Verhältnis EU-Türkei: In der Erregungs-Sackgasse
Terror? Ist schlimm. Krieg gegen den Terror? Ist noch schlimmer: So reagiert die EU auf die Politik Erdogans. Es ist höchste Zeit, das Verhältnis auf eine neue, nüchterne Grundlage zu stellen. Ein Kommentar.
Da läuft etwas falsch. Nicht mehr die Aktion, die zu einer Reaktion führt, wird verdammt, sondern die Reaktion selbst. Die sei übertrieben, ohne rechtsstaatliche Grundlage, zerstöre den gesellschaftlichen Frieden, heißt es. Es geht um die Kritik der Europäischen Union an der Türkei.
Zur Erinnerung: Dort sollte die demokratisch gewählte Regierung des Nato-Mitgliedslandes durch einen Militärputsch gestürzt werden. Dort summieren sich in diesem Jahr die Opfer von Terroranschlägen islamistischer und kurdisch-extremistischer Organisationen zu einer traurigen Rekordzahl. Doch was Brüssel in erster Linie zu interessieren scheint, ist die Frage, ob Präsident Recep Tayyip Erdogan zum Diktator mutiert.
Solche Reflexe zeugen von Voreingenommenheit. Ähnlich war es gegenüber der US-Regierung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sowie gegenüber der israelischen Regierung nach den Raketenbeschüssen durch die Hisbollah aus dem Libanon und durch die Hamas aus dem Gazastreifen. Amerika und Israel waren angegriffen worden und mussten sich wehren. Zwar wurden die Angriffe aus europäischen Metropolen pflichtschuldig verurteilt, vehementer jedoch fiel die Kritik an der Wehrhaftigkeit aus, frei nach dem Motto: Terror? Ist schlimm. Krieg gegen den Terror? Ist noch schlimmer.
Dabei gebietet ein Mindestmaß an Fairness, beides im Blick zu haben: das jeweilige Verbrechen und die darauf folgenden Handlungen der Regierung. Was wäre wohl in Deutschland los, wenn Teile der Bundeswehr mit schwerem Gerät einen Putsch versucht hätten und beinahe wöchentlich im Großraum Berlin Terroranschläge verübt würden? Vom heimischen Sofa aus lässt es sich leicht richten über ein Land, das im Osten lange Grenzen zu Syrien, Irak und dem Iran hat und zweieinhalb Millionen Flüchtlinge unterbringen und versorgen muss.
Die Ratlosigkeit wird kompensiert durch Böhmermann-Witze oder Armenien-Resolutionen
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die Europäische Union muss ihre Werte verteidigen – auch gegenüber Erdogan. Massenentlassungen und -verhaftungen, Gängelung und Unterdrückung oppositioneller Medien, Kollektivbestrafungen bis hin zur Folter: All das muss angeprangert werden, mit Nachdruck. In das Urteil sollte indes ein Quäntchen Verständnis einfließen für die prekäre Lage, in der sich das Land befindet. Es reicht nicht, die eigene Rat- und Machtlosigkeit zu kompensieren durch Böhmermann-Witze, Armenien-Resolutionen oder ein Votum des Europaparlaments, die Beitrittsgespräche mit der Türkei vorübergehend einzufrieren.
Stattdessen ist Zeit für eine neue Nüchternheit. Europa braucht die Türkei wegen der Flüchtlinge. Die Türkei braucht Europa, um ein Ziel seiner Entwicklung vor Augen zu haben. Die AKP als Modell für die Maghreb-Staaten und den Nahen Osten? Das hat sich erledigt.
Faktisch beendet dürften auch die EU-Beitrittsgespräche sein. Keine Seite glaubt noch an deren gütliches Ende in absehbarer Zeit. Also muss nach Alternativen gesucht werden, eine Zollunion vielleicht oder eine enge Verknüpfung wie mit Nicht-EU-Mitglied Norwegen. Eine Forcierung des emotional überladenen Entfremdungsprozesses wäre jedenfalls die schlechteste aller Varianten.