Post-Brexit-Gespräche: In der Sicherheitspolitik droht ab Jahresende Chaos
Eine Vereinbarung zwischen der EU und Großbritannien in Sicherheitsfragen ist nicht in Sicht. Experten warnen schon seit langem vor den Folgen.
In nur fünf Monaten könnte jenes Ereignis eintreten, dass verantwortliche Politiker in der EU und in Großbritannien allmählich nervös werden lässt: der „No-Deal-Brexit 2.0“. Im vergangenen Januar, als Großbritannien die EU verließ, hatten sich beide Seiten noch auf ein Austrittsabkommen geeinigt, das Zollkontrollen verhinderte. Aber wenn die Gespräche über eine Handelsvereinbarung zwischen London und Brüssel nicht bald Fortschritte machen, könnten ab Anfang 2021 neue Handelsbarrieren entstehen.
In den Mittelpunkt rückt nun noch eine weitere Sorge: Falls zudem für die Zeit nach dem 31. Dezember 2020 keine Kooperation in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu Stande kommt, könnte die grenzüberschreitende Verbrechens- und Terrorbekämpfung erschwert werden.
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In einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP erklärte der Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), es sei „erstaunlich, dass die Regierung in London anscheinend kein gesteigertes Interesse mehr daran hat, mit der EU über das Thema Außen- und Sicherheitspolitik zu sprechen".
Mitte des Monats steht die nächste Runde bei den Verhandlungen über die Beziehungen nach dem Brexit zwischen Brüssel und London an. Die EU will dabei nicht nur ein umfassendes Freihandelsabkommen erreichen, sondern auch eine Vereinbarung über die künftige Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik – etwa bei der Kooperation der Polizeibehörden und dem Datenaustausch zwischen den Geheimdiensten.
Nach den Worten von Roth sind „gute und vertrauenswürdige Partner“ in der „geopolitisch sicher ungemütlichen Post-Corona-Welt“ wichtiger denn je. Er sei "enttäuscht darüber, dass London sich immer weiter von der einvernehmlich zwischen uns vereinbarten politischen Erklärung als verlässlicher Verhandlungsgrundlage entfernt", sagte der Staatsminister. Die vom britischen Premier Boris Johnson im vergangenen Jahr ausgehandelte politische Erklärung sieht auch eine Kooperation beider Seiten in Fragen der inneren und äußeren Sicherheit vor.
Welchen Wert eine über Handelsfragen hinausgehende Vereinbarung zwischen der EU und Großbritannien hat, verdeutlicht die riesige Datenbank im Schengener Informationssystem SIS II. Dort sind mehr als 90 Millionen Datensätze gespeichert. Ob zur Fahndung ausgeschriebener Kriminelle, vermisste Personen oder illegale Einwanderer – rund um die Uhr können Polizisten aus dem Schengen-Raum, aber auch aus Großbritannien auf die Daten zugreifen. Doch das Vereinigte Königreich muss nach dem Brexit womöglich auf das Instrument verzichten – obwohl es im vergangenen Jahr 572 Millionen Abfragen in SIS II machte. Ein herber Einschnitt für die Sicherheitsbehörden auf der Insel.
Das ist nur eine der möglichen Folgen des Brexit für die Sicherheit in EU und Großbritannien. Zwar erklärte EU-Chefunterhändler Michel Barnier Ende Juli, dass es Fortschritte gebe bei den Verhandlungen zur polizeilichen Zusammenarbeit. Aber er sagte auch, dass es immer noch Streitpunkte gebe.
Übergangsphase läuft Ende des Jahres aus
Bis Ende des Jahres läuft die Übergangsphase, in der EU-Recht für Großbritannien grundsätzlich weiterhin gilt. Experten warnen schon länger vor dem drohenden Sicherheitsrisiko, falls für den Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bis Jahresende kein Abkommen steht. Die Grünen fürchten im Falle eines „No Deal Brexit 2.0“ massive Auswirkungen für die Sicherheit in Europa.
Die Grünen haben eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt – die Antwort liegt dem Tagesspiegel vor. Die Grünen-Innenpolitikerin Irene Mihalic hat nach der Lektüre die Sorge, dass die Bundesregierung „die Problematik eines Brexit ohne weiteren Vertrag speziell für den Sicherheitsbereich entweder nicht ernst genug nimmt oder aber herunterspielt.“So schreibt die Bundesregierung in ihrer Antwort, dass das Ende der Übergangsphase ohne Vertrag „voraussichtlich keine Auswirkungen auf die langfristige europäische Strategie zur Terrorismusbekämpfung" habe.
Mihalic kann das nicht nachvollziehen. Denn Großbritannien könne dann weder an SIS II teilnehmen noch am Datenaustausch über Europol. Das ist die Polizeibehörde der EU. Hier speisen die Briten Experten zufolge besonders viele Daten ein – ihr Fehlen werde sich also bemerkbar machen.Auch die Zusammenarbeit mit der Justizbehörde Eurojust steht auf dem Spiel. Die Briten wären nicht mehr Teil von Eurodac, dem Fingerabdruck-Identifizierungssystem für Asylbewerber. Zudem würde der europäische Haftbefehl in Großbritannien nicht mehr gelten, wenn die Übergangszeit ohne Abkommen endet.
Derzeit können gesuchte Personen relativ einfach zur Strafverfolgung innerhalb der EU übergeben werden. Bei einem No-Deal-Brexit würde wieder das Europäische Auslieferungsübereinkommen von 1957 in Kraft treten. Auch in anderen Bereichen würden die EU und Großbritannien auf Abkommen zurückfallen, die oft Jahrzehnte alt sind.Mihalic befürchtet, dass die gemeinsame Terrorismusbekämpfung deutlich erschwert wird und das gemeinsame Vorgehen gegen Kriminalität nicht mehr so effektiv funktioniert: „Die Kriminalität wird sich nicht viel um den Brexit scheren und sich im Gegenteil eher neue Rückzugsräume schaffen.“
Grünen-Politikerin Mihalic sieht gefährliches Vakuum
Mihalic spricht von einem gefährlichen Vakuum. „Es bleibt nicht viel Zeit, und die deutsche Ratspräsidentschaft muss alles daransetzen, dass klare Regelungen für die polizeiliche Zusammenarbeit und den Datenaustausch zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich getroffen werden.“Auch wenn es vor Ende der Übergangsphase zu einem Vertrag kommt, ist unklar, wie dieser aussehen wird. „Inwieweit eine Beteiligung des Vereinigten Königreichs an Europol als Drittstaat erfolgen wird, ist Gegenstand laufender Verhandlungen“, heißt es in der Antwort der Bundesregierung. Eine weitere Teilnahme an SIS II wäre demnach für das Vereinigte Königreich nur als Schengen-assoziierter Staat möglich. Laut britischen Medien stellt sich Großbritannien schon darauf ein, dass es den Zugang zu der riesigen Datenbank verlieren wird.
Ein weiteres Problem bei der künftigen Zusammenarbeit mit den Briten ist der Datenschutz. Die Europäische Datenschutzgrundverordnung ist in Großbritannien ab nächstem Jahr nicht mehr ohne weiteres anwendbar – das heißt, das Vereinigte Königreich würde datenschutzrechtlich als Drittland gelten. Es müsste ein sogenannter „Angemessenheitsbeschluss“ her, der festlegen würde, dass Großbritannien ein angemessenes Schutzniveau für personenbezogene Daten bietet.
FDP-Mann Kuhle hält Datenabkommen nicht für möglich
Der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle bezweifelt jedoch, dass das noch möglich ist. Denn erst Ende Juli hatte der Europäische Gerichtshof im Verhältnis zu den USA einen solchen „Angemessenheitsbeschluss“ für „unwirksam erklärt, weil die Zusicherungen der USA nicht ausreichen“, erläuterte Kuhle kürzlich im Gespräch mit dem „Handelsblatt“.
Die Bundesregierung geht zwar in ihren Antworten auf die Anfrage der Grünen auch auf Fragen des Datenschutzes ein. Dem Grünen-Innenpolitiker Konstantin von Notz, der die Anfrage gemeinsam mit Mihalic und der Europaexpertin Franziska Brantner gestellt hat, ist das aber zu „dünn“. Aus seiner Sicht zeigen die Antworten, „dass die Bundesregierung die Notwendigkeit eines effektiven Datenschutzes im digitalen Zeitalter bis heute nicht erkennt“.
Die Fischerei ist ein Knackpunkt bei den Handelsgesprächen
Gut eine Woche vor dem Beginn der nächsten Verhandlungsrunde deutet unterdessen derzeit nichts darauf hin, dass es schnell Fortschritte geben könnte. Im vergangenen Monat hatte EU-Chefverhandler Barnier zwischenzeitlich gesagt, es sei „derzeit unwahrscheinlich“, dass sich beide Seiten auf ein Handelsabkommen verständigen könnten.
Vor allem zwei Knackpunkte verhindern derzeit eine Einigung bei den Handelsgesprächen: Staatsbeihilfen und die Fischerei. London will ab Anfang kommenden Jahres unabhängig von der EU über staatliche Subventionen für die Industrie auf der Insel entscheiden. Zum anderen möchte das Vereinigte Königreich Fischer aus der EU künftig aus britischen Hoheitsgewässern möglichst komplett fernhalten. Trotz der bestehenden Differenzen erklärte der britische Unterhändler David Frost zuletzt, dass eine Handelsvereinbarung im September „immer noch erreicht werden kann“.