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Die BDS-Bewegung sei nicht das große Problem, finden unsere Gastautoren, die werde viel zu wichtig genommen. Auch vom Bundestag.
© imago/Stefan Zeitz

Kampf gegen Antisemitismus: Ja, aber nicht mit Instrumentalisierungen!

Wer und was ist gemeint, wenn es um Antisemitismus geht? Statt die Rechten in den Fokus zu nehmen, wird lieber auf Muslime und Linke gezeigt. Ein fataler Irrweg. Ein Gastbeitrag.

- Shimon Stein war Israels Botschafter (2001-2007) und ist zurzeit Senior Fellow am Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) an der Universität Tel Aviv. Moshe Zimmermann ist Professor emeritus an der Hebräischen Universität, Jerusalem.

Das Wort Antisemitismus ist überall präsent. Seit dem Angriff auf die Synagoge in Halle vor zwei Monaten wird in Deutschland dem Antisemitismus nachdrücklich der Kampf angesagt. „Wir dulden keinen Rassismus und keinen Antisemitismus“, versprach die Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch in Auschwitz Anfang Dezember. Es sei die Pflicht der gesamten Gesellschaft, sich dem „ideologischen Gift des Antisemitismus und Rassismus“ entschlossen zu widersetzen, beteuerte zwei Wochen darauf der Bundespräsident in seiner Rede am Gemeindetag des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Klare Worte. Und doch, wie soll der normale Staatsbürger, der sich dem Kampf gegen den Antisemitismus anschließen möchte, diese Parolen in Praxis umsetzen?

Halle war ein klarer Fall

Um in diesem Kampf den Holzweg zu vermeiden, sind zuerst mal die Antworten auf zwei Fragen erforderlich. Erstens: Worum geht es konkret, wenn man über Antisemitismus spricht? Und zweitens: Wer sind die Antisemiten, die man bekämpfen muss? Denn Antisemitismus ohne Antisemiten gäbe es nicht.

Halle war ein klarer Fall. Ein erklärter Antisemit, ein Rechtsextremist, entschied sich aufgrund von antisemitischen Vorurteilen, Juden ermorden zu wollen, weil er „die Juden“ für Schädlinge hält. Doch zeigt die Verwirrung in der gegenwärtigen Antisemitismusdebatte, dass dieser Fall in seiner Eindeutigkeit eher die Ausnahme ist. Beim Versuch, zwischen antisemitischen und nicht-antisemitischen Haltungen die richtige Grenze zu ziehen, muss auch der breitere Kontext - Rassismus, Vorurteile, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit - berücksichtigt und auch deshalb mit Grauzonen gerechnet werden. Dabei sollte uns die seit 2016 geltende breitgefasste Definition von Antisemitismus der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) Klarheit verschaffen. Ihr zufolge stützt Antisemitismus sich auf drei Grundpfeiler: den „klassischen“, den sekundären, wenn etwa der Holocaust geleugnet wird, und zuletzt den auf Israel bezogenen.

"Israelbezogener" Antisemitismus

Während über die ersten zwei Antisemitismusvarianten weitgehend Klarheit besteht, bleibt die dritte Variante problematisch. Dass - anders als im modernen Fußball - beim Thema Antisemitismus die Technik fehlt, um über „Abseits oder nicht?“ entscheiden zu können, zeigt sich hier besonders deutlich. Auch weil die Variante „israelbezogener Antisemitismus“ in der jetzigen Debatte an Volumen stark zugenommen hat.

Dabei geht es hier nicht um eindeutige Fälle, in denen antisemitische Israel-Stereotype verwendet werden oder wenn das Recht von Juden auf nationale Selbstbestimmung ignoriert wird. Zur Verwirrung trägt besonders die Tatsache bei, dass es in der Antisemitismusdebatte nicht immer wirklich um die Bekämpfung der Judenfeindschaft geht, stattdessen wird unter dem Banner ein Stellvertreterkrieg ausgetragen. Dafür wird die sogenannte „Antisemitismuskeule“ gezückt, mit der man seinen Gegenspieler auf Umwegen zu treffen gedenkt. Und nicht nur im Fall der AfD und nicht nur in Deutschland ist die „philosemitische“ Haltung, vor allem als „Israelfreundlichkeit“ ausgedrückt, ein Mittel, um „die Muslime“ oder „die Linken“ oder andere zu treffen.

Aber gerade weil der Antisemitismus eine echte Gefahr ist, ist es wichtig, diese Instrumentalisierung zu meiden, denn sie lenkt vom eigentlichen Kampf ab. Wie gesagt: kein Antisemitismus ohne Antisemiten. Auch hier führt der Stellvertreterkrieg in die Irre. Und irregeführt ist nicht nur das durchschnittliche Zeitungspublikum - sondern auch die Politik.

Auch der Bundestag nimmt die BDS-Bewegung zu wichtig

Das zeigt sich in Deutschland unter anderem in dem Antisemitismusbekämpfungsbeschluss des Bundestags von Mitte Mai 2019 und in Frankreich in einem Anfang Dezember 2019 verabschiedeten Gesetz und auch in Donald Trumps Antisemitismus-Executive-Order (Erlass), ebenfalls aus dem Dezember. Alle drei Initiativen richten die volle Wucht des Wunsches, Antisemitismus zu bekämpfen, nicht nur gegen den Antizionismus, sondern ausdrücklich gegen die eher marginale Bewegung BDS (Boycott, Divestment, Sanctions) beziehungsweise gegen Kritiker der israelischen Besatzungspolitik. Nun wird niemand bestreiten, dass es Antisemitismus auch auf dem linken Flügel oder unter Muslimen gibt und dass von der BDS-Bewegung oft antisemitische Äußerungen zu hören sind, aber - und Halle war der Weckruf - der Blick soll sich vornehmlich auf die rechte Seite richten. Mit Blick auf Linke oder Muslime von den Hauptverdächtigen abzulenken schadet dem gesamten Kampf gegen Antisemitismus.

Das israelische Ministerium für strategische Angelegenheiten trägt mit seiner Auslandstätigkeit ebenfalls zu dessen Instrumentalisierung bei. Im September vergangenen Jahres schreibt es in seinem Bericht mit dem Titel „Hinter der Maske“: „Dieser Bericht soll zeigen, dass die BDS-Bewegung durch ihre Kampagne zur Delegitimierung Israels einen wichtigen Beitrag zum zeitgenössischen Antisemitismus leistet.“ (Link zum Bericht)Auch im genannten Bundestagsbeschluss, der den Titel „Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten - Antisemitismus bekämpfen“ trägt, wird eine unangebrachte Anspielung auf die NS-Vergangenheit instrumentalisiert, wenn es dort heißt: ,„Don't Buy-Aufkleber der BDS-Bewegung auf israelischen Produkten wecken unweigerlich Assoziationen zu der NS-Parole ,Kauft nicht bei Juden!“

Sinnlose jährliche Antisemiten-Listen

Noch perfider geht es bei den Befürwortern der Siedlungspolitik in der Westbank zu: Das Verlangen nach einem Stopp dieser Politik wird von ihnen als Zustimmung zur NS-Idee von „judenreinen“ Gebiete gebrandmarkt. Alle diese Beispiele sind unter dem Dach des „israelbezogenen Antisemitismus“ zu finden. Solche schiefen Formeln haben in Deutschland eine starke Wirkung und tragen umso mehr zur Banalisierung des Problems des Antisemitismus bei, was aufs Schärfste zu verurteilen ist.

Die Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs findet sich auch auf Namenslisten. Auf der jährlich erscheinenden „Liste der zehn schlimmsten Antisemiten des Jahres“ des Simon-Wiesenthal-Centers ist 2019 der deutsche UN-Botschafter Christoph Heusgen zu finden, der für „antiisraelische“ Vorlagen gestimmt hat. Das, nachdem 2017 auf der Simon-Wiesenthal-Liste bereits der Name des Regierenden Bürgermeisters von Berlin stand, weil er angeblich nicht entschieden gegen die BDS-Bewegung vorging. Solche „Abschusslisten“ dienen gewiss nicht dem Kampf gegen Antisemitismus, sondern befördern umgekehrt dessen Bagatellisierung.

Im Streit ums Jüdische Museum Berlin wird instrumentalisiert

Und nicht nur das Wiesenthal-Center schickt die Normalbürger auf solche Irrwege. So ließ sich kürzlich in den Feuilletons deutscher Zeitungen erfahren, dass eine weitere Quelle des Übels Peter Schäfer, der zurückgetretene Direktor des Jüdischen Museums in Berlin (JMB) sei, der es zugelassen habe, dass dort auch Ideen zum Ausdruck gebracht werden, die nicht im Einklang mit der in Israel bzw. unter manche Diasporajuden herrschenden Geschichtsinterpretation stehen. Die Zeitungsleser erfuhren, dass hinter der „Unterwanderung“ des JMB Wissenschaftler des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung stehen, die den Antisemitismus - als wäre das methodologisch unzulässig - auch mit anderen gruppenverachtenden Vorurteilen, insbesondere der Islamophobie vergleichen.

Keine Art von Bekämpfung des Antisemitismus kann kontraproduktiver sein. Die unscharfe Definition, die Blindheit auf dem rechten Auge und nicht zuletzt der Missbrauch dieses Kampfes für fremde Zwecke lenkt vom eigentlichen Ziel ab und wird am Ende zum Bumerang. Der Hirtenjunge, der zu oft grundlos um Hilfe rief, wurde bekanntermaßen mitsamt seinen Schafen vom Wolf gefressen.

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