zum Hauptinhalt

Politik: In seiner Macht

Chinesen, die sich Reformen und Modernisierung wünschen, hoffen auf ihn. Denn Xi Jinping, der designierte Chef der Kommunistischen Partei und künftiger Präsident des größten Volks der Erde, gibt sich offener als sein Vorgänger – zumindest ein wenig.

Er weiß Bescheid. Xi Jinpings Höhle? „Kenne ich“, sagt der Taxifahrer vor dem kleinen Flughafen von Yan’an. Er hat die zweistündige Fahrt nach Liangjiahe durch die ockerfarbenen Lößhügel der nordwestchinesischen Provinz Shaanxi in den letzten Wochen mehrfach unternommen. Mit Journalisten aus Japan, Korea oder Australien. Auf dem Weg zum Parkplatz aber wird er plötzlich unruhig. „Bitte keine Kamera mitnehmen, nur mit dem Handy fotografieren“, sagt Ling Wei, „beim letzten Mal bin ich von der Polizei verhaftet worden.“

Der kleine Ort Liangjiahe dürfte in den nächsten zehn Jahren nicht nur in China bekannter werden. Hier in der Nähe des Gelben Flusses musste Xi Jinping während der chaotischen Kulturrevolution (1966 – 1976) sieben Jahre seines Lebens in einer Höhlenwohnung verbringen. Er musste gemeinsam mit den Bauern arbeiten, nachdem sein Vater, der ehemalige Revolutionsgeneral und Vizepremierminister Xi Zhongxun, beim Großen Vorsitzenden Mao Zedong in Ungnade gefallen war. In dieser heute noch ärmlichen Region hat er Bitternis gegessen, wie die Chinesen sagen, doch hier lernte er auch wichtige Lektionen für sein Leben. So jedenfalls lautet die offizielle Version seiner Biografie. „Während der Jahre in Shaanxi habe ich gelernt, was Pragmatismus ist“, sagte Xi Jinping vor einigen Jahren dem chinesischen Staatsfernsehen CCTV, „das ist etwas, wovon ich mein ganzes Leben lang profitieren werde.“

Dieses 59-jährige Leben wird in der kommenden Woche seinen Höhepunkt erreichen. Wenn Xi Jinping wie erwartet nach dem Ende des gerade stattfindenden 18. Parteitages der Kommunistischen Partei Chinas zum neuen Parteichef gekürt wird. Im März wird er auch Staatspräsident werden, was ihn zu einem der mächtigsten Menschen der Welt machen wird: Zum Führer des größten Volks der Erde sowie der zweitgrößten Volkswirtschaft. Und, wie das Magazin „Time“ schreibt, zum „Führer der unfreien Welt.“

Der Taxifahrer Ling Wei jedenfalls fühlt sich nicht wohl dabei, einen Journalisten kurz vor Beginn des Parteitags zu jener Höhle zu fahren, in der Xi Jinping vor rund 40 Jahren lebte. Er fährt langsam und ruft kurz nach dem Flughafen einen Bekannten an, der gute Beziehungen zur örtlichen Polizei hat. Er soll ihn über die Lage in Liangjiahe informieren. Vor dem Fenster ziehen abgeerntete Maisfelder vorbei, ab und zu überholt das Taxi dreirädrige Lastwagen oder mit Süßkartoffeln beladene Eselskarren. Plötzlich erklingt der Radetzkymarsch, mitten in der chinesischen Provinz. Tadadam, tadadam, tadadamdamdam – es ist der Klingelton des Fahrers. Die Polizei meldet sich. Nach einem kurzen Gespräch sagt Ling Wei: „Bis zur Höhle wollen sie mich nicht fahren lassen, aber in den Ort kommen wir.“

Xi Jinping ist das, was man in China einen „Prinzling“ nennt: ein Sohn oder eine Tochter aus einer einflussreichen kommunistischen Familie. Xi Jinping wuchs im Pekinger Regierungsviertel Zhongnanhai auf. Die Prinzlinge gelten als einflussreiche und wirtschaftlich sehr erfolgreiche Fraktion innerhalb der Kommunistischen Partei. Der in diesem Jahr über einen Mordfall und Korruptionsvorwürfe gestürzte Chongqinger Parteichef Bo Xilai war auch einer von ihnen.

Viele Einzelheiten sind in den letzten Jahren über Xi Jinping und seine Familie bekannt geworden. In drei Jahrzehnten hat er sich über die Provinzen Hebei, Fujian und Zhejiang an die Spitze der Partei gearbeitet. In den östlichen Küstenprovinzen soll er die Grundlagen für den dortigen wirtschaftlichen Aufschwung gelegt haben soll. In Fujian lernte er auch seine zweite Frau, die in China berühmte Volkslied-Sängerin Peng Liyuan kennen.

Die Generalmajorin der Volksbefreiungsarmee sang lange Zeit in der berühmten Show zum Chinesischen Neujahr auf CCTV, die von bis zu 700 Millionen Chinesen gesehen wird. „Bei unserer ersten Begegnung fand ich seine Kleidung unmodisch und sehr einfach, sein Gesicht sah älter aus als er war“, erzählte Peng Liyuan der Zeitung „Zhejiang Daily“. Inzwischen sind allerdings derartige Interviews von der Zensur blockiert. Nun behauptet ein staatliches Portal, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen.

„Warum wird uns so viel über Xi Jinping erzählt?“, fragt sich der China-Experte Kerry Brown, „sein Vorgänger Hu Jintao war alles andere als ein offenes Buch, bei ihm wissen wir noch nicht einmal, wann sein Vater gestorben ist.“ Der Professor für Chinesische Politik an der Universität Sydney erklärt dies mit einem wichtigen Unterschied zwischen beiden: „Hu Jintao hatte noch die Unterstützung Deng Xiaopings.“ Tatsächlich wird Xi Jinping der erste Generalsekretär der Kommunistischen Partei sein, der nicht vom Großen Vorsitzenden Mao Zedong oder dessen Nachfolger Deng Xiaoping persönlich ausgesucht worden ist. Es fehlt ihm an Legitimität. Er muss das Volk überzeugen, dass er es aufgrund seiner jahrelangen harten Arbeit in der Partei an die Spitze geschafft hat.

Tatsächlich gilt Xi Jinping als guter Netzwerker, wobei ihm dabei seine Rolle als Prinzling hilft. Sowohl in der Fraktion der Kommunistischen Jugendliga, der Machtbasis Hu Jintaos, als auch in der sogenannten „Shanghai-Bande“, der Fraktion um den ehemaligen Parteichef Jiang Zemin, findet er Unterstützung. Auch zum Militär soll er gute Verbindungen besitzen. Das ist auch der Grund, warum er laut einer von Wikileaks veröffentlichten US-Diplomatendepesche Li Keqiang ausgestochen hat. Dieser war eigentlich von Hu Jintao als Nachfolger vorgesehen, konnte sich aber innerhalb der Parteiführung nicht durchsetzen und wird nun „nur“ Premierminister. „Ausgewählt zu werden, obwohl Hu einen anderen bevorzugt hatte, zeugt von seiner Fähigkeit als politischer Manipulator“, sagt der China-Experte Steve Tsang von der Universität von Nottingham.

Xi Jinpings Karriere aber startete ausgerechnet in Liangjiahe, wo er 1974 in die Kommunistische Partei eintrat und wo er den Dorfbewohnern beibrachte, aus Schweinedung Biogas zu erzeugen.

Liangjiahe rückt näher, was sich allein schon aus der immer kürzeren Frequenz der Polizeianrufe schließen lässt. Tadadam, tadadam, tadadamdamdam – ertönt jedes Mal der Radetzkymarsch. Irgendwann sagt der Fahrer: „Wir dürfen nicht nach Liangjiahe fahren – die Polizei befürchtet, dass etwas Negatives über Xi Jinping geschrieben werden könnte.“ Lediglich an der Zufahrtsstraße darf er halten. Dort sind Erdarbeiten im Gange. Eine Frau kommt mit einer Hacke über der Schulter vorbei. „Ja, Xi Jinping hat dahinten gewohnt“, sagt sie, „ich habe ihn aber nicht gekannt.“ Mehr will sie nicht sagen.

Nicht nur in Liangjiahe, vor allem in Peking schlägt während des nur einmal in zehn Jahren stattfindenden Machtwechsels in der Einparteiendiktatur die Stunde der Sicherheitskräfte. Die Stadt hat das schon während der Olympischen Spiele 2008 oder nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an den inhaftierten Dissidenten Liu Xiaobo 2010 erlebt. Die Kontrolle des Internets erreichte sogar ungekannte Ausmaße. Am Freitagabend funktionierten Google-Dienste nicht mehr und sogar VPN-Tunnelverbindungen, die den ungefilterten Datenverkehr mit dem Ausland ermöglichen sollen, wurden immer wieder unterbrochen. Chinas Internetnutzer nennen den 18. Parteitag (shibada) nur noch Sparta (sibada), weil er so militärisch umgesetzt wird. Über 1000 Dissidenten wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen verhaftet oder in ihre Heimatprovinzen verschickt.

Die Kontrollparanoia der Kommunistischen Partei trägt zum Teil kuriose Züge. In Pekings Taxis fehlen plötzlich die Fensterheber an den Rücksitzen. Sie mussten abgeschraubt werden, damit niemand politische Flugblätter aus dem Fenster werfen kann. Taubenzüchter dürfen ihre Tiere nicht mehr fliegen lassen, selbst Kinderspielzeug wie ferngesteuerte Hubschrauber oder Flugzeuge dürfen zurzeit in Peking nicht abheben.

Der riesige Sicherheitsapparat ist nur eines von vielen schwierigen Erbstücken Hu Jintaos für Xi Jinping. „Der Sicherheitsapparat ist zu einem unverantwortlichen Imperium geworden“, sagt China-Experte Kerry Brown. In diesem Jahr übertreffen die Ausgaben für die interne Sicherheit erstmals den Militärhaushalt. Möglicherweise wird Xi Jinping versuchen, die Macht der Sicherheitskräfte wieder einzuschränken. Darauf weist die offenbar geplante Verkleinerung des Ständigen Ausschusses des Politbüros von neun auf sieben Vertretern im höchsten politischen Gremium Chinas hin. Das könnte aber ebenso gut nur eine Maßnahme sein, um die Effektivität des Gremiums zu verbessern.

Das China des Jahres 2012 hat mit dem China der Revolutionszeit nicht mehr viel zu tun. Das zeigt sich sogar in Yan’an, nur zwei Stunden entfernt von Xi Jinpings ehemaliger Höhle. „Wiege der Revolution“ wird die Stadt genannt, auch deswegen, weil sie zwischen 1935 bis 1948 das Hauptquartier der Kommunistischen Partei im Bürgerkrieg war. Der Kommunismus blüht nur noch als roter Tourismus, ein Musical spielt die Revolution nach und lässt Panzer auffahren. Selbst im Revolutionsgarten vor Mao Zedongs ehemaliger Wohnhöhle werden Devotionalien verkauft. Eine Revolutionstasse kostet sieben Euro. Vor der Höhle haben junge Chinesen zwei Euro bezahlt, um Revolutionskleidung anzuziehen und sich mit dem Handy gegenseitig zu fotografieren. Was hat Mao mit dem heutigen China zu tun? „Gar nichts“, sagt der junge Chinese mit dem künstlichen Gewehr.

„Sozialismus mit chinesischen Merkmalen“ nennt die aktuelle Führung die Staatsform des modernen Chinas, dessen Wirtschaft in den letzten zehn Jahren jährlich mit durchschnittlich mehr als zehn Prozent gewachsen ist. Wie das Land unter Xi Jinping aussehen wird, ist nicht bekannt. Politisch hat er sich zuletzt kaum festgelegt, hat sich weder auf die Seite der Reformer noch der Konservativen in der Partei geschlagen. Anfang September verschwand er sogar für zwei Wochen ganz aus der Öffentlichkeit, was Spekulationen über einen angeschlagenen Gesundheitszustand nährte. Nur aus der Tatsache, dass er zur fünften Generation kommunistischer Führer zählt, werden einige Erwartungen an ihn abgeleitet.

Die in den fünfziger Jahren geborene Führungsgeneration hat in ihrer Jugend die Exzesse der Kulturrevolution erlebt und Anfang der achtziger Jahre den intellektuellen Frühling an Chinas Universitäten. Viele haben anschließend Erfahrungen im Westen gesammelt. Xi Jinping besuchte 1985 die US-Provinz Iowa zu landwirtschaftlichen Studien. Er gibt sich als gewitzter und offener Gesprächspartner. Ganz anders als sein Vorgänger Hu Jintao.

„Ich glaube, dass die Führung, die die Kulturrevolution erlebt hat, versuchen wird, das Land in Richtung Rechtsstaatlichkeit zu modernisieren“, sagte der China-Experte Michel Bonnin der „South China Morning Post“. Ebenso äußerte sich der Historiker Yuan Weishi. „Die neue Generation ist anders als die vorhergehende“, sagt er, „ihre Mentalität ist weniger autoritär.“ Deshalb glauben manche Experten, Xi Jinping werde politische Reformen vorantreiben. Laut Umfragen chinesischer Zeitungen werden diese von mehr als 80 Prozent der Chinesen gewünscht. Auch einige der Parteiältesten forderten zuletzt eine demokratische Entwicklung, um die Korruption in der Partei zu bekämpfen.

Möglicherweise aber ist Xi Jinping schon zu tief in das politische System Chinas verstrickt, das Macht gegen Geld eintauscht, um weitreichende Reformen durchzuführen. Recherchen der Agentur „Bloomberg“ ergaben, dass die Familie des künftigen Staatspräsidenten über Vermögenswerte von 376 Millionen Dollar verfügt. Die Agentur betonte zwar, dass dem aktuellen Vizepräsidenten nichts Illegales vorzuwerfen sei, trotzdem wird „Bloomberg“ seit dem Bericht in China von der Zensur blockiert.

Weil Xi Jinpings Vater die gewaltsame Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Tiananmen-Platz verurteilt und den Dalai Lama persönlich gekannt hatte, hoffen Menschenrechtsgruppen, dass sein Sohn eine Neubewertung des Tiananmen-Massakers oder eine neue Tibet-Politik Chinas einleiten könnte. Doch Reformen jeder Art sind innerhalb der Partei schwierig durchzusetzen, denn sie dürfen nicht ihren alleinigen Führungsanspruch beeinträchtigen.

Auch auf der Fahrt nach Liangjiahe hat die Partei deutlich gemacht, wer das Sagen hat. Auf dem Rückweg meldet sie sich noch ein letztes Mal. Tadadam, tadadam, tadadamdamdam. Fahrer Ling Wei gibt in dem Telefonat seinem Fahrgast aus Deutschland das Synonym „Merkel“, er soll nicht merken, dass über ihn gesprochen wird. Die Polizei hat offenbar noch ein Anliegen. Als das Telefongespräch beendet ist, fragt der Fahrer: „Und, was haben Sie morgen vor?“

Benedikt Voigt

Zur Startseite