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Wer nur Graphen zeichnen kann.
© Illustration: Martha von Maydell/mvmparercuts.com

Universitäten unter Ökonomisierungsdruck: Immer mehr Studierende, immer weniger Bildung?

Die Hochschulen bieten nicht nur wegen Covid-19 ein trauriges Bild. Hinter der Pandemie lauert die fundamentale Frage nach dem Selbstverständnis von Universitäten.

Ralf Schnell ist emeritierter Literatur- und Medienwissenschaftler. Von 2002-2006 leitete er das DFG-Forschungskolleg „Medienumbrüche“ an der Universität Siegen, deren Rektor er zuletzt war. 2020 erschien sein Buch „Kalligraphische Reflexionen“ (mit Gerd Doege).

Die Universitäten bieten ein trauriges Bild. Campus sind verödet, Hörsäle stehen leer, nicht einmal Diensträume dürfen betreten werden. Virtuelle Lehrveranstaltungen sind an die Stelle von Vorlesungen und Seminaren getreten. Elektronische Semesterapparate, Audio- und Videoaufzeichnungen, digitale Dienste, Plattformen und Universitätsportale wetteifern um die Köpfe der Studierwilligen.

Man könnte diese deprimierende Momentaufnahme als akademische Symptomatik der Covid 19-Pandemie ad acta legen, träfe sie nicht mit einer viel gravierenderen Problemlage zusammen. Dabei geht es nicht um die Digitalisierung der Hochschulen, ebenso wenig um eine Reform des Bafög, urheberrechtlich geschützte Materialien oder Defizite beim Hochschulbau – gewichtige Fragen, die durch die Hochschulrektorenkonferenz erst kürzlich in einem Zehn-Punkte-Papier thematisiert wurden.

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Doch über solchen aktuellen Wortmeldungen droht eine grundsätzliche Frage aus dem Blick zu geraten: die nach dem Verhältnis von Universität, Wissenschaft und Bildung. Die Auslagerung hochkarätiger Forschung in außeruniversitäre Einrichtungen und spezialisierte Cluster einerseits, die zunehmende Ausbildungsorientierung der Studiengänge andererseits folgt der politischen Forderung nach einer Ökonomisierung der akademischen Landschaft. Wenn nicht alles täuscht, drohen die Universitäten eine ihrer wichtigsten Funktionen zu verlieren: die institutionelle Integration von Wissenschaft und Bildung.

Besorgnis nach Bologna

Der Kontext, in dem diese Entwicklung steht, gibt zur Besorgnis Anlass. In zeitlicher Reihenfolge sind zu nennen: der Bologna-Prozess mit der Einführung modularisierter Curricula in Bachelor- und Masterstudiengängen; die Umstellung der Hochschullehrer-Besoldung auf W3-/W2-Strukturen mit flexiblen Belohnungssystemen; die Exzellenz-Initiative des Bundes- und der Länder; die Verabschiedung von Hochschulgesetzen mit einer neuartigen Relation von Global- und Detailsteuerung; die Föderalismusreform mit der restriktiv konzipierten Beteiligung des Bundes an den Bildungsprojekten der Länder; last but not least die stetig wachsende Zahl der Studentinnen und Studenten: von rund zwei Millionen im Jahr 2008/09 auf fast drei Millionen im Wintersemester 2020/21, ohne einen entsprechenden Zuwachs an wissenschaftlichem Personal.

Dem deutschen Wissenschaftssystem bescheinigte der Wissenschaftsrat, das offizielle Beratungsgremium des Bundes und der Länder, in einem Positionspapier vom 22. Januar 2021, es habe sich im Zusammenhang der Covid 19-Pandemie „als flexibel und responsiv erwiesen und zügig Forschungsaktivitäten auf das neue Feld ausgerichtet“.

Von Institutionen entkoppelt

Das klingt erfreulich. Hinzugefügt werden muss jedoch, dass es sich vornehmlich um außeruniversitäre Forschungseinrichtungen handelt. Universitäre Forschung findet, soweit sie nicht die Einzelleistung herausragender Gelehrter darstellt, weit überwiegend in Graduiertenkollegs, Sonderforschungsbereichen und Exzellenzclustern statt oder, wie in der Berlin University Alliance, in Forschungsverbünden, die, von den sie tragenden Institutionen weitgehend entkoppelt, ein Eigenleben führen.

Das ist nicht genug, wenn die Universitäten ihren Glanz als Forschungszentren bewahren wollen. Fraglich ist jedoch, ob sie das sollen. Schon das „Hochschulfreiheitsgesetz“, das den Hochschulen Nordrhein-Westfalens im Jahr 2006 eine weitreichende Autonomie versprochen hatte, verlangte dafür von ihnen einen hohen Preis: Sie sollten ihre Mittel zu einem guten Teil aufgrund eigener Initiativen einwerben und vor diesem Hintergrund, ökonomisch „leistungsabhängig“ also, staatliche Mittel erhalten.

Eine Auflage, die tendenziell zur Abhängigkeit von der Auftragsvergabe durch forschungsinteressierte Wirtschaftsunternehmen führte und den Vorwurf einer „Verbetriebswirtschaftlichung“ der Hochschulen nach sich zog. Der diese Art Hochschulpolitik steuernde strategische Gedanke hat sich erhalten.

Sein Name ist „Innovation“, sein Ziel heißt „Anwendungsorientierung“, seinen Maßstab bilden „Kennziffern“, das Ergebnis soll die „unternehmerische Hochschule“ sein. Jüngste Beispiele hierfür sind die derzeit zur Diskussion stehende Reform des Bayrischen Hochschulrechts und der Berliner Senatsentwurf für ein neues „Gesetz zur Stärkung der Berliner Wissenschaft“. Gemeinsam ist diesen Vorlagen, den Hochschulen die Freiheit zu nehmen, sich ihren Erfordernissen entsprechend eigenständig weiterzuentwickeln, ohne die in wechselnden Intervallen sich reproduzierenden Eingriffe der Politik in Kauf nehmen zu müssen.

Der Anspruch auf Bildung bleibt auf der Strecke

Auf der Strecke geblieben ist zugleich der Anspruch auf Bildung. Das Wort Universität leitet sich bekanntlich von universus her, das heißt: allumfassend, alles einschließend, kurz universell. Für die Universitäten ergibt sich aus diesem Anspruch die Verpflichtung zu einem umfassenden Angebot von Lehr-, Wissens- und Kompetenzbereichen.

Die Verbindung von Theorie und Praxis zählt hierzu ebenso wie die inter- und transdisziplinär orientierte Kombinationsmöglichkeit von Studienfächern. In dem Maße aber, wie schon die bloße Zahl der Studierenden die Kapazitäten der Hochschulen, von den Hörsälen bis zu den Laborplätzen, aufzehrt, verfliegt auch die Aussicht auf eine seriöse Einlösung solcher Verpflichtungen.

Sprache ist verräterisch. Allgemeinbildung, Schulbildung, Berufsbildung, Fort- oder Weiterbildung – diese Vokabeln sind in aller Politiker Munde. Doch in welchem Verhältnis die mit ihnen bezeichneten Handlungsfelder zu dem sie verbindenden Oberbegriff stehen, bleibt außer Betracht. Und auch die inhaltliche Verbindung von Nominalkomposita wie Bildungspolitik, Bildungsauftrag, Bildungsforschung, Bildungsprozess oder Bildungsgerechtigkeit ist keineswegs geklärt.

Man sieht Bildung als Ressource und als Rohstoff. Man spricht von Bildung als Chance und als Privileg. Man verheißt Investitionen in den Bildungssektor und schließt diesen mit Kompetenzentwicklung, Innovationsschüben und Anwendungsbereichen kurz. Selbst „Persönlichkeitsbildung“ wird in Instituten, die ein solches Angebot vorrätig halten, eingebettet in Wahlpflichtmodule wie Burnout-Prophylaxe oder Resilienz und kurzgeschlossen mit Mentaltraining, Selbstmanagement, Auftrittskompetenz und Leadership-Konzepten.

Wettstreit um Aufmerksamkeit

Das sind authentische Stichworte. Sie klingen nach einer Zurichtung von Material für Funktionszusammenhänge, nicht nach Empathie für junge – oder auch ältere – Menschen. Es handelt sich um Effizienz- und Optimierungskalküle. Sie nutzen den Begriff „Bildung“ als attraktive Variable im Wettstreit um Aufmerksamkeit, ohne für die dringend erforderliche Neubestimmung von Bildung die Zeichen des Wandels ins Auge zu fassen, der unsere Epoche bestimmt.

Die Beschleunigung, die unsere alltäglichen Wahrnehmungen betrifft, der dynamische Strukturwandel der Lebens- und Medienwirklichkeit um uns herum, der Resonanzverlust im Austausch von Argumenten, die immer kürzer werdenden Intervalle öffentlicher Erregungszustände und der immer schrillere Ruf nach Zuwendungspotenzialen – all diese Umbruchsymptome haben die Konturen dessen verwischt, was sich heute unter Bildung verstehen lässt.

[Lesen Sie hier bei T-Plus: Das Leben nach Corona und die Frage: Sind wir noch gesellschaftsfähig?]

Dabei könnte, was der Begriff Bildung in einem emphatischen Sinn einmal bedeutet hat, noch immer einen Maßstab für die Begründung und Entwicklung von Bildungsstrategien darstellen, die diesen Namen verdienen. Erinnert sei daran, dass Bildung ein individueller, kein kollektiver Prozess ist. Sie muss beim einzelnen Menschen ansetzen, beginnend dort, wo dieser seine erste, nächste und größte Zuwendung erfährt: in der Familie. Was hier an einzelnen Menschen versäumt oder ihnen vorenthalten wird, bleibt zeitlebens für sie prägend.

Schon die nächsten Bildungsstufen, der Kindergarten, die Schule, können bestehende familiäre Defizite nicht ausgleichen. Doch immerhin geht hier die Vermittlung kultureller Werte mit einem Handeln einher, das Vorbildcharakter besitzt – oder doch besitzen sollte. Hierzu gehören die Fähigkeit zum Austausch von Argumenten und zur Respektierung individueller Dispositionen, Toleranz für unterschiedliche Haltungen, Einstellungen und Physiognomien, die Bereitschaft zuzuhören, die Fähigkeit, sich mit anderen abzustimmen, und vor allem Gewaltlosigkeit.

Gefragt sind Persönlichkeiten

Schulische Bildung gelingt, über die Vermittlung von Lerninhalten hinaus, in dem Maße, in dem sie mit anerkannter Autorität einhergeht, verkörpert durch Lehrerinnen und Lehrern, die Persönlichkeit besitzen und ausstrahlen. An ihnen können und wollen sich Schülerinnen und Schüler orientieren: Menschen, zu denen sie Vertrauen entwickeln.

Das gilt auch für die Universitäten. Auch hier sind es Persönlichkeiten, auf die es ankommt: Dozentinnen und Dozenten, die den Fundus ihres Wissens mit Überzeugungskraft vortragen, Autoritäten, die den Scharfsinn, mit dem sie ihre Positionen vertreten, und die Empathie, mit der sie diese vermitteln, buchstäblich verkörpern. Man entscheidet sich aus guten Gründen für diese Professorin oder jenen Professor, um sich Formen des Denkens und Methoden der Welterschließung vermitteln zu lassen, mit denen man auf dem eigenen Weg zu selbstgesetzten Zielen gelangt.

Doch ausnahmsweise nur lässt sich behaupten, dass die Universität heute dem Ideal eines produktiven universitären Miteinanders von Lehrenden und Lernenden noch gerecht werde. Massenseminare, unattraktive Arbeitsplätze und mangelhaft ausgestattete Laboratorien stehen dieser Vision ebenso entgegen wie die sprunghaft angewachsenen Erfordernisse digitaler Lehre.

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Auf der Strecke geblieben ist die akademische Bildung - ein Fazit, das sich durch die Reduzierung der Schulzeit auf zwölf Jahre noch verschärft hat. Schon jetzt müssen die Universitäten Liftkurse anbieten, um die Kenntnisse der Studienanfänger auf das erforderliche Niveau zu heben. Die durch Unterrichtsausfall, Wechselunterricht und digitale Formate bedingten Defizite werden strukturelle Kompensationen erfordern, sei es durch Überbrückungsangebote, sei es durch universitäre Aufnahmeprüfungen. Das Abitur droht seine Qualität als Eintrittsbillet zur akademischen Bildung zu verlieren.

Universität, Wissenschaft, Bildung –an die Stelle der einstigen Trias droht heute das Schisma auseinanderdriftender Bereiche zu treten. Dass die Einzigartigkeit der Institution Universität unter solchen Entkopplungsmechanismen leidet, liegt auf der Hand. Ihnen entgegenzuwirken, setzt den Konsens von Forschenden und Lehrenden voraus, sich als Einzelne in einem vielfältigen, diversen und doch verbindenden produktiven Zusammenhang zu sehen. Sich auf diesen aufs Neue zu besinnen, bietet die bleierne Zeit der Pandemie eine gute Voraussetzung.

Ralf Schnell

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