen, falls die Eltern gesundheitliche Belange vernachlässigen. „Ich will, dass mein Kind in 20 oder 30 Jahren zurückschaut und das, was ich getan habe, positiv bewertet“, sagt Ardern.

Im Krankenhaus geht sie nun weiter zur nächsten Patientin, wieder eine alte Frau, die allerdings bald entlassen wird. „Wer kümmert sich um dich, wenn du nach Hause gehst?“, fragt Ardern. Die Frau hat einen Mann. Und Ardern eine Idee: „Häng eine Glocke über dein Bett, und wenn du ihn brauchst, klingelst du.“

Ihr Vater war Polizist, aber kein Hardliner

Ardern ist in Murupara und Morrinsville aufgewachsen, kleine Orte auf der Nordinsel, wo das Geld bei vielen knapp ist. Ihr Vater war Polizist, aber kein Hardliner, eher Typ Sozialarbeiter. Seine Haltung habe sie geprägt, sagt sie, genau wie die Kinder, die ohne Schuhe und mit leeren Brotboxen in die Schule kamen. Ein ehemaliger Mitschüler sagt, Ardern sei immer engagiert gewesen. Sie saß im Schülerparlament, kämpfte dafür, dass auch Schülerinnen Hosen tragen dürfen und organisierte beim Schulball Busse für alle, die Alkohol getrunken hatten. Sie selbst fuhr um zwei Uhr nachts noch einmal los, um sicherzustellen, dass jeder wohlbehalten nach Hause kam.

Ardern trank an diesem Abend nicht, weil sie in einer mormonischen Familie aufwuchs. Als sie Anfang 20 mit drei schwulen Freunden in eine WG zog, verließ sie die Mormonen aufgrund deren ablehnenden Haltung gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe. Ansonsten, sagte sie in einem Interview, sei es eine Religionsgemeinschaft, die viel Wert auf kindness lege.

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Da ist es wieder, dieses Wort, das Arderns Stil als Premierministerin prägt. Dass sie diesen Posten so bald innehaben würde, ahnte Ardern vor einem Jahr noch nicht. Sie war gerade überraschend stellvertretende Parteivorsitzende geworden, da rief sie der damalige Labour-Chef Andrew Little zu sich. Es war der 26. Juli, Arderns Geburtstag, bis zu den Wahlen blieben noch drei Monate, und Labour schwächelte. Little fragte, ob sie übernehmen wolle. Ardern sagte Nein. Tag für Tag habe er sie aufs Neue gefragt, erzählt sie später, aber sie habe immer wieder Nein gesagt.

In Interviews hat Ardern immer wieder sehr offen darüber gesprochen, dass sie sich für so eine Spitzenposition eigentlich nicht eigne.

„Ich mache mir ständig Sorgen, einen Fehler zu machen. Ich hasse es, Menschen zu enttäuschen.“ Und wenn man so veranlagt sei, seien bestimmte Jobs nicht das Richtige.

Ihrer Partei konnte sie keinen größeren Gefallen erweisen als am 1. August schließlich doch Ja zu Littles Angebot zu sagen. Binnen eines Monats legte Labour um 19 Punkte zu.

Für eine Mehrheit reichte es bei der Wahl im September trotzdem nicht. Die konservative National Party kam auf 56 Sitze, Labour nur auf 46 Punkte. Acht Sitze gingen an die Grünen und neun an New Zealand First. Auf New Zealand First kam es an. Würden sie die National Party oder Labour unterstützen?

"Ministerin für Kinderarmutsreduktion"

New Zealand First ist eine rechtskonservative Partei. Ihr Chef Winston Peters lehnt Zuwanderung ab. Immer wieder warnt er davor, dass Neuseeland durch Migranten aus China zu einer asiatischen Kolonie werde. Auch syrische Männer, hat er gesagt, sollten lieber zu Hause bleiben und kämpfen.

In Deutschland wären die Fronten damit klar. Mit so einem wie Peters würde keine Sozialdemokratin, die etwas auf sich hält, verhandeln. In Neuseeland sind die Verhältnisse anders. Winston Peters hat noch einen zweiten Namen, er heißt Winitana Pita. Sein Vater war Maori. Die indigene Bevölkerung Neuseelands hat viele Diskriminierungen erfahren. Und die Labour-Partei teilt die Sorge vor zu vielen Migranten. „Tatsache ist“, schrieb der vormalige Labour-Chef Andrew Little in einem Gastbeitrag in einer Zeitung, „dass unsere Infrastruktur und unsere öffentlichen Dienstleistungen nicht mit den Rekordzahlen von Menschen mithalten können, die ins Land kommen. Wir brauchen eine Atempause.“

Und so verhandelte Jacinda Ardern mit Winston Peters. 26 Tage lang. Bot ihm nicht nur den Posten des Außenministers an, sondern versprach ihm auch, dass er Vizepremier werden würde. Seine Antwort erfuhr Ardern aus dem Fernsehen. Nicht ihr, sondern Reportern verkündete Peters die Entscheidung, Ardern zu unterstützen. „Der Kapitalismus muss sein menschliches Antlitz zurückgewinnen“, sagte er.

Nun führt Ardern eine Koalition von Sozialdemokraten, Grünen und Rechtskonservativen an. Sich selbst hat sie den sperrigen Zusatztitel „Ministerin für Kinderarmutsreduktion“ gegeben. In den nächsten drei Jahren will sie 70.000 Kinder aus der Armut holen. Ansonsten steht die Koalition für den Neubau von Häusern, eine Erhöhung des Mindestlohns und eine Verschärfung der Einwanderungsbestimmungen. Für Klimaflüchtlinge von den pazifischen Inseln soll eine Quote eingeführt werden.

Mutter der Nation: Jacinda Ardern mit Tochter und Mann Clarke Gayford.
Mutter der Nation: Jacinda Ardern mit Tochter und Mann Clarke Gayford.
© Ross Land/REUTERS

Jetzt, in ihrer Babypause, vertritt Winston Peters sie. Doch Ardern hat bereits verkündet, dass sie die Regierungsgeschäfte nach sechs Wochen wieder übernehmen will. Ihr Lebensgefährte wird sich um die gemeinsame Tochter kümmern. Als Barack Obama im März nach Neuseeland kam, hat sie ihn, wie sie später erzählte, um Rat gebeten, wie man mit dem schlechten Gewissen als viel beschäftigtes Elternteil klarkommt. Gib dein Bestes, sagte er.

Für Ardern gibt es in den nächsten Monaten viel zu tun. Derzeit arbeitet ihr Team an einer grundlegenden Reform der Art, mit der Länder sich Jahr für Jahr selbst vermessen. Von der Fixierung auf monetäre Indikatoren wie Bruttoinlandsprodukt will die neuseeländische Regierung wegkommen – zugunsten von Messungen des subjektiven Wohlbefindens. Herkömmliche Wachstumsparadigmen erscheinen ihr nicht mehr zeitgemäß. Neuseeland wäre das erste Land, das diesen Schritt geht, den Experten wie Christine Lagarde und Joseph Stiglitz schon lange fordern. Auch Nachhaltigkeitsindizes sollen eine Rolle spielen.

Neuseeland gilt vielen als Paradies

Den Klimaschutz hat Ardern bereits im Wahlkampf auf die Agenda gesetzt – viel mehr, als das Sozialdemokraten sonst tun. Neuseeland gilt vielen als Paradies, ein Drittel des Landes steht unter Naturschutz, der Rotomairewhenua – ein See auf der Südinsel – erhält regelmäßig den Preis für das klarste Gewässer der Welt. Dem Whanganui River wurden im vergangenen Jahr die juristischen Rechte einer Person zugesprochen, grundsätzlich könnten seine Treuhänder – ein Regierungsvertreter und ein Maori – gegen etwaige Verschmutzungen gerichtlich vorgehen.

Zugleich fordert der Aufstieg Neuseelands zum größten Milchexporteur der Welt, bedingt durch die starke Nachfrage aus China, seinen Tribut. Inzwischen gibt es in dem Land mit den 4,7 Millionen Einwohnern 6,6 Millionen Kühe, die nicht nur einen erheblichen Anteil an Neuseelands Treibhausgas-Emissionen verursachen, sondern auch die Gewässer zerstören. Durch den nitrathaltigen Urin kommt es zum Wuchs von giftigen Algen in Seen und Flüssen, die dem Wasser wiederum den Sauerstoff entziehen. 60 Prozent der neuseeländischen Gewässer sind inzwischen so verschmutzt, dass man nicht mehr in ihnen schwimmen darf. Drei Viertel der einheimischen Süßwasserfische sind bedroht.

Bei ihrem Vortrag vor der Friedrich-Ebert-Stiftung hat Ardern darüber gesprochen, dass es in der Politik nicht mehr ausreiche, ad hoc auf Notlagen zu reagieren, sondern man Veränderungen langfristig antizipieren müsse. „Die Menschen müssen sehen, dass wir einen Plan haben.“ Also schmiedet Ardern Pläne.

Bis 2050, hat die Regierung beschlossen, soll Neuseeland CO2-neutral sein. Außerdem werden keine neuen Genehmigungen für Erdöl- und Erdgasbohrungen vor der Küste erteilt. In den Tagen nach dem Besuch im Krankenhaus fährt Ardern auf einen Bauernhof und schließlich weiter nach Taranaki, wo viele Menschen von der Erdöl- und Erdgasindustrie leben. Dort will sie mit kindness für ihre Pläne werben.

Bevor sie das Krankenhaus verlässt, spricht Jacinda Ardern noch mit einem Apotheker, der ein System entwickelt hat, mit dem das Risiko von Dosierungsfehlern minimiert werden soll. „Bist du nicht der Apotheker, von dem mir meine Schwägerin erzählt hat?“, fragt sie ihn. Neuseeland sei anders, hat sie in ihrer Rede vor der Friedrich-Ebert-Stiftung gesagt. Einzigartig, weil geografisch isoliert und so klein. Vielleicht deshalb dazu prädestiniert, dass Menschen aufeinander achtgeben und solidarisch sind.

Das Foto, das die Premierministerin bei Instagram postete, um die Geburt ihres Babys mitzuteilen, zeigt sie und ihren Lebensgefährten im Krankenhaus, die kleinen Finger der Tochter greifen nach ihren. Darunter steht: „Willkommen in unserem Dorf, Kleines.“ Der zweite Name ihrer Tochter lautet Te Aroha. Das ist Te Reo, die Sprache der Maori, und heißt Liebe.

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