Politik: Im Fall des Fallens
Es ist eine Urangst. Dass man abstürzen könnte: Job weg, Wohnung weg – Leben weg? Der Messemanager Carsten Voss hat das erlebt, er saß sogar auf der Straße. Heute sagt er: „Ich bin zufriedener.“ Doch was passiert ist, lässt ihn nicht los.
Carsten Voss füllt mithilfe eines Plastikeimers Wasser in einen 40-Liter-Kochtopf, der monumental wie ein Felsen auf dem Herd thront, einem Großküchenherd mit faustgroßen Bedienknöpfen. Dreimal geht er zum Spülbecken, füllt den Eimer, kippt nach. Dann ist genug im Topf, um, wenn es irgendwann heiß ist, darin fünf Kilogramm Nudeln zu kochen, die 50 bis 60 Leute satt machen sollen. Eine Pilzsahnesoße dazu blubbert bereits auf der Nachbarflamme vor sich hin, und gerade nähert sich ihr eine Küchenhelferin – „Halt“, ruft Voss – und will die von ihr geschnippelten Kräuter hineinwerfen, „nicht reintun. Die kommen nachher frisch auf die Teller.“ Die Helferin lacht, „ist ja wie beim Italiener hier“, sagt sie. „Besser“, sagt Voss und wischt sich die Hände an dem Geschirrtuch trocken, das er am Gürtel festgesteckt hat. Er geht raus auf die Straße, um eine Zigarette zu rauchen.
20 Minuten vor zwölf ist es, bald Mittagszeit, und vor der Tür stehen schon die ersten Menschen und warten auf Einlass.
Voss raucht, dann geht er zurück in die Küche, um die Nudeln zu machen. Er kocht sie portionsweise, damit sie nicht klumpen. Gibt sich auf eine Art Mühe mit dem Essen, die man für überflüssig halten könnte, denn der Großküchenherd steht nicht in einem Restaurant, sondern in einer Wohnungslosentagesstätte, im „Seeling Treff“ in Berlin-Charlottenburg, wo sich kaum einer über klumpige Nudeln beschweren würde. Aber Voss denkt genau andersrum: dass vor allem Menschen, die keine Wohnung haben, gutes Essen brauchen, weil sie das anstrengendstmögliche Leben führen. Und es soll ihnen zeigen, dass da jemand ist, dem sie eine Mühe wert sind. Der Eindruck geht auf der Straße schnell verloren.
Dass Voss so denkt, liegt daran, dass er dieses anstrengendstmögliche Leben selbst gelebt hat. Auch er selbst war ein Obdachloser, einer von geschätzt 4000 in Berlin. Verbrachte, vor drei Jahren war das, Tage, Nächte, Wochen, am Ende ein knappes Jahr zwischen Suppenküchen, Wärmestuben und Nachtcafés. In der Zeit ging auch das Provisorium kaputt, das er im Mund trug, seither fehlt die Hälfte der Zähne.
Schau dich an, hat er gedacht, wenn er sich in einem Spiegel sah.
Die überwältigendste Erfahrung aber, die er auf der Straße machte, war nicht das Hadern mit sich selbst, dem eigenen Versagen, dem gebrochenen Stolz und der elenden Situation, sondern das Gefühl des Draußenseins, des Nichtmehrdazugehörens. Alle Gewissheiten lösten sich auf, und er war dabei, sich zu verlieren. So flog ihm das Leben nicht nur äußerlich, es flog ihm auch innerlich um die Ohren. Tiefer könne man nicht fallen, sagt Voss. Und die Wucht des Falls sitzt ihm noch in den Knochen.
Carsten Voss, heute 54, hat in der Modebranche gearbeitet, für den Otto-Versand und mehrere Herrenausstatter und zuletzt fünf Jahre im Management der Messe Bread & Butter, erst in Barcelona, dann in Berlin. Er habe selten Feierabend gemacht und sei an 200 Tagen des Jahres auf Reisen gewesen. Lebte nach dem gesellschaftlich akzeptierten Leistungsträgeranspruch: Arbeite, zur Not bis zum Umfallen, und empfange dafür ein üppiges Gehalt. Das habe ihm auch Spaß gemacht, sagt er. Aber dann fiel er um. Burnout, Depression, er war und blieb antriebslos, die Krise zog sich hin, irgendwann gab er den Messejob auf – und dann auch alles andere. Es folgten Räumungsklage und Obdachlosigkeit.
Diese Erfahrung hat sein Denken ziemlich auf den Kopf gestellt. Und er sagt heute, dass er sein Managerleben nicht zurückhaben wolle. Überhaupt keine Festanstellung, dabei hat er zumindest ein attraktives Angebot schon bekommen. Erstaunlicherweise ist Voss’ Konsequenz aus seinem Absturz nämlich nicht der Ruf nach noch mehr und besserer Absicherung, sondern der nach mehr Freiheit. Vor allem nach Freiheit von den Erwartungen anderer. Denen man genügen wolle und denen man zugestehe, dass sie wichtiger als alles andere werden. Ihn hat das fast umgebracht, darum will er jetzt nur noch seinen eigenen Erwartungen genügen müssen. Der finanzielle Gegenwert, der monatlich überwiesene Dank in Form einer Gehaltsabrechnung, ist ihm nicht mehr so wichtig. „Erfolg misst sich nicht in Geld.“ Das habe er begriffen. Für ihn misst Erfolg sich jetzt unter anderem in den Blicken und Worten der Essensgäste im „Seeling Treff“, in ihrem „das war gut“, ihrem „danke“. Das sei ihm wichtig, „sinnstiftend“, sagt er, wie es die 250 000 Euro Jahresgehalt von früher nie waren: „Ich bin heute zufriedener.“
„Erfolg misst sich nicht in Geld.“ Das wird oft und schnell dahingesagt, meist von denen, die kein Geld haben. Dass das einer sagt, der weiß, was Geldhaben bedeutet, ist nicht ganz so üblich. So wie es auch nicht üblich ist, dass Erfolgsleute ihr Scheitern öffentlich machen.
Voss hat sich als obdachloser Ex-Manager porträtieren lassen, er macht mit dem Social-Start-up „Querstadtein“ Stadtteilführungen, bei denen er über Wohnungslosigkeit informiert, gibt Interviews und tritt im Fernsehen auf als Kronzeuge für die Schwächen des Sozialsystems, ohne dass er darin eine Mission für sich sehen würde. Wie er überhaupt jede Überhöhung dessen, was ihm widerfahren ist, ablehnt. Er hat sich überarbeitet und dafür einen hohen Preis gezahlt, aber danach einen neuen Weg für sein Leben gefunden.
Die ruinierten Zähne sind sein Andenken aus der schlimmen Zeit. Auch das will er regeln, bis dahin verleihen sie ihm Glaubwürdigkeit. Sie sind der einzige Hinweis auf den Absturz, den Voss äußerlich liefert. Der Rest ist normal sportlich-modisch: Jeans, Boots, Kapuzenjacke, Schal im Hemd und Ray-Ban-Brille. Nach der Ray-Ban-Brille sei er anfangs von Reportern gefragt worden, sagt Voss. Wieso ein Obdachloser eine teure Markenbrille trage. Würden Sie Ihre Brille wegwerfen, weil Sie keine Wohnung mehr haben?, habe er da zurückgefragt.
Seine öffentlichen Auftritte und sein freimütiges Bekenntnis zu seinem Scheitern haben ein großes Echo gehabt, manchmal staunt er selbst darüber. Etwa 2000 Menschen hat er bisher bei den Stadtteilführungen herumgeführt. Ein renommierter Verlag hat ihm einen Vertrag für eine Biografie geschickt. In der ARD-Talkshow „Beckmann“ sprach er vor einem Millionenpublikum vom Flaschensammeln und schlaflosen Nächten aus Angst davor, sich irgendwo draußen hinzulegen. Familienmitglieder, bei denen er sich seit der Krise nie gemeldet hatte, riefen ihn wieder an, alte Freunde, seine erste Sekretärin aus der Zeit, als er gerade anfing im Job, und die ehemaligen Kollegen von der Modemesse. Er bekam eine Einladung für die Eröffnung der diesjährigen Bread & Butter, die vor anderthalb Wochen stattfand, und ist hingegangen. Kein Problem. Das sei nicht mehr sein Leben, aber die Kollegen von damals könnten da nichts für. Die hätten ja nichts falsch gemacht. „Das war alles mein Fehler“, sagt Voss. Dass er seine Grenzen nicht kannte und nicht auf sich aufpasste.
Voss erzählt von dem Moment in seinem Obdachlosenleben, der ihn aufrüttelte und zurückrief in die Normalität. Er war wie oft in Schöneberg unterwegs, wo er früher gewohnt hat. Viktoria-Luise- Platz. In der Mitte ein Rondell mit Park, drum herum hohe Altbauten, prächtige Wohnungen, Parkett, Stuck. Sonst ging er hier nur noch durch, meist eilig, um nicht ziellos zu wirken, aber diesmal hielt er an. Da stand er dann allein im abendlichen Dunkel auf dem Gehweg und schaute in die erleuchteten Wohnungen. Er sah in einem Fenster jemanden, der in seiner Küche am Herd stand und Essen zubereitete. In einem anderen Fenster sah er ein Kinderzimmer, und ein Wohnzimmer sah er auch.
Vielleicht war in der Küche das Gemüse verkocht, vielleicht würde den Kindern ohnehin nicht schmecken, was da entstand, und sie würden nörgeln, vielleicht lag Streit in der Luft, vielleicht war es da drinnen gar nicht schön. Aber das dachte er nicht. Er sah hinter den Fenstern nur, was er nicht mehr hatte, das Normalste daran: Er sah ein Zuhause. Und da fuhr es ihm wie eine Axt in die Glieder, dass er draußen sei, in jeder Beziehung, und dass er vor die Hunde gehen würde, wenn er jetzt nichts änderte.
Kurz darauf ging er zum ersten Mal in den „Seeling Treff“. Ein anderer Obdachloser habe ihm von dem dortigen Samstagsbrunch erzählt. Den wollte er ausprobieren. Und an dem Samstag fehlte dann jemand in der Küche, und die versammelten Brunch-Gäste wurden gefragt, ob jemand kochen und aushelfen könne, und da habe er „,hier’ geschrien“, sagt Voss.
Voss sei „ein Fest für jeden“, wirft zwischen Kaffeetresen und Büro hin- und hereilend die „Seeling Treff“-Leiterin Susanne von Boetticher ein. „Weil es eine Freude ist für alle Beteiligten, wenn ihre Hilfe etwas bringt.“
Unter Anleitung von Sozialberatungsfachkräften fand Voss den Weg durch die Hilfsangebotebürokratie. Ging zur Notübernachtung, zum Obdachlosenmeldeamt, zum Jobcenter, zum sozialen Wohnungsamt, fand eine Wohnung, beantragte Hartz IV, suchte sich eine Fortbildungsmaßnahme aus, mit der er sich demnächst selbstständig machen will. EU-Fundraising, also Mittel aus EU-Fördertöpfen für soziale oder kulturelle Projekte akquirieren. Nach Abschluss der Qualifizierung in drei Wochen soll es losgehen. Es scheint, als fülle er damit eine Marktlücke: Gerade erst wurde veröffentlicht, dass Deutschland pro Jahr rund drei Milliarden Euro EU-Gelder nicht abruft. Vielleicht weil das EU-Förderwesen wie die deutsche Sozialbürokratie nur etwas für Menschen ist, die kompetent sind.
Im Fall Voss war das so. Er war kompetent genug für das Berliner Hilfssystem. Aber er war ja auch ein Topjobber. Er kannte sich aus in Betriebsstrukturen, in Anträgen, mit der deutschen Sprache bis in ihre Verästelungen. Aber was ist mit den anderen? Denen, die aus ohnehin prekären Verhältnissen abstürzen?
Voss macht das selbst zum Thema. Er kennt inzwischen Menschen, die nicht mehr wegkommen von der Straße. Wenn man es nach einem Jahr nicht geschafft habe, sagt er, werde es schwierig. Manche ergeben sich dem Alkohol, andere flüchten sich in Scheinwelten. Die finden nicht mehr durch die komplizierten Strukturen der Behördenwelt, die Voss abschreckend nennt.
Er spricht davon beispielsweise bei seinen Stadtteilführungen. In der Regel folgen ihm dabei 20 Menschen und hören allerlei über das Berliner Hilfesystem, dessen niedrigschwellige Angebote Voss lobt. Aber sie hören auch, dass die erste Stufe, die von der Obdachlosigkeit ins Hilfesystem führt, zu hoch sei. Dass, wer sich lange allein mit den existenziellsten Sorgen herumgeschlagen hat, das ganze Antragswesen mit seiner bevormundenden Attitüde nicht ertrage. Dass da keine Frustrationstoleranz mehr sei und die Hilfebedürftigen schnell sagten: Ach, dann eben nicht. Da wären Zwischenschritte nötig, soll sich nicht der Verdacht erhärten, die Abschreckung sei vom Gesetzgeber beabsichtigt oder zumindest in Kauf genommen. Voss kann auch über die Pfandsysteme der Supermärkte erzählen. Wo die Rückgabestationen aufgestellt sind und was das für die Flaschensammler bedeute. Dass es eine schleichende Ausgrenzung und Vertreibung gebe und die Toleranz schwinde.
Und irgendwann auf den Touren fällt auch immer wieder dieser Satz: „In dem gelben Haus da habe ich gewohnt.“ Dann steht die Truppe am Viktoria-Luise-Platz und blickt auf dessen Südseite.
Die Frauen und Männer, die an einem Sonntag vor einigen Wochen mit Voss unterwegs waren, schauten ihn fasziniert an, als er vom Obdachlosenleben erzählte. Und weil es darüber dunkel und kalt geworden war und sie angefangen hatten zu frieren, erschraken einige von ihnen auch. Für einen Moment, das war ihren Gesichtern anzusehen, war dieses Frieren mehr als ein momentanes Unwohlsein. Es war eine Bedrohung. Was wäre, wenn wir heute Abend keinen warmen Platz mehr für uns wüssten?
Der Stopp am Viktoria-Luise-Platz, der Satz „in dem gelben Haus da habe ich gewohnt“, das Persönliche also, sei noch immer, auch nach der 100sten Führung, sehr belastend für ihn, sagt Voss. Und vielleicht zieht ihm, als er das sagt, nur Rauch in die Augen, aber vielleicht ringt er auch mit Tränen. Bisher habe sich durch das Erzählen keine Distanz zum Geschehenen eingestellt, sagt er.
16 Monate Apathie, als er den Messejob aufgegeben hatte und Arbeitslosengeld I bezog, das in seinem Fall reichlich war. Das Verkaufen von Wertsachen, um an Geld zu kommen. Dann einfach keine Briefe mehr öffnen, nichts mehr zahlen bis zur Räumungsklage. Nur weil das jetzt vorbei ist, ist es nicht vergessen.
Doch wenn Voss im „Seeling Treff“ zwischen Herd, Tischen und Spüle unterwegs ist, ab und zu mit den anderen Helfern Witzchen macht oder mit dem extralangen Kochlöffel das obere Küchenfenster aufschlägt, damit der Dunst abziehen kann, ist das alles weit weg: der Topjob wie auch die Obdachlosigkeit. Dann ist Voss einer, der sich für Menschen einsetzt, die in existenzieller Not sind. Das ist der Unterschied zu seinem früheren Leben. Nötig hatte ihn da niemand. Deshalb will er dieses Ehrenamt nicht mehr aufgeben. Er sagt: „Das erdet mich.“
Ariane Bemmer
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