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Bodo Ramelow (Die Linke) bei einer Vorbesichtigung der Ausstellung "Paradiesgärten - Gartenparadiese" im April in Erfurt.
© Martin Schutt/dpa

Ministerpräsident Bodo Ramelow im Interview: „In Thüringen wird die Notbremse gar nichts bringen“

Das Kanzleramt hat nicht geliefert, meint Bodo Ramelow. Ein Interview über die Corona-Lage in Thüringen, Grün-Rot-Rot im Bund und seine persönliche Belastung.

Herr Ramelow, Thüringen ist derzeit von allen Bundesländern am stärksten von der Corona-Pandemie betroffen. Wie ist die Lage in den Krankenhäusern?
Die Lage ist sehr angespannt. Nur 20 Prozent der belegten Intensivbetten dürfen mit Covid-Patienten belegt sein, damit auch andere Patienten noch behandelt werden können. Wir sind im Moment bei fast 40 Prozent. Es fehlt vor allem an Fachpersonal. Wir mussten schon vier Patienten mit Hubschraubern in andere Bundesländer ausfliegen. Außerdem zerrt die monatelange Belastung an den Nerven der Pflegerinnen und Pfleger. Die Beschäftigten in den Krankenhäusern sind am Leistungslimit.

Wie ist es zu erklären, dass die Zahlen in Thüringen so viel höher sind als in den anderen Bundesländern?
Wir waren bis zum 28. Oktober letzten Jahres mit sehr niedrigen Zahlen auf der Insel der Glückseligen. Die erste Welle gab es bei uns praktisch nicht. Dann sind wir radikal in die Überdynamik eingestiegen und nach Weihnachten aus dieser hohen Dynamik nicht mehr rausgekommen. Thüringen ist außerdem ein Bundesland mit einer vergleichsweise alten Bevölkerung.

Deswegen war bei uns der Prozentsatz derer höher, die im Krankenhaus behandelt werden mussten. Dazu kommt aber unsere Mittellage. Alleine in Ostthüringen haben wir 5000 Tageseinpendler aus Tschechien. Allerdings liegen wir nicht nur bei der Inzidenz auf Platz 1, sondern auch bei den Impfungen. Darauf können wir stolz sein.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern seit Anfang des Jahres einen harten Lockdown, weil nur so die Verbreitung der Mutante B117 gestoppt werden könne. Warum folgt die Politik in diesem Punkt dem Rat der Wissenschaft nicht?
Weil es „die Wissenschaft“ nicht gibt. Zu jeder vorgeschlagenen Maßnahme gab es auch genauso viele Gegenvorschläge. Die Virologen sagen ‚Schulen zu‘ und die Kinderärzte sowie Psychologen sagen ‚Schulen auf‘. Und bei manchen stimmt das, was sie gestern gesagt haben, auch nicht mit dem überein, was sie übermorgen sagen. Wir haben einen eigenen wissenschaftlichen Beirat, und auf den hören wir.

Tschechien hatte einen unglaublich harten Lockdown und ist dann zurückgekehrt in die Normalität. Das Ergebnis war, dass Tschechien den stärksten Anstieg aller Nachbarländer hatte und wir im Dezember und Januar mit der britischen Mutante von dort stark betroffen waren.

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Ein harter Lockdown bringt also nichts?
Doch, aber nur, wenn man ihn wenigstens konsequent anwendet und die Mobilität und damit die Vermeidung von Kontakten insgesamt deutlich reduziert wird. Ich blicke da mit Neid auf Neuseeland, das immer als Beispiel genannt wird. Die Situation dort ist aber eine ganz andere. Isolation kommt von Isola und meint übersetzt Insel und genau darin liegt ein Teil des Erfolges in Neuseeland oder Australien. Die können jedes Flugzeug und jedes Schiff kontrollieren.

Wo sehen Sie Versäumnisse in der Coronapolitik?
Wir hätten einen generellen Lockdown gebraucht. Über Weihnachten hätten wir in Deutschland alles herunterfahren sollen. Deshalb habe ich der Kanzlerin später öffentlich Recht gegeben. Dann hatte ich die Hoffnung, dass es an Ostern klappt. Die Osterruhe ist nicht an den Ländern gescheitert, sondern letztlich am Lobbyismus.

Immer dann, wenn es um die Wirtschaft geht, ist die Aufregung groß. Wir sollten jedoch nicht immer nur die gleichen Branchen – Gastronomie, Hotellerie und Einzelhandel - zur Pandemieabwehr heranziehen. Die Lastenverteilung in der Wirtschaft ist ungleich. Das wird auch verfassungsrechtlich zum Problem.

Weitere Lockerungen sind so schnell nicht in Sicht.
Weitere Lockerungen sind so schnell nicht in Sicht.
© Oliver Berg/dpa

Sie haben im Januar gesagt, die Kanzlerin habe im vergangenen Jahr Recht gehabt mit der Forderung nach härteren Maßnahmen, Sie selbst hätten Unrecht gehabt. Haben die Ministerpräsidenten den gleichen Fehler nicht in diesem Jahr wiederholt?
Die Kanzlerin hatte damals Recht mit der Forderung nach einem breiteren Lockdown - doch nun stellte sich die Kanzlerin hin und sagte: Jetzt muss ich erst einmal nachdenken. Es gab den Vorschlag, Gründonnerstag und Ostersamstag alles zu schließen, die sogenannte Osterruhe. Dann machte die Wirtschaft Druck, oder die Kanzlerin bekam kalte Füße. Das Kanzleramt hat am Ende nicht geliefert.

Aber was hindert Sie daran, in Thüringen selbst härtere Maßnahmen umzusetzen, wenn Sie das für richtig halten?
Sie können doch keine isolierten Maßnahmen ergreifen, wenn Sie mittendrin liegen. Sollen wir etwa die Autobahnen sperren und durch Thüringen niemanden mehr durchlassen? Thüringen hat keinerlei Außengrenzen, sondern ist quasi die Drehscheibe mit Autobahnen und ICE-Schnelltrassen. Nicht ohne Grund liegt bei uns der gemessene Mittelpunkt Deutschlands.

Sie haben ja gerade schärfere Regeln für die private Wirtschaft angesprochen. 
Diese Regeln brauchen wir dringend. Jeden Tag fahren 40 Millionen Menschen zur Arbeit. Man muss solche Regeln aber bundesweit umsetzen, um die Lasten auf alle Schultern zu verteilen. Zum Beispiel dürfen Zulieferbetriebe nicht am Ende diejenigen sein, die bestraft werden, weil sie die Teile nicht liefern können, nachdem wir ihnen die Bude zugemacht haben. Eine solche Maßnahme kann nur bundeseinheitlich erfolgen.

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Reicht die nun beschlossene Notbremse aus, um die Zahlen zu senken?
Die Ministerpräsidentenkonferenz hätte die Bundesnotbremse gemeinsam beschließen müssen. Wir haben vom Kanzleramt seit Februar einen Stufenplan verlangt, aber nicht bekommen. Es ist schon seltsam, bei der jetzt beschlossenen Regelung von einer Notbremse zu sprechen.

In Thüringen wird die Notbremse gar nichts bringen. Fast alles, was in dem geänderten Gesetz steht, wird bei uns bereits praktiziert. Die einzige Konsequenz für uns ist, dass wir den größten Teil der Schulen schließen müssen. Die Kinder sind am Ende wieder die Leidtragenden.

Aber tragen geschlossene Schulen nicht zur Senkung der Infektionszahlen bei?
In diesem Gesetz wird plötzlich als Grenzwert für die Schließung von Schulen eine Inzidenz von 165 genannt. Da hätte auch eine beliebige andere Zahl stehen können. In Thüringen ist ja sonst nichts gelockert worden. Im Gegensatz zum Saarland oder zu Rheinland-Pfalz waren bei uns weder die Läden noch die Außengastronomie geöffnet. Trotzdem müssen jetzt die Schulen geschlossen werden.

Außerdem wollen wir mit Tests, Impfungen und Hygienemaßnahmen Schulen und Kindergärten zu sichereren Orten machen. Die Beschäftigten haben wir bei den Impfungen priorisiert, und sie haben rege Gebrauch davon gemacht. Im Landkreis Greiz wurden zum ersten Mal Ringimpfungen bei den Eltern vorgenommen, um auch da den Schutz zu erhöhen. Nun ist wieder nur alles zu.

Bodo Ramelow vor Beginn einer Landtagssitzung in Erfurt.
Bodo Ramelow vor Beginn einer Landtagssitzung in Erfurt.
© Martin Schutt/dpa

Sie haben gefordert, dass sich die Ministerpräsidenten nicht mehr in einer Videokonferenz austauschen, sondern persönlich treffen. Wären damit die größten Probleme dieses Formats gelöst?
Es würde schon helfen, wenn nicht mehr alles permanent nach außen kommuniziert wird. Wir müssen endlich wieder menschlich miteinander reden können und dabei auch mal einen scheinbar dummen Gedanken äußern dürfen. Daraus entsteht dann vielleicht ein neuer, guter Gedanke. Wir sind in einer Situation, in der wir viele Fragen gar nicht beantworten können und jedes Mal nach neuen Lösungen suchen müssen.

Vor Corona hat sich kein Mensch in Deutschland für Ministerpräsidentenkonferenzen interessiert. Jetzt haben wir 13 Monate Dauerstress mit wöchentlichen MPKs und entsprechenden Fragen fast rund um die Uhr. Und dann schicken mir besorgte Bürger auch noch kistenweise Kerzen.

Was bedeutet das für Sie persönlich?
Man muss aufpassen, dass man sich nicht mehr alles annimmt. Ich muss mir permanent anhören, dass ich schuld an jedem Toten sei und dass irgendwann abgerechnet werde. Die einen wollen mich vors Volksgericht stellen, weil ich ihnen die Grundrechte genommen hätte. Und die anderen stellen mich vor ihr moralisches Gericht, weil sie sagen, ich hätte die Menschen ermordet.

Als Grabkerzen vor Ihre Wohnung gestellt wurden und sogar Ihre Frau Drohbriefe bekam, haben Sie da irgendwann mal gedacht: Jetzt reicht's?
(zögert zum ersten Mal in diesem Gespräch)
Diese Frage kann man klar beantworten: Ja. Ich habe aber keine Lust auf eine Debatte darüber, ob ich amtsmüde bin. Wir sind alle erschöpft.

Was war in diesem Corona-Jahr für Sie persönlich das schlimmste Erlebnis?
Dass ich Menschen verloren habe, die ich nie mehr wiedersehen werde. Fünf Menschen, die ich kannte, sind an oder mit dem Virus gestorben. Bei fast keinem konnte ich Abschied nehmen. In einem Fall bin ich in weiter Entfernung auf dem Friedhof gewesen, um meiner Nachbarin die letzte Ehre zu erweisen. Das hat sogar zu einem Vorermittlungsverfahren geführt.

Jemand hat Sie deswegen angezeigt.
Ich hatte ein Verfahren am Hals, weil ich in einem Interview zugegeben habe, dass ich bei dieser Beerdigung, an der ich nicht teilgenommen habe, auf dem Friedhof anwesend war. Ich merke, wie dünn meine Haut wird, mit so etwas noch menschlich umzugehen. Und dann diese Dauerbelastung – seit 13 Monaten jeden Tag das gleiche Ritual: Als erstes schaue ich morgens auf die Zahlen des RKI.

Lassen Sie uns über die Bundespolitik reden. Die Grünen haben gerade Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin aufgestellt. Ist aus Ihrer Sicht eine grün-rot-rote Koalition überhaupt realistisch?
Die Grünen setzen darauf, dass sie Platz 1 erreichen können. Das wäre sensationell. Denn das ist das Ende der Bonner Republik. Früher galt Schwarz-Grün als undenkbar. Da gab es die Bilder von Joschka Fischer mit den Steinen in der Hand. Der damalige hessische Ministerpräsident Holger Börner sagte über grüne Demonstranten den legendären Satz, auf der Baustelle habe man so etwas früher mit der Dachlatte erledigt.

Im selben Bundesland reagiert heute Volker Bouffier mit den Grünen völlig geräuschlos. Der Mann, der früher ein Innenpolitiker der schlimmsten Sorte war, ist auf einmal der Flexibelste überhaupt, der so viel Grün zulässt und es trotzdem hinbekommt, dass es die CDU nicht zerreißt. Das ist jetzt eine andere Republik.

Schwarz-Grün in Hessen: Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir (Grüne) und Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU)
Schwarz-Grün in Hessen: Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir (Grüne) und Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU)
© Boris Roessler/picture alliance/dpa

Wäre in dieser anderen Republik auch Grün-Rot-Rot möglich?
Ich persönlich würde Grün-Rot-Rot sehr begrüßen. Aber ob sich die Grünen darauf einlassen, weiß ich nicht. Ich sehe auch nicht ein, warum wir Linke immer über Stöckchen springen sollen. Die Frage, wie mit der Nato umgegangen wird, müssen die Grünen auch mal für sich klären. Nicht nur meine Partei ist bei diesem Thema sehr unentschieden. In der Nach-Trump-Ära kann man wieder deutlicher sagen: Wir sind die Freunde der Amerikaner.

Aber dennoch sollten die Amerikaner endlich ihre Atomraketen aus Deutschland abziehen. Und ich möchte auch nicht unser Land dauernd in geostrategische Interessen der amerikanischen Regierung reingezogen sehen. Wir müssen in Europa anfangen, unsere Hausaufgaben allein zu machen. Wir brauchen niemanden, der uns sagt, wie wir das tun sollen. Diese Einmischung, die wir in den Nachbarländern erleben, führt dazu, dass permanent Spannungen in Mittel- und Osteuropa geschürt werden.

Machen Sie wirklich die Regierung in Washington für Spannungen in Osteuropa verantwortlich – und nicht Russlands Eingreifen in der Ukraine?
Ich bin nun wirklich kein Freund von Herrn Putin. Ich habe auch nicht die Vorstellung, dass in Russland unter Putin eine Demokratie mit Gewaltenteilung und unabhängiger Justiz herrscht. Trotzdem ist es zu einfach, wenn wir den Konflikt in der Ukraine immer nur Herrn Putin anhängen. Es sind schon zwei Seiten, die für eine permanente Destabilisierung sorgen. Deswegen schlage ich mich weder auf die Seite des einen noch des anderen, aber ich sehe und höre von den Waffen auch der USA in Mittel- und Osteuropa.

Die Linke fordert in ihrem Wahlprogramm eine Schrumpfung des Verteidigungshaushalts um zehn Prozent pro Jahr. Ist damit eine grün-rot-rote Koalition vom Tisch, bevor sie ernsthaft diskutiert wurde?
Man muss ja Visionen haben. Diese Forderung bringt zum Ausdruck, dass Abrüstung ein Gebot dieser Zeit ist. Wenn man allerdings der Logik folgt, dass man jedes Jahr zehn Prozent abbaut, hat man nach zehn Jahren nichts mehr. Das ist nicht praktikabel. Ich bin da eher “old school” und halte eine Parlamentsarmee, eine Armee zur Landesverteidigung für wichtig.

Auch in Thüringen wird ja im September gewählt. In den Umfragen zeichnet sich weiter keine klare Mehrheit für Rot-Rot-Grün ab. Würden Sie notfalls weitermachen in einer Minderheitsregierung mit Tolerierung durch die CDU?
Auf diese Frage kann ich Ihnen keine Antwort geben. Ich wünsche mir eine eigene Mehrheit. Aber wenn wir die nicht bekommen, kann ich aus dem Amt nicht einfach verschwinden. Was die Thüringer CDU angeht - die ist jeden Tag in Opposition zu sich und auch zu der eigenen Bundesregierung. Für das, was ich in der Pandemiebekämpfung umsetze, weil es Frau Merkel von uns verlangt, werde ich von der CDU in Thüringen beschimpft.

Und wenn Sie eines Tages nicht mehr Ministerpräsident sind - haben Sie schon Pläne für ein Leben nach der Politik?
Ach, es gäbe noch genug, was ich anpacken könnte. Ich würde nicht darunter leiden, nicht Politik zu machen. Ich sitze auch nicht hier, weil ich nichts Besseres zu tun habe. Diese Dreierkoalition wollte ich. Die Bonner Republik zu verabschieden ist mir eine große Freude. Jetzt will ich noch ein bisschen Politik mitgestalten, aber bitte aus Thüringer Perspektive.

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