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Asiatische Bauarbeiter in Dubai.
© AFP

WM in Katar: Ist das Sklaverei?

Die Meldung von 44 toten nepalesischen Gastarbeitern auf WM-Baustellen in Katar hat die Welt aufgeschreckt. Auf einmal zeigte sich die erschütternde Kehrseite des Baubooms in den superreichen Golfstaaten. Und es wurde klar: Hinter der Ausbeutung der Migranten steckt System.

Zehn Kilometer vor den Toren von Doha stampft Katar eine neue Stadt aus dem Wüstenboden. „Lusail City“ wird die glamouröse Metropole einmal heißen, geplant als Drehscheibe für die Fußballweltmeisterschaft 2022 – das erste globale Fußballspektakel auf arabischem Boden. Hier soll die gigantische 90 000-Zuschauer-Arena für das Endspiel errichtet werden, hier entstehen die meisten der 29 neuen Hotels, um die angereisten Fans zu beherbergen. Gleichzeitig will Katars Emirfamilie die gesamte Infrastruktur ihres superreichen Ministaats modernisieren: Mehr als 100 Kilometer Metro sind geplant, eine Autobahnbrücke nach Bahrain, dazu ein komplett neues Schienennetz für ihre Halbinsel im Persischen Golf. Der neue Flughafen ist fast fertig – doch mindestens 100 Milliarden Dollar will Katar in den nächsten acht Jahren noch investieren.

So kühn und fantastisch, so superreich und glitzernd – doch seit den Vorwürfen von Sklavenarbeit auf Katars Großbaustellen gerät nun erstmals auch die düstere Rückseite des weltweit bewunderten Baubooms ins internationale Rampenlicht: das Schicksal der Millionen Migrantenarbeiter aus Indien, Pakistan, Sri Lanka, Bangladesch und Nepal in der Golfregion. Nicht nur in Doha, auch in Dubai, Abu Dhabi, Riad und Kuwait City schuften hunderttausende indische und asiatische Arbeitskräfte auf spektakulären Megabaustellen – schlecht bezahlt und schlecht ernährt, untergebracht in überfüllten, schäbigen Massenbaracken vor den Toren der Städte. Wer krank wird, bekommt die Tage im Bett vom Lohn abgezogen.

Die Arbeitsbedingungen auf den Baustellen sind hart und oft genug lebensgefährlich.
Die Arbeitsbedingungen auf den Baustellen sind hart und oft genug lebensgefährlich.
© AFP

In Katar starben im vergangenen Jahr rund 200 Arbeiter aus Nepal, viele an Herzversagen nach extrem langen Schichten in der Gluthitze oder durch schwere Arbeitsunfälle. Bei Beschäftigten aus Indien, Bangladesch und Sri Lanka liegen die Zahlen ähnlich hoch, mehr als 1000 wurden auf den Baustellen verletzt.

Und dennoch machen sich nach wie vor hunderttausende junge Männer und Frauen auf die Hoffnungsreise in den Nahen Osten. Denn die Staaten am Persischen Golf gehören zu den reichsten Ländern der Welt. Ihr Wohlstand jedoch ruht auf den Schultern eines stetig wachsenden Heeres von Wanderarbeitern. Zwölf Millionen arbeiten inzwischen in den Emiraten und Monarchien der Arabischen Halbinsel, die Frauen als Hausangestellte, die Männer auf dem Bau, als Verkäufer, Kellner, Putzleute oder Taxifahrer. Mit neun Millionen geht der Löwenanteil nach Saudi-Arabien, wo Migranten ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. In Kuwait und Katar liegt ihr Anteil bei 70 Prozent, in Dubai und Abu Dhabi, den beiden glitzernden Metropolen der Vereinigten Arabischen Emirate, sogar bei 90 Prozent. Keine andere Region der Welt nutzt Dienste von Gastarbeitern in solchen Dimensionen und mit solchen jährlichen Zuwachsraten.

Die jungen Saudis, Kataris und Kuwaitis denken gar nicht daran, sich die Finger schmutzig zu machen. Manuelle Arbeit ist verpönt, und zu den mageren Löhnen der ausländischen Migranten mögen sie schon gar nicht schuften. Stattdessen streben sie alle nach einem sicheren Posten im ohnehin schon aufgeblähten Staatsdienst. Ihr Lebensziel ist ein ruhiger Schreibtischjob, möglichst üppig bezahlt, mit kurzen Arbeitszeiten, während das Millionenheer der Inder und Asiaten Wohlstand und Wirtschaft am Laufen hält, in der Regel mit Monatslöhnen zwischen 150 und 400 Euro.

Wie eine Arbeitsmaschine reichen einheimische Unternehmer die Gastarbeiter nach Belieben an andere weiter.

Für Hausmädchen vor allem von den Philippinen ist die Lage oft noch schwieriger, weil sie kaum Möglichkeiten haben, Missbrauch oder Ausbeutung auch nur zu melden.
Für Hausmädchen vor allem von den Philippinen ist die Lage oft noch schwieriger, weil sie kaum Möglichkeiten haben, Missbrauch oder Ausbeutung auch nur zu melden.
© Bjoern Goettlicher / VISUM

Allein in Saudi-Arabien, dem mit Abstand bevölkerungsreichsten Golfstaat, sind nach Angaben des Arbeitsministeriums zwei Millionen einheimische Männer und 1,7 Millionen einheimische Frauen arbeitslos, das ist fast ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung. Doch 90 Prozent der Arbeitsplätze, die heute von asiatischen Gastarbeitern ausgefüllt werden, seien „ihrer Natur nach nicht geeignet für Bürger des Königreiches Saudi-Arabien“, erläuterte Arbeitsminister Adel Faqih im Namen seiner ölsatten Landsleute.

Da der öffentliche Sektor aus allen Nähten platzt, werden Privatfirmen nun mehr und mehr per Gesetz gezwungen, Quoten-Saudis einzustellen. Damit die mit ihrer geringen Arbeitsmoral und Unzuverlässigkeit jedoch nicht zu viel Chaos anrichten, zahlen Privatunternehmen dem verwöhnten Nachwuchs allzu oft jeden Monat ein Gehalt und schicken ihn nach Hause.

Beim kleinen Nachbarn Katar wiederum kommen auf 230 000 Einheimische momentan rund 1,6 Millionen Gastarbeiter – bis zu Beginn der WM wird deren Zahl um eine weitere halbe Million wachsen. Von den 230 000 Kataris sind lediglich 45 000 Männer und 25 000 Frauen im Arbeitsleben aktiv. Sie steuern das Unternehmen Katar – politisch, wirtschaftlich und strategisch. Fast alle sind beim Staat beschäftigt, im September 2011 während des Arabischen Frühlings gab es quer durch die Bank eine 60-Prozent-Gehaltserhöhung aus der Staatskasse. Katarische Lehrer bekommen jetzt ein Einstiegsgehalt von 9000 Euro im Monat, ihre ägyptischen und sudanesischen Kollegen müssen mit einem Viertel davon auskommen.

Auch kann niemand hier eine Firma ohne katarischen Teilhaber aufmachen, der sich danach meist darauf beschränkt, die Hand aufzuhalten. Heiratet ein Katari, kann er sich auf dem Katasteramt ein Baugrundstück aussuchen, die nötige Million für die neue Villa legt der Staat noch obendrauf. Strom, Wasser und Krankenversicherung sind lebenslang kostenlos. Nur das Tanken muss noch jeder selbst bezahlen.

Die Heerscharen ihrer Bediensteten dagegen haben viel bescheidenere Anliegen. Sie suchen Arbeit, bessere Löhne und einen Ausweg aus der Misere daheim. Die wenigsten ahnen, was sie am Golf erwartet. Denn jeder Neuankömmling braucht für sein Arbeitsvisum einen lokalen „Sponsor“, der nach einem dubiosen Bürgschaftssystem, Kafala genannt, allmächtig ist. Die meisten bekommen bei Ankunft ihren Pass abgenommen, sind jeder Willkür ausgeliefert und dürfen erst nach zwei Jahren ihre Familie daheim besuchen. „Der Arbeiter ist völlig an seinen Arbeitgeber gebunden. Er kann ihn nicht verlassen, egal wie schlimm er behandelt wird“, sagt Nicholas McGeehan von Human Rights Watch.

Wie eine Arbeitsmaschine reichen einheimische Unternehmer die Gastarbeiter nach Belieben an andere weiter – ohne deren Einverständnis einzuholen. Ein gesetzlicher Mindestlohn existiert ebenso wenig wie eine gesetzliche Krankenversicherungspflicht. Wer widerspricht, vorenthaltene Bezahlung nachfordert oder gar streikt, fliegt raus und muss die Heimreise antreten. Auch Kündigung, Wechsel des Arbeitgebers und Flucht aus dem Gastland sind praktisch unmöglich: Für das Ausreisevisum ist die Unterschrift des Sponsors nötig.

Das erfüllt nach den Maßstäben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO den Tatbestand der Zwangsarbeit. Nach einer ILO-Studie aus dem Jahr 2012 mit dem Titel „Getäuscht und gefangen – Menschenhandel im Mittleren Osten“ fristen schätzungsweise 600 000 Menschen ein Dasein als moderne Arbeitssklaven. Die Menschen würden „systematisch belogen hinsichtlich ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen, oft existieren die versprochenen Arbeitsplätze auch gar nicht“, heißt es.

Besonders skandalös ist der Umgang mit weiblichen Haushaltshilfen. Sie werden geschlagen, seelisch terrorisiert oder sexuell missbraucht, weshalb Länder wie die Philippinen, Nepal und Indonesien in den vergangenen beiden Jahren ihren Staatsbürgerinnen verboten, sich weiterhin von arabischen Staaten anwerben zu lassen. „Ich habe immer nur das zu essen bekommen, was die Herrschaften auf ihren Tellern übrig ließen“, berichtete eine Philippinin, die sich in Kuwait City in die Botschaft ihres Landes geflüchtet hatte. Als die Familie dann noch von ihr verlangte, um 3 Uhr früh die Fenster des Hauses zu putzen, entschloss sie sich zur Flucht. Nach Einschätzung des US-Außenministeriums ist die Misshandlung von Haushaltshilfen in Kuwait so verbreitet, dass dies den Tatbestand des Menschenhandels erfüllt.

Und so prangern Menschenrechtsorganisationen die Zustände an als moderne Sklaverei, Ausbeutung und Zwangsarbeit, ein Vorwurf, den diese Woche der Vorsitzende des katarischen Nationalkomitees für Menschenrechte, Ali al Marri, energisch bestritt, auch wenn er zugab, dass es „einige Probleme“ gebe.

Arbeitsminister Salah al Khulaifi versprach angesichts der internationalen Empörung, sein Land werde für die WM- Baustellen die Zahl der Arbeitskontrolleure von 150 auf 300 verdoppeln, eine Ankündigung, die Sharan Burrow, Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbundes, „schwach und enttäuschend“ nannte. „Diese Inspektoren haben schon jetzt keinerlei Effekt“, kritisierte sie und forderte ein „sehr deutliches Signal“ des Weltfußballverbands an die Adresse des Emirates. „Die Fifa darf nicht erlauben, dass die WM 2022 errichtet wird auf dem Fundament moderner Sklaverei – in Katar aber ist das die Realität von hunderttausenden Arbeitsmigranten.“

Das Exekutivkomitee der Fifa vertagte die Entscheidung über eine etwaige Verlegung der WM aus den heißen Sommermonaten in Katar am Freitag. Präsident Joseph Blatter sagte, die Fifa müsse die Sachlage zunächst weiter prüfen, bevor auch nur eine generelle Entscheidung gefällt werden könne.

Martin Gehlen

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