EU-Flüchtlingspolitik: Im Clinch mit Orban
Es hat einen Grund, warum Kanzlerin Angela Merkel mit Viktor Orban ins Gericht geht: Ungarns Regierungschef ist ihr Gegenspieler in der EU-Flüchtlingspolitik.
Es ist schon bemerkenswert, welche Bedeutung die Außenpolitik in diesem Wahlkampf spielt. Die Aufarbeitung der Flüchtlingskrise von 2015/2016 bis zur Schließung der Balkanroute vor eineinhalb Jahren, das Schicksal von Migranten in Afrika, das Verhältnis zur Türkei unter Staatschef Recep Tayyip Erdogan – eine Vielzahl von außenpolitischen Themen bewegt derzeit Wahlkämpfer und Bevölkerung. Jetzt hat Kanzlerin Angela Merkel (CDU) noch ein weiteres Fass aufgemacht: Es geht um die Rolle des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban als Quertreiber bei der europäischen Streitfrage, ob man Flüchtlinge von Griechenland und Italien innerhalb der Europäischen Union umverteilen soll.
Ohne Orban direkt beim Namen zu nennen, hat sich Merkel in einem Interview der „Berliner Zeitung“ sehr kritisch mit der Verweigerungshaltung des ungarischen Regierungschefs angesichts eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus der vergangenen Woche beschäftigt. Dabei waren Ungarn und die Slowakei vor dem EuGH mit einer Klage gegen einen Beschluss zur Umverteilung von bis zu 120.000 Flüchtlingen innerhalb der EU gescheitert. Während die Slowakei einlenkte, erklärte Orban anschließend, das Urteil sei „kein Grund, unsere Politik zu ändern, die Migranten ablehnt“. Die Kanzlerin betonte nun, diese Haltung sei „nicht zu akzeptieren“. Anschließend wurde Merkel gefragt, ob dies heiße, dass Ungarn die EU verlassen müsse. Die Kanzlerin hätte mit einem „Nein“ antworten können. Das tat sie aber nicht. Stattdessen erklärte sie: „Das heißt, dass eine sehr grundsätzliche Frage Europas berührt ist, denn Europa ist für mich ein Raum des Rechts. Wir werden beim Europäischen Rat im Oktober darüber reden müssen.“ Zuvor hatte Merkel beim TV-Duell für die nächsten Gipfel auch eine Diskussion über die Türkei angekündigt, nachdem SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz den Abbruch der EU-Beitrittsgespräche gefordert hatte.
Man muss zu Merkels Ankündigung in Sachen Ungarn aber auch wissen, dass Orban in der Flüchtlingspolitik auf EU-Ebene gewissermaßen der Antipode der deutschen Regierungschefin ist. Während sich die Kanzlerin auf dem Höhepunkt der Krise im September 2015 dazu entschloss, die Aufnahme der in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge in Deutschland zu ermöglichen, setzte Orban auf Abschottung und errichtete Zäune an den Grenzen zu Kroatien und Serbien.
Faktisch geht es nach dem EuGH-Urteil nur um verhältnismäßig wenige Flüchtlinge, die Ungarn aufnehmen müsste – nicht mehr als 1294 schutzbedürftige Menschen. Politisch bedeutsam ist eher, dass es in diesem Streit ums Prinzip geht. Und um die Frage, ob sich unwillige Staaten wie Ungarn in der Flüchtlingspolitik Mehrheitsentscheiden von Ministerräten beugen müssen.
Geldbußen gegen Ungarn und weitere osteuropäische Staaten könnten aber erst dann fällig werden, wenn die EU-Kommission in einem weiteren Vertragsverletzungsverfahren in der Sache vor dem EuGH Recht bekäme.
Albrecht Meier