Kampf um Kobane: IS erobert Stadtzentrum - Türkei und USA uneins über Luftwaffenstützpunkte
Der türkische Außenminister hat US-Angaben zurückgewiesen, wonach Ankara die Nutzung türkischer Luftwaffenstützpunkte für Angriffe auf den IS in Syrien erlaubt hat. Unterdessen erobert die Terrormiliz das Stadtzentrum von Kobane.
Nach Angaben von Aktivisten sind Kämpfer der Dschihadistenorganisation Islamischer Staat (IS) erstmals ins Zentrum der nordsyrischen Kurden-Stadt Kobane vorgerückt. Die IS-Kämpfer hätten das Kulturzentrum von Kobane erobert und sich in der Stadtmitte festgesetzt, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Montagabend mit. Die IS-Milizionäre seien vom Osten aus in der Stadt vorgerückt und kontrollierten nun die Hälfte der einstigen Kurden-Hochburg, erklärte der Leiter der Beobachstungsstelle, Rami Andel Rahman. Die Stadt an der Grenze zur Türkei wurde am Montag von drei schweren Explosionen erschüttert. Der Beobachtungsstelle zufolge handelte es sich um Autobomben, am Steuer der Autos hätten Selbstmordattentäter des IS gesessen. Die Beobachtungsstelle stützt sich auf ein Netzwerk von Informanten in Syrien, deren Angaben sich oft nicht unmittelbar bestätigen lassen. Einem AFP-Reporter zufolge detonierten zwei der Autobomben im Norden der Stadt. Offenbar versuche der IS den letzten Fluchtweg aus Kobane zum türkischen Grenzübergang Mursitpinar zu erobern. Die Stadt wäre dann vollständig eingekesselt.
Offene Meinungsverschiedenheiten zwischen USA und Türkei
Zwischen der Türkei und den USA gibt es offene Meinungsverschiedenheiten über die Beteiligung Ankaras an der internationalen Allianz gegen die Dschihadistengruppe „Islamischer Staat“ (IS). Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu widersprach am Montag Angaben aus Washington, wonach Ankara jetzt doch die Nutzung türkischer Luftwaffenstützpunkte für Angriffe auf den IS in Syrien erlaubt hat. Ein solches Entgegenkommen Ankaras würde die Luftangriffe auf den IS in der umkämpften nordsyrischen Stadt Kobane erheblich erleichtern.
US-Sicherheitsberaterin Susan Rice sagte, die Türkei sei mit der Bereitstellung der Stützpunkte eine „neue Verpflichtung“ im Kampf gegen den IS eingegangen. Wichtig ist besonders die Luftwaffenbasis Incirlik nahe der südtürkischen Stadt Adana, die nur etwa 100 Kilometer von der syrischen Grenze und rund 200 Kilometer von Kobane entfernt liegt. Wenn alliierte Kampfjets von Incirlik aus in Syrien angreifen könnten, müssten die Kampfflugzeuge der USA sowie ihrer arabischen Verbündeten nicht mehr in der Luft aufgetankt werden. Bisher fliegen die Jets aus der Golfregion nach Syrien.
Ankara: Keine neuen Vereinbarungen in Sachen Incirlik
Unter Berufung auf Quellen im Ministerpräsidentenamt in Ankara meldeten mehrere türkische Nachrichtensender am Montag aber, es gebe keine neue Vereinbarung in Sachen Incirlik. Im Laufe des Nachmittags bestätigte dies der Außenminister. Es sei lediglich ein grundsätzlicher Konsens über die Ausbildung neuer syrischer Truppen erzielt worden, die gegen den IS kämpfen sollen. Wo und wie die neue Streitmacht trainiert werden solle, sei noch unklar.
Die Bereitstellung von Incirlik würde bedeuten, dass sich die Türkei erstmals an den Militäraktionen gegen den IS beteiligt, wenn auch nur indirekt. Bisher hatte Ankara dies sorgsam vermieden, auch aus Furcht vor möglichen Vergeltungsanschlägen des IS in der Türkei. Nach Presseberichten haben die Dschihadisten in den vergangenen Monaten große Mengen von Sprengstoff in die Türkei geschickt, die bei Anschlägen verwendet werden könnten. Im südosttürkischen Gaziantep wurden 150 Kilogramm Plastiksprengstoff sowie 20 Westen für Selbstmordattentäter entdeckt.
Haltung der Türkei verärgert den Westen
Schon seit Beginn des Vormarsches des IS in Syrien und im Irak im Sommer sorgt die Türkei mit ihrer Haltung für Verwirrung und Verärgerung bei westlichen Partnern. Zuerst wollte Ankara überhaupt nichts mit der Allianz gegen den IS zu tun haben. Dann entschloss sich Erdogan plötzlich, unter bestimmten Bedingungen doch mitzumachen beim Kampf gegen die Dschihadisten im Nachbarland. Zu Erdogans Bedingungen gehörte unter anderem die Einrichtung von Pufferzonen auf syrischem Gebiet.
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu bekräftigte diese Linie in einem am Montag erschienenen Interview mit der Zeitung „Star“. Von Incirlik aus würden nur Aufklärungsflüge nach Syrien unternommen, sagte er. Voraussetzungen für eine weitergehende Nutzung sei eine Flugverbotszone über Syrien und die Einrichtung der Pufferzonen. Erdogan selbst unterstrich am Montag ebenfalls noch einmal, eine Bekämpfung des IS nur in Kobane keinen Durchbruch bringen werde: Die internationale Allianz müsse auch gegen die Regierungstruppen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad vorgehen. „Das syrische Regime muss das Ziel sein“, sagte Erdogan.
Doch fast gleichzeitig meldete US-Sicherheitsberaterin Rice die angebliche Kehrtwende Ankaras. Von der Erfüllung der türkischen Bedingungen war bei ihr keine Rede. In Washington war am Montag eine zweitägige Konferenz der Militärchefs der Anti-IS-Allianz geplant, doch der türkische Generalstabschef Necdet Özel hatte seine Teilnahme abgesagt.
Keine "Hilfstruppe für Assad"
Erdogan lehnt ein direktes Eingreifen in die Schlacht um Kobane und Waffenlieferungen an die kurdischen Verteidiger der Stadt ab, weil er ein Erstarken der kurdischen Rebellenorganisation PKK und ihres syrischen Ablegers PYD befürchtet. Die Türkei verlangt auch, dass sich die PYD zum Kampf gegen Assad verpflichtet. PYD-Chef Salih Müslim, der in den vergangenen Wochen mit der türkischen Regierung gesprochen hatte, lehnt dies aber ab. Die syrischen Kurden kämpften schon lange gegen das Regime in Damaskus und ließen sich jetzt nicht von der Türkei als Hilfstruppe gegen Assad einspannen, sagte Müslim der Zeitung „Hürriyet“.
In Deutschland forderten Politiker erneut ein stärkeres Engagement der Türkei und lobten die mögliche Kehrtwende mit der Bereitstellung von Incirlik – bevor die Türkei die Meldung aus Washington wieder dementiert hatte. Der außenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag, Omid Nouripour, sagte dem Tagesspiegel, offenbar habe die Türkei verstanden, dass sie nicht zuschauen könne, „wie Kobane fällt“. Bundestagsfraktionschefin Katrin Göring-Eckardt mahnte in einem NDR-Interview eine langfristige Strategie gegen den IS an und forderte die Bundesregierung auf, eine entsprechende UN-Initiative anzuschieben: „Wir sind offensichtlich längst in den Konflikt involviert, deswegen kann man nicht ruhig bleiben“, sagte sie.
Der ehemalige Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Ruprecht Polenz (CDU), sagte dem Tagesspiegel, der Schritt der Türkei signalisiere, dass es eine „Korrektur der türkischen Außenpolitik geben könnte“. In den vergangenen Jahren habe Ankara versucht, „im Stil einer Kolonialmacht des 19. Jahrhunderts“ unabhängig von der internationalen Gemeinschaft ihre Interessen in der Region durchzusetzen.
Die Kämpfe gehen weiter
In Kobane gingen die Kämpfe auch am Montag weiter. Neue Luftangriffe der Verbündeten hatten den Vormarsch des IS am Wochenende erneut zum Stillstand gebracht. Bei den Gefechten soll ein IS-Kämpfer aus den USA, Abu Mohamed al-Amriki, getötet worden sein. In den Außenbezirken von Kobani sprengte sich nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte ein IS-Selbstmordattentäter mit einer Lastwagenbombe in die Luft.
Unterdessen tötete der IS in seinem Machtbereich im Irak erneut einen Journalisten. Wie die Journalistenvereinigung Reporter Ohne Grenzen mitteilte, wurde der irakische Kameramann Raad Mohamed al-Azaoui am vergangenen Freitag in der Stadt Samarra hingerichtet. Azaoui war Anfang September vom IS entführt worden. (mit AFP/dpa)