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Die von der Türkei abgeschossene russische Militärmaschine.
© dpa

Nach Abschuss der russischen Maschine: In der Türkei wächst die Kritik an Recep Tayyip Erdogan

Nach dem Abschuss des russischen Kampfjets wächst in der Türkei die Kritik an Präsident Recep Tayyip Erdogan. Russland verfügt nach eigenen Angaben über Informationen über Kontakte der Türkei zum IS.

Nach dem Anschuss des russischen Kampfjets an der syrischen Grenze bemüht sich die Türkei um Schadensbegrenzung. Präsident Recep Tayyip Erdogan bekräftigte am Mittwoch zwar, dass die Türkei im Recht gewesen sei. Doch er fügte hinzu, sein Land habe kein Intersse an einer weiteren Eskalation, sondern stehe „auf der Seite von Frieden, Dialog und Diplomatie“. In der türkischen Öffentlichkeit wurde der Abschuss als überzogen kritisiert. Wirtschaftsvertreter sorgen sich um russische Sanktionen.

NATO und USA hatten der Türkei bescheinigt, sie habe das Recht, ihren Luftraum gegen eindringende russische Flugzeuge zu verteidigen. Allerdings stellten neu bekannt gewordene Details die türkische Darstellung in Frage, wonach der Abschuss die einzig mögliche Reaktion war. Demnach flogen zwei russische Jets nur etwa 17 Sekunden lang durch türkisches Hoheitsgebiet. Die russischen Piloten waren zwar bereits fünf Minuten vorher gewarnt worden, weil ihr Kurs Richtung Türkei wies, doch da befanden sich die SU-24-Flugzeuge noch über Syrien.

Nach Angaben aus US-Regierungskreisen wurde das russische Flugzeug zudem nach Durchquerung des türkischen Luftraums über Syrien abgeschossen. Erdogan betonte zwar, Wrackteile des Jets seien über der Türkei niedergegangen und hätten zwei Zivilisten verletzt. Doch stellt sich angesichts einer nur wenige Sekunden langen Grenzverletzung die Frage, ob der Raketenbeschuss durch die türkischen F-16-Jagdflugzeuge tatsächlich die angemessene Antwort war.

Selbst Erdogan-Anhänger fragen nach dem Sinn des Abschusses

Viele türkische Beobachter verneinen das inzwischen. Ali Bayramoglu, ein prominenter Kolumnist der Erdogan-treuen Tageszeitung „Yeni Safak“, argumentierte, die türkischen Piloten hätten auch versuchen können, die russischen Maschinen abzudrängen. „Das Flugzeug statt dessen abzuschießen, weil fünfminütige Warnungen ignoriert wurden, ist zweifellos übertrieben und eine wenig kluge Machtdemonstration.“

Bayramoglu fügte hinzu, er hoffe, dass sich die Krise möglichst ohne größere Schäden beilegen lassen. Auch Mehmet Barlas, ein bekennender Erdogan-Fan unter den türkischen Journalisten, schrieb in der Zeitung „Sabah“, Ankara und Moskau sollten ihre Beziehungen nicht unklugen Entscheidungen von Luftwaffen-Piloten opfern. Die Oppositionspresse ist ohnehin der Ansicht, dass der Abschuss eine gefährliche Eskalation darstellt: „An der Schwelle des Krieges“, titelte die Erdogan-kritische Zeitung „Cumhuriyet“. Metin Münir, ein Kommentator des Nachrichtenportals T24, bezeichnete Erdogan und die Regierung als „Gefahr für den Weltfrieden“.

Besorgt sind die Kritiker nicht zuletzt wegen der vom russischen Präsidenten Wladimir Putin angekündigten ernsten Konsequenzen. Die russischen Militärs schickten ein zusätzliches Kriegsschiff vor die Küste Syriens und erklärten, alle potenziellen Gefahrenquellen würden „zerstört“. Ob die Türkei sich dem russischen Vorschlag eines gemeinsamen Generalstabs der an Syrien-Einsätzen beteiligten Staaten öffnen könnte, blieb am Mittwoch offen.

Drohende russische Wirtschaftssanktionen würden die Türkei empfindlich treffen

Unterdessen warnen türkische Wirtschaftsvertreter vor russischen Sanktionen im Energie- und Tourismusbereich. Insbesondere bei Erdgaslieferungen ist die Türkei verwundbar: Das Land bezieht 57 Prozent seines Gasbedarfs aus Russland. Alternative Lieferanten seien kurzfristig kaum aufzutreiben, wenn sich Putin entschließen sollte, die Lieferungen zu reduzieren oder zu stoppen, sagte ein ungenannter Vertreter des türkischen Energiesektors der Zeitung „Hürriyet“. In diesem Bereich habe Russland „zu hundert Prozent die Kontrolle“.

Die russische Regierung prüft nach eigenen Angaben die Stornierung gemeinsamer Projekte mit der Türkei und den Ausschluss türkischer Unternehmer vom russischen Markt. Auch die Tourismusindustrie fürchtet Einbußen. Wenn sich der Aufruf des türkischen Außenministers Sergej Lawrow an die Russen, ab sofort Urlaubsreisen in die Türkei zu meiden, zu einem Boykott auswachse, „dann sind wir erledigt“, ließ sich ein Tourismusmanager zitieren. Rund vier Millionen Russen verbringen jedes Jahr ihre Ferien in der Türkei.

Unangenehm für die türkische Führung ist auch, dass durch russische Kritik der Vorwurf bekräftigt wird, die türkische Regierung arbeite in Syrien mit Extremisten zusammen. Putin warf der Türkei unter anderem vor, Öl aus dem Machtbereich des "Islamischen Staates" (IS) zu importieren und damit den Terror zu finanzieren. Der russische Regierungschef Dmitry Medwedew sagte, türkische Behördenvertreter seien in den illegalen Handel verwickelt und hätten „direkte finanzielle Interessen“ auf diesem Gebiet. Russland verfüge über „Informationen“ über die türkischen Kontakte zum IS.

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