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Der Westen und die Herausforderung der Moderne durch den Islam.
© AFP

Heinrich August Winkler über Pegida und den Islam: „Islamische Gesellschaften tun sich schwer mit Demokratie“

Der Berliner Historiker Heinrich August Winkler spricht im Tagesspiegel-Interview über das Verhältnis von Staat und Religion, die Menschenrechte und die Globalisierung des Terrors.

Herr Professor Winkler, wie stehen Sie zu dem Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“?

Inzwischen gehören auch die Muslime zu Deutschland und damit der Islam – mitsamt allen Problemen, über die zwischen Muslimen gestritten wird. In Bezug auf das politische System der Bundesrepublik würde ich sagen: Zu Deutschland gehört ein Islam, der die Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit sowie die anderen Grundrechte bejaht, sich also auf den Boden des Grundgesetzes stellt und damit der politischen Kultur des Westens öffnet. Umfragen zeigen, dass die überwältigende Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime diese Position bezieht. Das rechtfertigt einen gewissen Optimismus mit Blick auf den weiteren Integrationsprozess des Islam.

Was muss geschehen, damit dieser Prozess weitergeht?

Für das Christentum ist die strikte Trennung von göttlichen und irdischen Gesetzen grundlegend. Das geht zurück auf den Satz Jesu „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ Im Koran fehlt eine vergleichbare klare Aussage. Darauf hat schon Montesquieu 1748 in seinem Werk „Vom Geist der Gesetze“ hingewiesen. Die Schwierigkeit vieler islamischer Gesellschaften mit der Demokratie hat ihren Grund in der Weigerung islamistischer Parteien, diese Trennung von irdischen und göttlichen Gesetzen vorzunehmen.

Worauf führen Sie das zurück?

Viele islamische Rechtsgelehrte neigen dazu, die Menschenrechte nur im Rahmen der Scharia, also des göttlichen Gesetzes, gelten zu lassen. Sie bejahen nicht die unveräußerlichen Menschenrechte, ihre Haltung ist mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen im Dezember 1948 nicht vereinbar. Es ist deshalb kein Zufall, dass die „Arabellion“ in den meisten arabischen Ländern gescheitert ist.

Das klingt nicht sehr optimistisch.

Man kann nicht kategorisch behaupten, islamische Gesellschaften seien demokratieunfähig. Aber sie haben häufig große Schwierigkeiten, den Weg zu einer pluralistischen Demokratie zurückzulegen. Es gibt aber ein positives Beispiel: In Tunesien akzeptiert und praktiziert eine gemäßigte islamistische Partei den Kompromiss als Voraussetzung einer Demokratie.

Sie sind ein Gegner des Beitritts der Türkei zur EU. Spielt es für Sie eine Rolle, dass das Land islamisch geprägt ist?

Es gibt keine Trennung von Staat und Religion in der Türkei, sondern eine Verstaatlichung des Islam durch eine Behörde, die inzwischen unter die Kontrolle der regierenden AKP gekommen ist. Wenn die Türkei die Kopenhagener Beitrittskriterien erfüllen und sich uneingeschränkt zum Rechtsstaat entwickeln würde, wäre das größte Hindernis für eine EU-Mitgliedschaft beseitigt. Das Land entwickelt sich aber in eine Richtung, die mit der politischen Kultur des Westens unvereinbar und am Ziel einer Regionalgroßmacht orientiert ist. Die gegenwärtige Regierung denkt nicht im Entferntesten daran, die nationale Souveränität der Türkei zugunsten der Mitgliedschaft in einem supranationalen Staatenverbund einzuschränken. Eine Europäische Union, die das akzeptiert, würde sich zu einer reinen Zollunion ohne jeden politischen Anspruch zurückentwickeln.

Der heute 76-Jährige Historiker Heinrich August Winkler war nach Stationen in Berlin und Freiburg zuletzt Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität. Seit 2007 ist er emeritiert.
Der heute 76-Jährige Historiker Heinrich August Winkler war nach Stationen in Berlin und Freiburg zuletzt Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität. Seit 2007 ist er emeritiert.
© Mike Wolff

Für wie groß halten Sie die Gefahr für den Westen durch den Islamismus?

Zwei Ereignisse machen 2014 zu einem Jahr der Zäsuren, wenn nicht zu einem Epochenjahr, nämlich der Ukraine-Konflikt und der Vormarsch des „Islamischen Staats“ (IS) in Syrien und im Nordirak. Der Historiker Jakob Burckhardt hat einmal gesagt: „Wenn zwei Krisen sich kreuzen, so frisst momentan die stärkere die schwächere auf.“ Die Morde von Paris sprechen für meine Vermutung, dass die Globalisierung des islamistischen Terrors uns noch länger beschäftigen wird als der Konflikt des Westens mit Russland. Die Unkalkulierbarkeit und die Omnipräsenz des islamistischen Terrors haben mehr als alle anderen Ereignisse des vergangenen Jahres ein Gefühl der Verunsicherung hervorgerufen. Im Rückblick scheint der Terrorangriff auf die USA vom 11. September 2001 die Inhaltsanzeige des 21. Jahrhunderts zu sein.

Wenn der Westen, wie viele meinen, mit dem Ende der Blockkonfrontation geistig träge geworden ist, wie wirken dann die IS-Krise und die Ukrainekrise auf ihn?

Richtig ist: Der Westen hat mit dem Untergang des Sowjetkommunismus einen Herausforderer verloren, der ihn intellektuell grundlegend infrage gestellt hat. So reaktionär sich Putin gebärdet – aus Homophobie, Antifeminismus und orthodoxem Klerikalismus ergibt sich wirklich keine intellektuelle Herausforderung, die der durch den Marxismus-Leninismus nahekäme. Darin liegt aber auch die Gefahr der geistigen Bequemlichkeit des Westens, der mangelnden Reflexion über die eigenen Grundlagen.

Aber jetzt ist der Westen doch gefordert …

Es ist ein geistiges Armutszeugnis, wenn die westlichen Demokratien immer nur aufgrund äußerer Drohungen anfangen, über ihre Grundlagen nachzudenken. Dass es auch bei uns in den vergangenen Jahren so wenige Grundsatzdebatten über den deutschen Ort in der Europäischen Union und im westlichen Bündnis gegeben hat, das schlägt sich auch in Umfragen nieder, die auf einen großen Orientierungsmangel schließen lassen.

Was erwarten Sie denn?

Regierungserklärungen und Debatten im Bundestag könnten wichtige Anstöße geben – aber daran hat es in den letzten Jahren zu oft gefehlt. Es wäre fatal, wenn sich die Bundesregierung nur nach der Mehrheitsmeinung laut Umfragen richten und darauf verzichten würde, Positionen zu beziehen, die zwar notwendig, aber zunächst nicht populär sind.

Zum Beispiel?

Die Politik müsste den Bürgern viel klarer sagen, dass Deutschland die Beistandsverpflichtung der Nato gegenüber den baltischen Staaten und Polen sehr ernst nimmt. Diese Länder werden aus schmerzvoller historischer Erfahrung zu Recht sehr misstrauisch, wenn Deutsche über ihren Kopf hinweg einen engen Schulterschluss mit Russland propagieren und wenn „Elder statesmen“ und Ex-Diplomaten in einem Aufruf Russlands aggressives Vorgehen in der Ukraine verharmlosen und Vorschläge für die Zukunft der Ukraine machen, ohne die Ukrainer selbst zu fragen.

Manche Beobachter sehen die Menschenrechte, die ein zentraler Baustein westlicher Werte sind, weltweit auf dem Rückzug. Nimmt die Attraktivität des westlichen Modells ab?

Nein, das Gegenteil ist der Fall. Der Westen hat in den letzten Jahrzehnten politisch und wirtschaftlich an Einfluss verloren. Aber das Projekt der Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität, der repräsentativen Demokratie hat seine Anziehungskraft behauptet. Man mag zwar sagen, die 5000 chinesischen Intellektuellen und Künstler, die vor sechs Jahren die Menschenrechtserklärung „Charta 08“ unterschrieben haben, seien eine winzige Minderheit in einem Land von 1,3 Milliarden Einwohnern. Aber alle großen Bewegungen sind zunächst von Minderheiten getragen worden. Das Interesse der erstarkenden chinesischen Mittelschicht an Rechtssicherheit und an einer rechtsstaatlichen Ordnung wird wachsen, weil die Kommunistische Partei Chinas im Kampf gegen Korruption und Umweltverschmutzung versagt.

Ex-Kanzler Helmut Schmidt und andere warnen davor, die Maßstäbe westlicher Demokratien an ein Riesenreich wie China anzulegen …

Die westlichen Demokratien schulden allen Solidarität, die sich für die Menschenrechte einsetzen und gegen ihre Missachtung die Stimme erheben. Der Westen würde sich selbst aufgeben, wenn er Forderungen nach der universellen Geltung der Menschenrechte ignorieren oder zurückweisen würde.

Wie muss der Westen dann mit Saudi-Arabien umgehen? Einerseits gilt das Land als unverzichtbarer Partner zur Stabilisierung der Region, andererseits werden die Menschenrechte dort aufs Gröbste verletzt, wie der Fall des Bloggers Badawi zeigt.

Die Hoffnung, dass Saudi-Arabien im Mittleren und Nahen Osten Stabilität sichert, könnte sich als ähnlich kurzsichtig erweisen wie die taktische Unterstützung der Taliban durch die USA in Afghanistan in den 80er Jahren. Die Gefahr besteht, dass wir heute einen Partner aufrüsten, der sich später gegen uns selbst wendet. Dann würde man das Problem vergrößern, das man lösen will. Der Westen muss Saudi-Arabien unter massiven moralischen und politischen Druck setzen, damit es mit diesem massiven und bestialischen Mord auf Raten aufhört.

Was heißt das für deutsche Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien?

Gerade bei Rüstungsexporten darf die Bundesregierung ihre eigene Glaubwürdigkeit nicht durch eine opportunistische Politik des Wegsehens aufs Spiel setzen.

In Deutschland protestiert seit Monaten eine neue Bewegung gegen die angebliche Islamisierung des Abendlandes. Wie verträgt sich Pegida mit den Werten des Westens?

Gar nicht. Pegida spricht von der Rettung des Abendlandes und verteidigt in Wirklichkeit ein vormodernes Europa. Das ist eine Absage an den aufgeklärten Westen und seine Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Toleranz, der Aufklärung und der Liberalität. Pegida vertritt eine Ideologie, die Deutschland schon einmal in die Katastrophe gestürzt hat. Sie tritt in die Fußstapfen der deutschen Rechten im wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik, die in der westlichen Demokratie etwas „Undeutsches“ sah und sie deshalb ablehnte. Eine Auseinandersetzung mit Pegida muss diesen Zusammenhang deutlich machen. Diese Bewegung stellt auch mit ihrer Pro-Putin-Propaganda die Westbindung Deutschlands und damit den Zusammenhalt der EU und der Nato infrage.

Warum hat die Bewegung ausgerechnet in Dresden so viel Zulauf bekommen?

Es geht ja um jene Region, in der man zu DDR-Zeiten jahrzehntelang kein Westfernsehen empfangen konnte und deshalb „Tal der Ahnungslosen“ genannt wurde. Die Reserven gegenüber der westlichen Demokratie und der Anti-Amerikanismus sind dort in einer Massivität verbreitet, wie man sie in anderen Regionen der neuen Länder kaum noch findet. Da wirkt offensichtlich auch die Propaganda der SED nach. Wir haben es mit einer Bewegung zu tun, die altdeutsche Vorbehalte gegen die westliche Demokratie in einer Weise konserviert, wie wir es bis zum Herbst 2014 nicht mehr für möglich gehalten haben. Notwendig ist deshalb eine offensive und keine schönrednerische Auseinandersetzung.

In wenigen Tagen gedenkt Deutschland des 70. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Welche Bedeutung hat der Holocaust in der Geschichte des Westens?

Die Einzigartigkeit des Holocaust liegt nicht in der routinierten technischen Perfektion der Menschenvernichtung. Sie liegt darin, dass sich Deutschland den politischen Konsequenzen der Aufklärung in Gestalt der Menschenrechte, der Volkssouveräntität und der repräsentativen Demokratie solange verweigerte, bis 1933 eine Bewegung an die Macht kam, die die bisher radikalste Negation des Projekts des Westens durch irgendein westliches Land bedeutete. Der Bruch Deutschlands mit seinem christlichen, humanistischen und aufgeklärten Erbe ist der eigentliche Zivilisationsbruch. Die Deutschen werden bis ans Ende aller Tage mit diesem Sündenfall konfrontiert bleiben.

Das Gespräch führten Stephan Haselberger und Hans Monath. Das Foto machte Mike Wolff.

Der heute 76-Jährige Historiker Heinrich August Winkler war nach Stationen in Berlin und Freiburg zuletzt Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität. Seit 2007 ist er emeritiert. In diesen Tagen erscheint der vierte und letzte Band von Winklers Monumentalwerk „Geschichte des Westens“. Er beschreibt die Entwicklung seit dem Mauerfall und trägt den Titel „Die Zeit der Gegenwart“.

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