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Teilnehmerinnen einer Demonstration am Sonntag in Barcelona.
© Enrique Calvo/Reuters

Kampf um Unabhängigkeit: In Katalonien geht es um mehr als Politik

Katalonien und Spanien, das ist wie eine gescheiterte Ehe. Die Stimmung ist vergiftet. Weil es auch um verletzte Gefühle geht, wächst die Angst vor Gewalt.

Wenn Chakir El Homrani an diesem Dienstag in Granollers auf sein Motorrad steigt, die 25 Kilometer nach Barcelona fährt, dort am Nachmittag das Parlament betritt, sich in der vierten Reihe auf seinen Platz setzt, beginnen die vielleicht bedeutendsten Minuten seines Lebens. Homrani, ein leiser Typ mit sanftem Lächeln, zieht einen Tag zuvor in einem Café vor dem Parlament seine Lederjacke aus, legt den Motorradhelm ab und sagt: „Egal wie es ausgeht, die Regierung in Madrid wird unseren Kampf nicht unterdrücken können.“ Zu viel sei passiert, all die Proteste, die Streiks, das von der Bundespolizei auseinandergeprügelte Referendum.

An diesem Dienstag wird Carles Puigdemont, der Regierungschef Kataloniens, eine Rede in Barcelonas Parlament halten. Seine Worte werden nicht nur die katalanischen Abgeordneten wie Homrani, ja nicht mal nur Millionen spanischer Bürger verfolgen. Auf Puigdemonts Worte warten sie im UN-Hauptquartier in New York und bei der EU-Kommission in Brüssel. Ruft er die Unabhängigkeit aus? Oder beugt er sich Spaniens König Felipe VI. und Ministerpräsident Mariano Rajoy, die den Aufrührer Puigdemont am liebsten verhaften lassen würde? Noch am Vorabend der Rede drohte Rajoy Puigdemont, auf eine Unabhängigkeitserklärung "mit harter Hand“ zu reagieren.

Chakir El Homrani, 38 Jahre alt, Sohn marokkanischer Einwanderer, ehemaliger Gewerkschafter, ist erst seit 2015 katalanischer Abgeordneter für die größte Linkspartei ERC. Damals gewannen bürgerliche, sozialdemokratische und linksradikale Separatisten und bildeten unter der Führung Puigdemonts eine Regierung. Am Vorabend der Rede ist Homrani aufgeregt, klar, aber nicht, weil er die Estelada, die katalanische Unabhängigkeitsflagge, hissen möchte: „Ich bin kein Nationalist, es geht mir nicht darum, eine Fahne durch eine andere zu ersetzen!“ Homrani ist ein sanfter Revolutionär, er wünscht sich mehr Demokratie, mehr Sozialstaat, mehr Respekt.

Am Vorabend der Rede Puigdemonts wirkt Barcelona längst nicht so euphorisch wie noch vor ein paar Tagen. Sicher, überall sind Plakate zu sehen, auf denen das Wahlrecht verteidigt, die Unabhängigkeit und eine „neue Republik" gefordert wird. Aber dass sich führende Separatisten zuletzt moderater äußerten, hat auch die Stimmung in den Bars, Hochschulen, Bussen gedämpft. Ein Minister der Regionalregierung hatte einen „Waffenstillstand“ zwischen beiden Seiten gefordert, um „irreparable“ Schritte zu vermeiden.

Chakir El Homrani.
Chakir El Homrani.
© Hannes Heine

Nicht nur die Stadt Barcelona und die Nation Spanien sind gespalten, der Riss verläuft quer durch Freundeskreise und Familien. „Ich meide es, mit bestimmten Bekannten über das Thema zu reden“, sagt Monica Nadal, die in Barcelona in der Nähe des Parlaments wohnt. Deshalb will sie ihren echten Namen auch nicht in der Zeitung lesen. Die Katalanin sitzt an ihrem Küchentisch und versucht, die verfahrene Situation in Worte zu fassen. Wie Nadal geht es den meisten Spaniern zurzeit: Die Debatte ist derartig aufgeheizt und vergiftet, dass es schwerfällt, nüchtern zu diskutieren. „Es geht um Identität“, sagt Nadal und streicht ihre dunklen Locken aus der Stirn. „So was hat immer viel mit Gefühl, wenig mit Argumenten zu tun.”

Historisch rebellisch

Historisch galt das katalanische Volk im Nordosten der Iberischen Halbinsel als rebellisch, nicht katholisch genug, abgehoben. Die Katalanen haben das zur Tugend gemacht. Künstler, Hausbesetzer, Freidenker zog es nach Barcelona, die Gewerkschaften sind in Katalonien besonders stark, nirgendwo in Spanien gibt es so viele Parteien. „Es gibt so unglaublich wenig Verständnis für Katalonien in Zentralspanien“, sagt Nadal. „Die Konservativen gewinnen dort mit katalanienkritischen Tönen die Wahlen.“ In Madrider Zeitungen stehe das Gegenteil von dem, was in Barcelonas Zeitungen steht. „Das war immer so“, sagt Nadal. „Es ist aber schlimmer geworden.”

In den vergangenen Wochen ist der jahrhundertealte Konflikt eskaliert, es gab Verletzte, die Positionen in Madrid und Barcelona scheinen unvereinbar. Politiker beider Seiten haben sich in eine Sackgasse manövriert. Überall im Land gingen Menschen auf die Straße, um eine der beiden Seiten zu unterstützen oder neue, ernsthafte Verhandlungen zu fordern. Und trotzdem werden Menschen in Madrid, Barcelona und ganz Spanien am Dienstag mit einem Gefühl der Ohnmacht vor dem Fernseher sitzen und darauf warten, was Puigdemont zu verkünden hat und was das für ihre Zukunft bedeuten könnte.

Nadal, Anfang 40, ist wütend. Auf die Ignoranten in Madrid, ein wenig aber auch auf die Separatisten. Denen, sagt sie vorsichtig, sei vielleicht sogar gelegen gekommen, dass Ministerpräsident Rajoy so brutal durchgreifen ließ. Bei dem von Spaniens Justiz verbotenen Referendum prügelten am 1. Oktober angereiste Bundespolizisten der berüchtigten Guardia Civil auf Katalanen ein. Schlagstöcke, Gummigeschosse, zertrümmerte Abstimmungslokale – die Bilder blutender Wähler gingen um die Welt. Auch Nadal war an jenem 1. Oktober aufgewühlt zur Wahl gegangen. Sie berichtet, über Katalonien habe am Tag des Referendums zunächst „ein Gefühl von Geschichte, von Zauber, von Aufbruch“ gelegen.

Nadal war bewegt von dieser historischen Stunde, als eine von nur 65 697 Katalanen machte sie ihre Stimme jedoch ungültig. Sie findet: Abspaltung nein, Recht auf Referendum ja.

Mehr als 90 Prozent der Katalanen, die beim Referendum abgestimmt haben, wollen die Unabhängigkeit.

Mit jeder Drohung verhärten sich die Fronten

Historisch waren die Katalanen mehrheitlich für Autonomie, nicht Separation. Das änderte sich während der Finanzkrise, als Madrid auch in Katalonien sparen ließ, vor allem aber 2010. Damals erklärten spanische Verfassungsrichter auf Klage der Partido Popular, der rechtskonservativen Partei des heutigen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy, dass die den Katalanen garantierte Autonomie verfassungswidrig sei. In Katalonien wich die traditionelle Forderung nach Anerkennung als innerspanische Nation fortan dem Aufruf nach Unabhängigkeit.

Nach dem Referendum, den Gewaltausbrüchen der Guardia Civil und den Drohungen aus Madrid verhärten sich die Fronten weiter. „Ich habe inzwischen aufgehört, Nachrichten zu schauen”, sagt Nadal, „weil mich all die Verlautbarungen nervös machen. Ich schlafe seit Tagen kaum.“ Aus dem Haus ist sie zuletzt trotzdem gegangen, um für das Recht zu wählen auf den Straßen Barcelonas zu demonstrieren.

Nadal hat Psychologie studiert, spricht neben Kastilisch, also Hochspanisch, auch Katalanisch, Französisch, Englisch. Sie arbeitet für gemeinnützige Verbände, hilft bei Kampagnen, Vermittlungsproblemen, Konflikten. Zu dem vor ihrer Haustür sagt sie: Das sei wie eine arrangierte Ehe, die beide Partner eben ertragen hätten – nun will sich die Frau vom Mann trennen.

Und jetzt droht der Mann mit Schlägen. Dabei findet Monica Nadal, diese Ehe habe noch eine Chance. Ohne Eheberater, einen externen Vermittler, der wie im Krieg zu Friedensverhandlungen lädt, werde es aber nicht klappen. Auch die Führung der Katalanen wünscht sich einen internationalen Mediator, Madrid weist bislang aber jede Einmischung zurück. Was in Spanien geschehe, so die Meinung der Regierung, gehe eben nur Spanien an.

Richtig so, sagt Miguel Moreno, während er am Sonntag – eher unspanisch – in einem Mc Donald’s in Barcelona sitzt. An diesem Dienstag wird Moreno in seinem Heimatort nahe Tarragona vor dem Fernseher warten. „Ich habe sowieso keinen Job“, sagt Moreno und lacht. „Aber mal im Ernst: Es geht um unser Land!“ Und dann redet Moreno über die Nation, die unteilbar sei, über den König, diesen volksnahen Mann, über den Stierkampf, den diese linken Katalanen einfach nicht verstünden. Über Carles Puigdemont sagt Miguel Moreno: „Ab ins Gefängnis!“ Moreno - 26 Jahre, erwerbsloser Betriebswirt, bei seinen Eltern wohnend – kneift die Augen zusammen: „Wenn wir das hier in Barcelona zulassen, wird es unser Land bald nicht mehr geben. Dann kommen auch im Baskenland die Terroristen zurück.“

Nicht ohne Gewalt

In Barcelona ist Miguel Moreno an diesem Sonntag, weil er mit Hunderttausenden für Spaniens Einheit demonstriert. In Bussen fuhren die Demonstranten aus dem ganzen Land nach Barcelona. Madrider Medien sprechen von 900 000 Teilnehmern, katalanische Zeitungen von 300 000. Für Moreno muss Barcelona so was wie Feindesland sein. An Fenstern, Autos, Rucksäcken hängt die Estelada, Moreno würde sie am liebsten abreißen.

Miguel Morenos Familie stamme aus Andalusien, sagt er, einfache Arbeiter. Sie halten zu Ministerpräsident Mariano Rajoy. Dessen rechtskonservative Partido Popular regiert in Madrid mit absoluter Mehrheit, in Katalonien ist die PP mit zehn Prozent der Stimmen eine Splitterpartei. Zu Hause spreche er Kastilisch, also das Hochspanisch. Mit Nachbarn, Bekannten, Verkäufern redet er oft Katalanisch. „Aber wir sind alles Spanier. Stellt euch vor, die Hamburger sagen: Wir sind mit unserem Hafen ein eigener Staat.“

Unstrittig ist, dass sowohl die Regionalregierung von Carles Puigdemont als auch die Zentralregierung Rajoys legitimiert sind. In Mariano Rajoys rechtskonservativer PP würden einige gern härter gegen die Separatisten vorgehen – ganz so, als sei am 1. Oktober nicht genug Blut geflossen. Am Sonntag haben sie Schilder hochgehalten, darauf: „Ich liebe 155!“ Damit ist Paragraf 155 gemeint, der es der Zentralregierung erlaubt, die Provinzen zu entmachten.

Das wird wohl nicht ohne Gewalt gehen, vielleicht sogar nicht ohne den Einsatz der Armee. Schon immer waren die Separatisten unter den Katalanen die engagierteren. Nach den Übergriffen der Bundespolizei könnten sie tatsächlich die Mehrheit bilden. Doch auch die Gegenseite mobilisiert inzwischen ihre Anhänger zu Zehntausenden. Noch im Sommer, sagt Miguel Moreno, hätten Fitness-Studio, Freundin, Jobsuche seine Tage bestimmt. „Wir waren faul“, sagt er.

Wer könnte den Kampf beenden?

Auch Katalonien war einst ein eigener Staat, später gehörten die Katalanen mal zu Frankreich, mal zu Spanien. Katalanisch wird auch auf den Balearen, in Südfrankreich, im Westen Sardiniens gesprochen. Es ist mit Spanisch so verwandt wie Niederländisch mit Deutsch. Heute wird in Katalonien auf Katalanisch unterrichtet, auch Medien, Ämter, Regionalpolitiker meiden Spanisch gelegentlich. Zum Ärger Madrids. Der Nationalfeiertag der Katalanen ist der 11. September. Im Jahr 1714 fielen an diesem Tag kastilische, also zentralspanische Truppen in Barcelona ein. Madrids Monarchen regierten blutig. Ein General soll über die renitenten Katalanen gesagt haben: „Barcelona muss alle 50 Jahre zerstört werden.“

Mittlerweile fühlt sich die Hauptstadt Kataloniens erneut belagert – und reagierte entschlossen. Überall im Land organisierten Nachbarschaftskomitees, Feuerwehrleute und Studenten den Schutz von Wahllokalen gegen die Guardia Civil. Hafenarbeiter, Verwaltungsangestellte, Bauern streikten in den letzten Tagen, tonnenweise blieben Güter auf Zügen und Autobahnen stehen. Würden die Regionalminister verhaftet, wie es nach Madrids Rechtsauffassung offenbar möglich ist, bräche die Wirtschaft des Landes ein: Die katalanischen Parteien und Gewerkschaften würden zum Generalstreik aufrufen. Das träfe Spanien empfindlich, denn die Häfen Kataloniens, dazu seine Ingenieure, Chemiker, Handwerker stemmen wie im 19. Jahrhundert immer noch den Außenhandel des Landes. Viel steht am Dienstag auf dem Spiel, der Druck auf Carles Puigdemont ist in den vergangenen Tagen stetig gewachsen.

Monica Nadal ist sich nicht sicher, wie sie die Stimmung deuten soll. Das erste Mal seit Jahrzehnten, sagt Monica Nadal, könnte tatsächlich eine knappe Mehrheit für Unabhängigkeit sein. Aus Empörung, weil sie die Wut, der Aufbruchswille erfasst hat. Nadal verweist auf das katalanische Wort „rauxa“. Selbst im Spanischen fehle eine genaue Übersetzung, es bedeute so viel wie Furore, Manie, kreatives Chaos. Selbst wenn Carles Puigdemont nun doch nicht Kataloniens Unabhängigkeit ausruft, wird er den Millionen, die seit Jahren dafür kämpfen, Antworten geben müssen.

Wer könnte den Kampf beenden? „Das kann nur ein Vermittler sein, den sie in Madrid nicht ablehnen können“, sagt Monica Nadal. Ihr fällt da nur noch der Papst ein.

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