Ukraine-Konflikt: Ist die EU eine Gefahr für Russland?
Auf dem Weg nach Osten: Im Konflikt mit Putin distanzieren sich die Europäer plötzlich von Europa. Ein Kommentar
In einem Essay im „Spiegel“ zum Ukrainekonflikt schreibt der Schriftsteller Eugen Ruge: „Die EU erweitert ihre Außengrenze: eine schleichende postkoloniale Form der Expansion.“ Und: Der Westen habe, „berauscht von den Siegen und Erfolgen, eine aggressive Politik der Expansion der Waren und Werte betrieben“. Für ihn ist klar, wer die Schuld trägt: die EU.
„Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen“, heißt es in dem Aufruf von über 60 Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft, in dem von der „für Russland bedrohlich wirkenden Ausdehnung des Westens nach Osten“ die Rede ist. Unterzeichnet haben den Aufruf unter anderem Roman Herzog, Gerhard Schröder, Otto Schily und Hans-Jochen Vogel.
"Aus Sorge um Europa"
Selbst Helmut Kohl schreibt in seinem gerade erschienenen Büchlein „Aus Sorge um Europa“, dass es aus Sicht der Russen keinen Unterschied zwischen Nato und EU gebe. Uns allen, schreibt Kohl, war damals „immer auch bewusst …, dass die Osterweiterung in beiden Bündnissen (EU, Nato) das Sicherheitsinteresse Russlands natürlich elementar berührt.“
Der Konflikt mit Russland wegen der Krim und der Ostukraine hat zu einem besonders erstaunlichen Phänomen geführt: Das vermeintliche große Friedensprojekt der europäischen Einigung wird nun plötzlich von denen als expansive Bedrohungspolitik diskreditiert, die dafür selbst verantwortlich waren. Dieselben, die Osteuropa in die Europäische Union geholt haben, um es vor dem imperialen Zugriff der Russen zu schützen, tun nun – im Moment eines solchen Zugriffs – so, als sei das damals eine falsche Politik gewesen. So, als hielten sie die Demokratisierung Osteuropas für einen Fehler. Wenn diese Politik der EU für die Russen „natürlich“ eine Bedrohung dargestellt hat, wie Kohl schreibt, sind dann nicht er und alle anderen, die an dieser Politik beteiligt waren, verantwortlich für die aktuelle Eskalation?
Kohl und Schröder, und auch Helmut Schmidt, haben alle das Ziel einer politischen Union verfolgt. Und so wurde die EU nicht nur nach Osten erweitert, sondern auch gleichzeitig immer weiter vertieft. Die EU der frühen 90er Jahre, der Boris Jelzin gegenüberstand, war eine andere als die, der Wladimir Putin heute gegenübersteht. Die heutige hat inzwischen das Selbstverständnis einer geopolitischen Großmacht.
Brzezinski würde Russland in die EU aufnehmen
Die Amerikaner, die ja vermeintlich Russland einkreisen wollen, standen diesem politischen Projekt deshalb stets eher skeptisch gegenüber. Gegen eine wirtschaftliche Integration spricht aus ihrer Sicht nichts. Wenn es nach Washington gegangen wäre, hätte die EU auch die Türkei längst aufgenommen. Und schon 2006, lange vor der Krise, sprach sich Jimmy Carters ehemaliger Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski bei einem Besuch in der American Academy in Berlin dafür aus, Russland in die EU aufzunehmen. Wann? In 20, 30 Jahren. Und selbst China könne er sich in der EU vorstellen.
„Warum schaffen wir nicht einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, der die Europäische Union und Russland einschließt?“, fragt Hans-Dietrich Genscher im „Handelsblatt“ und nimmt dabei schäbigerweise den tschechischen Dissidenten Václav Havel für seine Position in Anspruch. (Havel, das dürfte Genscher wissen, steht hier nicht auf seiner Seite: Als Wladimir Putin der Quadriga-Preis verliehen werden sollte, verhinderte Havel die Ehrung.)
"Postkoloniale Form der Expansion“
Die Europäische Union, die Helmut Kohl und auch Genscher seit dem Fall der Mauer gebaut haben, will mehr sein als ein harmonisierter Markt, an dem Russland, wie Genscher es fordert, leicht teilhaben könnte. Auch, wenn Kohl das nicht schreibt: Eine politische Union, die weit über einen Binnenmarkt hinausgeht, trennt den europäischen Raum eben sehr viel härter in die, die drinnen sind, und die, die draußen sind. Die russische Vollmitgliedschaft im Europarat 1996 und das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen der EU mit Russland aus dem Jahr 1997 waren doch gerade das: Versuche, das Abgrenzende, das von einer sich stärker integrierenden EU ausgeht, abzumildern.
Kohl, Genscher, Schröder stellen inzwischen aus Rücksicht auf Putin den Kern ihrer eigenen Europa-Politik offen infrage. Dabei drücken sie sich um die entscheidende Frage: Ist die Ausdehnung der EU nach Osten nun eine Bedrohung für Russland und eine „postkoloniale Form der Expansion“ – oder wirkt sie nur so, wie es in dem Aufruf heißt?
Im Konflikt mit Putin wirkt es, als wäre all den großen Europäern ihr Werk plötzlich unangenehm.