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Dschihadisten sehen in Syrien eine Aufgabe. Nicht alle sind gleich so radikal wie die Al-Nusra-Front.
© AFP

Bürgerkrieg in Syrien: „In Syrien wird ein defensiver heiliger Krieg geführt“

Der amerikanische Terrorexperte Matthew Levitt über die Motive der Dschihadisten im Kampf gegen das Regime von Baschar al Assad und die Gefahren für Europa durch die Extremisten, die aus dem Nahen Osten zurückkehren.

Immer mehr Dschihadisten zieht es nach Syrien. Was macht das Land so anziehend für „Gotteskrieger“ aus aller Welt?

Syrien ist zu einem regelrechten Magneten für Dschihadisten geworden, vor allem sunnitische – und das in stärkerem Maße, als es Afghanistan, Irak oder Kosovo waren. Dafür gibt es viele Gründe. Da ist zum Beispiel die geografische Lage Syriens. Das Land ist schnell und einfach zu erreichen, gerade von Europa aus. Ein Flug kostet nicht viel, und mit Autos gelangt man über die Türkei ohne große Komplikationen dorthin. Ein weiterer Faktor sind die sozialen Medien.

Inwiefern?
Sie ermöglichen es, sich jederzeit von jedem Ort aus über die Lage in Syrien zu informieren – gewissermaßen in Echtzeit. Man weiß einfach über alles Bescheid: Mit welchem Bus komme ich als Kämpfer zu meinem Ziel? Wo kann ich günstig ein Sturmgewehr kaufen? Was machen meine Brüder im Geiste? Aber noch etwas macht Syrien für „Heilige Krieger“ zu etwas Besonderem.

Und das wäre?
Sie müssen sich nicht gleich den radikalsten Kräften, etwa Al Qaida, ideologisch verbunden fühlen, um in den „heiligen Krieg“ zu ziehen. Für viele Kämpfer gilt zunächst einmal: In Syrien wird kein „offensiver“ Dschihad geführt, sondern ein „defensiver“. Es geht darum, unschuldige Muslime zu verteidigen – Frauen, Kinder, Alte, die sonst vom Assad-Regime niedergemetzelt werden. Und wer aus diesem Grund von Amerika oder Deutschland aus in den Krieg zieht, wähnt sich sogar auf einer Linie mit seinen Regierungen. Nach dem Motto: Wir sind doch alle gegen Assad! Aber während die uns Regierenden nichts gegen das Grauen tun, sind wir bereit, dem Schrecken etwas entgegenzusetzen.

Welche Rolle spielt die Religion?

Eine religiöse Komponente gibt es nicht?
Doch, auf jeden Fall. Die kommt gewissermaßen noch als argumentatives Dach oben drauf. Sunnitische Kämpfer sind davon überzeugt, dass sie von Schiiten wie Alewiten gezielt angegriffen werden. Da kommen die uralten, massiven Spannungen zwischen beiden muslimischen Glaubensrichtungen zum Tragen.

Matthew Levitt (43) gehört zu Amerikas renommiertesten Experten für islamistischen Terrorismus. Er berät seit Jahren US-Behörden und Ministerien im Antiterrorkampf.
Matthew Levitt (43) gehört zu Amerikas renommiertesten Experten für islamistischen Terrorismus. Er berät seit Jahren US-Behörden und Ministerien im Antiterrorkampf.
© Doris Spiekermann-Klaas

Unter den Kämpfern sind viele junge Männer aus Europa. Wie ist das zu erklären?
Es scheint, dass die vierte Generation der muslimischen Einwanderer sich keiner Welt richtig zugehörig fühlt. Es fehlt eine Bindung an das soziale Umfeld in der jeweiligen Heimat. Schauen Sie sich Frankreichs Vorortsiedlungen an. Die dort lebenden jungen Leute fühlen sich weder als echte Franzosen noch als Araber oder Muslime. Vielen wissen nicht einmal richtig über ihre Religion Bescheid.

Ihnen fehlt eine Identität?
Genau. Und sie haben oft keinen vernünftigen Job, geschweige denn eine richtige Aufgabe. Nichts, worauf man stolz sein könnte. Und dann sehen sie im Internet, wie syrische Frauen und Kinder massakriert werden. Diesen Opfern zu helfen, sie möglichst zu schützen – das halten die jungen Männer für eine Mission, die ihrem Leben Sinn gibt.

Welche Rolle spielt die generelle Ablehnung des Westens und seiner Lebensweise?
Ich bezweifle, dass dies bei der Radikalisierung der jungen Männer anfangs ein wirklich relevanter Faktor ist. Mir sind keine Fälle bekannt, in denen die Menschen explizit darauf verwiesen haben, der Westen als Lebensmodell sei ihr erklärter Feind. Im Gegenteil. Sie sind ein westliches Leben gewohnt, nutzen gerne und intensiv die sozialen Medien, schätzen es zu reisen. Und häufig kehren sie nach ihrem „Einsatz“ in Syrien wieder nach Hause zurück. Manchmal auch, weil sie sich im Nahen Osten fremd fühlten oder es ihnen als „Westler“ schwerfiel, sich ein- und gegebenenfalls unterzuordnen.

Die offene Gesellschaft muss mit Telefonüberwachung geschützt werden

Sicherheitsbehörden warnen davor, dass Islamisten nach Europa zurückkehren könnten, um Anschläge zu verüben.
Wir wissen leider wenig Zuverlässiges über die Zahl der ausländischen Dschihadisten, die in den Syrienkrieg ziehen. Und wir haben kaum Informationen darüber, wer als militanter Extremist zurückkehrt, um in der Heimat Anschläge zu verüben. Aber alle Experten sind sich einig: Diese Gefahr existiert, sie ist groß. Und es ist schwierig, ihr effektiv zu begegnen.

Warum?
Dschihadisten, die nach Hause kommen, haben Pässe. Sie sind Bürger ihres Landes, haben entsprechende Rechte, kennen das System. Und das macht es ihnen möglich, sich unauffällig wie unerkannt zu bewegen. Nehmen wir einfach mal an, 300 Kämpfer kehren in ein europäisches Land zurück – wie soll man so viele Menschen 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche vollständig überwachen? Das ist unmöglich. Der Druck für die Sicherheitsbehörden ist daher enorm. Niemand darf einen Fehler machen. Denn die Folgen könnten katastrophal sein.

Wie kann eine offene Gesellschaft geschützt werden?
Sie können schon vorhandene Überwachungsmethoden besser als bisher nutzen, zum Beispiel bei Telefongesprächen. Schärfere Gesetze wären auch denkbar. Etwa in Form vorbeugender Festnahmen oder durch Entzug des Passes, damit potenzielle Dschihadisten gar nicht erst das Land verlassen können. Mir ist klar, dass dies rechtlich schwer umzusetzen ist. Deshalb müssen wir möglichst rechtzeitig erkennen, wenn sich jemand so sehr radikalisiert, dass er in den „heiligen Krieg“ ziehen will – und so zu einer Gefahr für alle wird. Denn eines ist sicher: Der blutige Konflikt in Syrien wird so schnell nicht enden.

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