Anschlag auf "Charlie Hebdo": Im Bann des Islamismus
Frankreich trauert um die Opfer des Attentats und stellt sich die Frage, wie es so weit kommen konnte. Was weiß man über die Tat und deren Hintergründe?
Nach dem tödlichen Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ trauerte Frankreich am Donnerstag um die zwölf Menschen, die beim Attentat ihr Leben verloren. Gleichzeitig suchte die Nation nach einer Erklärung für den schlimmsten Anschlag in Frankreich seit fünf Jahrzehnten.
Wer sind die mutmaßlichen Täter?
Die beiden Brüder Said Kouachi (34) und Chérif Kouachi (32) sind Franzosen mit algerischen Wurzeln. Sie wurden in Frankreich geboren und sind seit ihrer Kindheit verwaist. Der jüngere Bruder Chérif fiel in der französischen Öffentlichkeit erstmals im Jahr 2005 auf. In einer Reportage des Fernsehsenders France 3 wurde seinerzeit der Werdegang des damals 22-Jährigen von einem lebenslustigen Twen zum radikalen Moslem beschrieben.
Der junge Mann, der sich zunächst für Rap-Musik und junge Mädchen interessierte, geriet in einer Pariser Moschee in den Dunstkreis des Radikalislamisten Farid Benyettou, der das so genannte Netzwerk Buttes-Chaumont betrieb, benannt nach einem gleichnamigen Park im 19. Pariser Arrondissement. Das Ziel des Netzwerks bestand darin, junge Männer in den Dschihad des Terrornetzwerks Al Qaida in den Irak zu schicken.
Im Januar 2005 wollte Chérif Kouachi, der zuvor Frankreich nie verlassen hatte, nach Damaskus fliegen, um sich dort Al Qaida anzuschließen. Bei seiner Ausreise wurde er verhaftet und 2008 zu drei Jahren Haft verurteilt, davon eineinhalb Jahre auf Bewährung. In der Gerichtsverhandlung wurde er von seinem Anwalt als junger Mann beschrieben, der sich eher für den Haschischkonsum als den radikalen Islamismus interessiert. Chérif, der eine Ausbildung zum Fitnesstrainer gemacht hatte und Pizzas auslieferte, sei allerdings angesichts der Erniedrigung irakischer Insassen durch US-Soldaten im Abu-Ghraib-Gefängnis bei Bagdad „geschockt“ gewesen, sagte sein Anwalt damals auch.
Nach seiner Freilassung dauerte es nicht lange, bis sich Chérif Kouachi erneut radikalisierte; 2010 tauchte sein Name im Zusammenhang mit einem Befreiungsversuch eines inhaftierten Islamisten auf. In dieser Zeit geriet auch sein älterer Bruder Said Kouachi ins Visier der Ermittler.
Auch wenn sich der jüngere der beiden Brüder dem „Heiligen Krieg“ im Irak anschließen wollte und Dschihad-Fahnen in ihrem ursprünglich benutzten Fluchtfahrzeug entdeckt wurden, stammen die beiden Männer nach der Ansicht des französischen Islamismus-Experten Alain Chouet in erster Linie aus einem kriminellen und erst in zweiter Linie aus einem islamistischen Milieu. Auch wenn ihr professionelles Vorgehen bei dem Massaker in der Redaktion von „Charlie Hebdo“ auffällig sei, so glaubt Chouet dennoch nicht daran, dass die beiden Teil eines Netzwerks wie des „Islamischen Staats“ (IS) oder der Al Qaida sind. Diese beiden Terrororganisationen hätten eher international bekannte Ziele wie den Eiffelturm im Visier statt einer Zeitschrift wie „Charlie Hebdo“, die vor allem in Frankreich von sich reden mache. Dagegen zitierte die Zeitung „Libération“ Pariser Regierungskreise, denen zufolge die Brüder zum Al-Qaida-Netzwerk gehören.
Allerdings gibt es auch Meldungen, die einen anderen Schluss zuließen. Laut CNN stünden die beiden Brüder auch auf der amerikanischen No-Fly-Liste, was ihnen Flüge in den USA untersagte. Einer der beiden mutmaßlichen islamistischen Attentäter von Paris ist nach Informationen des TV-Senders zudem zum Terror-Training im Jemen gewesen. Dort habe er vor wenigen Jahren an der Ausbildung örtlicher Al-Qaida-Einheiten teilgenommen. Dies hätten französische Sicherheitskräfte ihren US-Kollegen mitgeteilt, berichtete CNN unter Berufung auf namentlich nicht genannte Quellen. Einzelheiten wurden nicht genannt. Im Jemen beherrscht die Al Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) ganze Landstriche und verübt immer wieder schwere Anschläge, zuletzt vor allem auf die schiitischen Huthis.
Wie gefährlich ist die Islamistenszene in Frankreich?
Hängt die Schießerei vom Donnerstag mit dem Attentat auf „Charlie Hebdo“ zusammen?
Am südlichen Stadtrand von Paris erschoss ein 52-Jähriger am Donnerstagmorgen eine Polizistin. Nach Angaben der Sicherheitskräfte handelte es sich bei dem Täter, der eine kugelsichere Weste trug, um einen Afrikaner. Es gebe keinen „eindeutigen Zusammenhang“ zwischen dem neuen Terrorakt und der Bluttat vom Vortag, sagten Ermittler.
Wie gefährlich ist die Islamistenszene in Frankreich?
In der Vergangenheit hat es immer wieder Anschläge von Islamisten in Frankreich gegeben; allerdings ist das Ausmaß des Angriffs auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ neu. Bei drei Bombenanschlägen der islamistischen Terrorgruppe GIA, die seinerzeit in Algerien und Frankreich zahlreiche Terrorakte verübte, starben in Paris 1995 acht Menschen. 2012 verübte der islamistische Einzeltäter Mohammed Merah im Südwesten Frankreichs Anschläge auf Soldaten und eine jüdische Schule, bei denen sieben Menschen getötet wurden.
Auch wenn die beiden Brüder Said und Chérif Kouachi nicht in diese Kategorie gehören, geht aktuell ein hohes Risiko von jungen Männern aus, die in den Dschihad nach Syrien gezogen sind und nun wieder in ihre Heimat zurückkehren. Dort wollen sie entweder weitere „Kämpfer“ rekrutieren oder Anschläge verüben. Über die Zahl der jungen Männer aus Frankreich, die in den „Heiligen Krieg“ gezogen sind, gibt es unterschiedliche Angaben.
Während einige Sicherheitsexperten ihre Zahl auf 1100 beziffern, hält der Islamismus-Experte Chouet diese Zahl für zu hoch gegriffen. Nach seinen Angaben haben sich 400 bis 500 junge Männer aus Frankreich dem „Islamischen Staat“ angeschlossen. Bei den jungen Franzosen, die für den Islamismus anfällig sind, handelt es sich nach seinen Worten nicht zwangsläufig um Männer aus den heruntergekommenen Vororten großer Städte wie Paris oder Lyon. Inzwischen würden die Dschihadisten ihre Anhänger häufig in Problemfamilien in abgelegenen Regionen Frankreichs rekrutieren, sagt Chouet.
Spielt der Anschlag dem rechtsextremen Front National in die Hände?
Welche Rolle spielt der Nahostkonflikt bei der Radikalisierung – und wie wirkt sich das aus?
Nicht nur wirtschaftliche Not und das Gefühl sozialer Ausgrenzung führen bei Muslimen in Frankreich häufig zur Radikalisierung. Auch der Nahostkonflikt spielt dabei eine wichtige Rolle. Immer wieder wird er auch auf Frankreichs Straßen ausgetragen. Aber was sich im vergangenen Sommer in Sarcelles abspielte, hatte eine neue, erschreckende Qualität: Eine Horde mit vorwiegend arabischen Jugendlichen zog randalierend durch den Pariser Vorort und skandierte dabei „Tod Israel“ und „Tod den Juden“. Aber es kam noch schlimmer: Gezielt griff die hasserfüllte Meute eine Synagoge und einen jüdischen Lebensmittelladen an, der durch eine Brandbombe ausbrannte. Später lieferten sich Mitglieder einer jüdischen Selbstverteidigungsgruppe und die propalästinensischen jungen Männer regelrechte Schlachten.
Frankreich war im vergangenen Juli – als die Situation im Gazakrieg eskalierte – erneut zum Nebenschauplatz des Nahostkonflikts geworden. Und die unter Muslimen verbreitete israelfeindliche Einstellung schlug in offenen Antisemitismus um. Ohnehin war 2014 ein finsteres Jahr für Frankreichs Juden.
Die Zahl antisemitischer Übergriffe und Drohungen hatte sich im Vergleich zu 2013 verdoppelt. Der Staat hat der Judenfeindschaft zwar schon mehrfach den Kampf angesagt. Doch trotz der wortreichen Solidaritätsbekundungen der politischen Führung fühlen sich immer mehr der schätzungsweise 500 000 in Frankreich lebenden Juden bedroht. Und die Angst hat Folgen. Vergangenes Jahr zogen 7000 Juden nach Israel, doppelt so viele wie 2013.
Spielt der Anschlag dem rechtsextremen Front National in die Hände?
Nach dem Attentat beschwor Frankreichs Präsident François Hollande die nationale Einheit. Nach seinem Willen sollen sämtliche Parteien die Bluttat vom Mittwoch nicht zum Anlass für die üblichen Taktierereien nehmen. Allerdings hielt sich die Vorsitzende des rechtsextremen Front National (FN), Marine Le Pen, nicht daran und wiederholte ihre Forderung, ein Referendum zur Einführung der Todesstrafe für „die abscheulichsten Verbrechen“ abzuhalten. Offenbar möchte der FN die übrigen Parteien vorführen und ihnen vorhalten, sie unternähmen zu wenig zur Bekämpfung des gewalttätigen Islamismus.