Grenzkontrollen wegen Flüchtlingen: Ist die Reisefreiheit in Europa in Gefahr?
Deutschland hat angesichts der weiterhin großen Zahl einreisender Flüchtlinge wieder Grenzkontrollen aufgenommen. Das Schengen-Abkommen erlaubt das vorübergehend.
An der Grenze zwischen Deutschland und Österreich finden wieder Personenkontrollen statt. Die Entscheidung der Bundesregierung, von einer Ausnahmeregelung des Schengener Abkommens Gebrauch zu machen, soll unter anderem dazu dienen, Flüchtlinge bereits an der Grenze zu registrieren und die bayerische Landeshauptstadt München bei der Aufnahme der Asylbewerber zu entlasten. Den Autofahrern, die an der deutsch-österreichischen Grenze im Stau stehen, führen die Kontrollen aber gleichzeitig den Wert des Schengen-Abkommens vor Augen.
Was ist das Schengen-Abkommen?
„Schengen“ steht für ein Europa ohne Grenzkontrollen. Im Jahr 1985 vereinbarten Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten im luxemburgischen Moseldorf Schengen, schrittweise die Grenzkontrollen zwischen den fünf EU-Staaten abzubauen. Zehn Jahre später trat das Abkommen in Kraft. Es sieht vor, dass die Personenkontrollen im Inneren des Schengen-Raums weit gehend wegfallen und dafür die Kontrollen an den Außengrenzen verstärkt werden.
Heute gehören die meisten EU-Staaten zum Schengen-Raum – mit der Ausnahme von Großbritannien, Irland, Zypern, Bulgarien, Rumänien und Kroatien. Auch Norwegen, die Schweiz, Liechtenstein und Island schafften als Nicht-EU-Länder die Grenzkontrollen ab.
Wer auf dem Landweg quer durch den Schengen-Raum reist, kennt die Vorzüge des Wegfalls der Schlagbäume, die viele Europäer noch aus dem vorigen Jahrhundert kennen. Der schrankenlose Grenzverkehr ändert aber nichts an der Pflicht, dass Menschen, die nach Deutschland einreisen, einen Ausweis dabei haben müssen. Auch deutsche Staatsbürger sind grundsätzlich trotz des Schengen-Abkommens verpflichtet, bei der Ein- und Ausreise gültige Papiere bei sich zu haben.
Welche Ausnahmen lässt das Schengener Abkommen zu?
Nach dem Schengener Grenzkodex sind Stichproben oder Kontrollen zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität mit einer Schleierfahndung auch an den Binnengrenzen der Mitgliedstaaten möglich. Darüber hinaus sind die Schengen-Länder nach Artikel 23 des Grenzkodex berechtigt, Kontrollen an den Binnengrenzen vorübergehend wieder einzuführen. Dazu muss allerdings „die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht“ sein.
In diesem Fall können die Kontrollen für eine Dauer von 30 Tagen wieder eingeführt werden; eine Verlängerung um jeweils 30 Tage auf insgesamt sechs Monate ist möglich. Von dieser Ausnahmeregelung macht die Bundesregierung nun Gebrauch. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl kritisierte allerdings, dass Flüchtlinge entgegen der Lesart der Bundesregierung „keine Gefahr für die öffentliche Ordnung“ darstellten.
In der Vergangenheit haben EU-Staaten im Schengen-Raum immer wieder vorübergehend Grenzkontrollen eingeführt. So pochte der damalige französische Präsident Jacques Chirac Ende 1995 darauf, an der Grenze zu Belgien weiter Kontrollen durchführen zu können, um den grenzüberschreitenden Drogenhandel zu unterbinden.
An den deutschen Grenzen wurde während der Fußball-WM von 2006 kontrolliert, damit ausländische Hooligans gar nicht erst ins Land gelangen konnten. Und 2011 sagte der dänische Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei die Einführung von Grenzkontrollen im Gegenzug zur Unterstützung seiner Regierung zu. Die damalige deutsche Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) kritisierte die Entscheidung seinerzeit scharf und erklärte, sie erwarte, dass die EU-Kommission als Hüterin der europäischen Verträge die Entscheidung der Regierung in Kopenhagen überprüfe.
Nun muss sich die Kommission mit der Entscheidung der Bundesregierung befassen, wegen der Flüchtlingskrise die Kontrollen zunächst an der Grenze zu Österreich wieder einzuführen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) begründete die Entscheidung damit, es sei „auch aus Sicherheitsgründen dringend erforderlich“, bei der Einreise wieder „zu einem geordneten Verfahren“ zu kommen. Die EU-Kommission teilte daraufhin noch am Sonntagabend mit, dass die Berliner Entscheidung auf den ersten Blick durch das EU-Recht gedeckt zu sein scheine. Am Montag erklärte eine Sprecherin der Kommission dann, dass die Kontrollen vor einer möglichen Verlängerung im Falle unvorhersehbarer Ereignisse zunächst zehn Tage lang gelten könnten.
Welche Erfahrungen gibt es mit der Kontrollpraxis im Schengen-Raum?
Auch rund um den G-7-Gipfel in bayerischen Elmau hat Deutschland von seinem Recht Gebrauch gemacht, die Ausnahmeregelung zum Schengen-Abkommen zu nutzen. Im Mai und Juni wurden daher verstärkt Grenzkontrollen durchgeführt. Das Ergebnis: Allein 13.000 Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht wurden festgestellt und 150 Personen festgenommen, die per Haftbefehl gesucht wurden.
Die drei CDU-Bundestagsabgeordneten Clemens Binninger, Stephan Mayer und Armin Schuster veranlasste dies, ein Positionspapier zur Umsetzung des Schengen-Abkommens zu verfassen. Ihr Fazit: „Fast zehn Jahre nach Vereinbarung des Schengener Grenzkodex stellt sich nun immer mehr heraus, dass das Sicherheitsnetz nicht nur brüchig geworden ist, der Grenzkodex findet zuweilen kaum noch Anwendung.“
Das betreffe vor allem den in einem gesonderten Vertrag vereinbarten Daten- und Informationsaustausch der Schengen-Staaten sowie mobile Stichprobenkontrollen in den jeweiligen Grenzgebieten, die Sicherheit auch bei freiem Reiseverkehr gewährleisten sollte. Deutschlands Nachbarn mit Ausnahme der Schweiz kämen jedoch „ihrer Verpflichtung zur Bekämpfung von Grenzkriminalität nicht ausreichend oder gar nicht mehr nach“, schreiben die drei Innenpolitiker. Die Folge: Schlepper und andere international operierende Kriminelle könnten sich im Schengen-Raum frei bewegen.
Welche Reaktionen löst die Wiedereinführung der Kontrollen aus?
Auf EU-Ebene war das Echo zunächst verhalten. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn zeigte im Deutschlandfunk Verständnis für die Entscheidung der Bundesregierung. Angesichts der großen Zahl von Asylsuchenden, die hierzulande aufgenommen wurden, sei es „schwer, Deutschland zu kritisieren“, sagte er am Montagmorgen. Asselborn warnte aber davor, dass das Schengen-Abkommen kollabieren und ein Dominoeffekt eintreten könnte. Genau dieser Effekt war wenige Stunden später zu beobachten, als auch die österreichische Regierung sowie die Slowakei und die Niederlande vorübergehende Kontrollen ankündigten.
In Deutschland gab es im Regierungslager unterschiedliche Sichtweisen zu der Frage, wie lange Berlin von der Ausnahmeregelung vom Schengen-Abkommen Gebrauch machen will. Während Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) im Bayerischen Rundfunk sagte, die Grenzkontrollen würden „mindestens einige Wochen lang“ andauern, hoffte SPD-Chef Sigmar Gabriel, dass die Regelung möglichst nur von kurzer Dauer sein werde. Dagegen kritisierte Grünen-Chef Cem Özdemir, dass die Kontrollen nur dazu führten, das Flüchtlingsproblem „an das jeweils nächste Land“ weiterzugeben.