UN-Experte über den Hunger in der Ukraine: „Im ganzen Land spielt sich eine nie dagewesene Katastrophe ab“
Jakob Kern organisiert die Ukraine-Hilfe des Welternährungsprogramm. Ein Gespräch über Millionen Hungernde, die Not der Geflüchteten und eingekesselte Städte.
Jakob Kern koordiniert für das UN-Welternährungsprogramm die Nothilfe für die Ukraine.
Herr Kern, das Welternährungsprogramm der UN schätzt, dass sich sechs Millionen Menschen in der Ukraine nicht mehr selbst ausreichend mit Lebensmitteln versorgen können. Wie dramatisch ist die Lage?
Zunächst einmal: Wenn wir Ukrainerinnen und Ukrainer fragen, was ihre größten Sorgen sind, dann lautet die Antwort bei den meisten: Sicherheit, Treibstoff - und Lebensmittel. 20 Prozent der Bevölkerung haben bereits auf die Notlage reagiert. Zum Beispiel, indem Eltern weniger essen, damit ihren Kindern mehr zur Verfügung steht. Oder Familien verzichten auf eine Mahlzeit. Im ganzen Land spielt sich eine nie dagewesene Katastrophe ab.
Inwiefern?
Innerhalb von nur sieben Wochen mussten zwölf Millionen Menschen ihre Häuser und Wohnungen verlassen. Sie sind zu Geflüchteten geworden. In Syrien brauchte es für eine derartige Dimension zehn Jahre.
Was kann Ihre Organisation für die Notleidenden tun?
Das Welternährungsprogramm war in der Ukraine bis Ende Februar nicht mit einer eigenen Infrastruktur vertreten. Gleiches galt auch für Nachbarstaaten wie Moldau oder Rumänien. Wir haben also bei null angefangen. Heute sind in der Region 180 Mitarbeitende im Einsatz. Drei Büros gibt es jetzt in der Ukraine selbst. Und das ermöglicht uns, derzeit zwei Millionen Menschen zu unterstützen. Zudem wollen wir unsere Hilfe schnellstmöglich auf sechs Millionen Menschen ausweiten.
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Das heißt konkret?
Im Osten des Landes, wo besonders heftig gekämpft wird und Städte ganz oder teilweise eingekesselt sind, geben wir Lebensmittel aus. Im Westen, wo sich viele Vertriebene aufhalten und Geschäfte geöffnet haben, unterstützen wir bedürftige Familien mit Bargeldtransfers.
Welches Hindernis ist das größte, wenn es darum geht, den Menschen beizustehen?
Wir sorgen uns vor allem um all jene, die für uns nicht erreichbar sind. Also die Eingeschlossenen in Städten wie Cherson, Charkiw oder Mariupol. Dort haben wir keinen Zugang, weil es zu gefährlich ist. Sehr schwierig ist auch die Situation für jene, die entlang der Frontlinie leben.
Was tun Sie, wenn Ihnen der Zugang zu Bedürftigen verweigert wird?
Das Problem ist: Wenn man Zugang zu einer belagerten Stadt haben möchte, wird die Einwilligung aller Kriegsparteien benötigt. Die Sicherheit für die Helfer muss garantiert sein, 48 Stunden müssen die Waffen schweigen. Erst dann können wir in die Orte hinein und wieder hinaus. Das ist uns leider bisher oft nicht gelungen. Hinzu kommt, dass viele Straßen vermint sind. Diese Sprengfallen müssen unbedingt entfernt werden. Anderenfalls wäre es für die Konvois zu gefährlich.
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Woher bezieht das Welternährungsprogramm die Lebensmittel, die an Bedürftige verteilt werden sollen?
Wir kaufen so viel wie möglich in der Ukraine ein. Dazu gehören vor allem Weizenprodukte wie Mehl und Teigwaren. Der Rest, zum Beispiel Konserven und Fertiggerichte, wird von außen herangeschafft. Was die Ukraine noch selbst an Lebensmitteln produzieren kann, ist für die Soldaten reserviert.
Das heißt, trotz des Krieges produziert das Land nach wie vor Nahrungsmittel?
Ja, die Ukraine versucht schon, ihre Bürger zu versorgen. Aber es hapert häufig an Logistik und Lieferketten. Lkw-Fahrer sind ebenso Mangelware wie Fabrikarbeiter. Denn die Männer verteidigen ihr Land.
Sie haben schon in Syrien lange Zeit die Nothilfe für das Welternährungsprogramm organisiert. Was unterscheidet das arabische Bürgerkriegsland von der Ukraine?
In der Ukraine ist es sehr viel schneller zu einer unfassbar großen Fluchtbewegung gekommen. Meist sind es Frauen mit ihren Kindern, Männer und Söhne bleiben zurück. Deshalb versuchen viele auch, sich nicht allzu weit von ihrer Heimat zu entfernen. Sie wollen rasch nach Hause zurückkehren und die Familien wieder zusammenführen. In Syrien haben zumeist ganze Familien ihre Heimat wegen des Krieges verlassen.
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Gibt es auch Gemeinsamkeiten?
Die Art der Kriegsführung ähnelt sich in der Ukraine und in Syrien sehr: Städte und Orte werden belagert, abgeriegelt und eingekesselt.
In Syrien wurde und wird Hunger als Waffe eingesetzt. Ist das in der Ukraine auch der Fall?
Die Frage, ob es sich um eine Waffe handelt, ist nicht entscheidend, sondern das Resultat: Die Menschen leiden große Not, sie hungern! Mehr noch: Sie haben auch Durst, müssen im Untergrund oft ohne Strom und Heizung über die Runden kommen. Und wenn Medikamente fehlen, können Krankheiten lebensbedrohlich werden. So etwas nennen wir eine humanitäre Katastrophe.