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Thomas Oppermann im Jahr 2013.
© IMAGO IMAGES/IPON

Zum Tod von Thomas Oppermann: Ihm waren die Wähler näher als die Partei

Er war ein Pragmatiker, ein Instinktpolitiker mit Humor - dem sein politischer Traumjob aber versagt blieb. Sein Tod hinterlässt eine große Lücke. Ein Nachruf.

Mit Ray-Ban-Brille und schwarzer Trekkingjacke ging Thomas Oppermann strammen Schrittes nach oben. Interviews gab er am liebsten im Laufen, an den steilsten Passagen. Er könne gar nicht sagen, wie oft er den 1141 Meter hohen Brocken schon erklommen habe, meinte er.

Als er oben beim Brockenwirt ein Bild von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit einer Würdigung zum 70. Geburtstag des Wirts sah, meinte der SPD-Politiker, er wolle auch den Sigmar Gabriel dort hängen sehen. Der war damals noch SPD-Chef. Schließlich sei das hier auch Heimat-Terrain des Mannes aus Goslar. „Ich bring' Ihnen mal ein Bild von Gabriel mit“, sagte er zum Wirt.

Da war Oppermann gerade ein paar Monate Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Die Episode aus dem Jahr 2014 zeigt die vielen Facetten dieses humorvollen Instinktpolitikers. Eine Fähigkeit war, dass ihm immer eine Botschaft einfiel, zu jedem Thema - und eben auch oben auf dem Brocken.

Politik war für Oppermann auch immer ein Spiel um Deutungshoheit, die präzise Analyse, das Setzen von Botschaften, genauso wie Bürgernähe und Direktheit waren Markenzeichen des Niedersachsen. Und er war ein begeisterter Wanderer.

Die Kanzlerin würdigt ihn als fairen Partner

Akribisch plante er die Bergtouren mit seinen Wanderfreunden um Niedersachsens Ministerpräsidenten Stephan Weil. Mitwanderer berichteten, dass er in der Regel den leichtesten Rucksack dabei habe und sich dann gerne beklagte, dass er die größte Last zu tragen habe.

Oppermann wirkte mit seinen 66 Jahren zuletzt immer topfit, leitete mit Witz und Akribie als Bundestagsvizepräsident die Plenarsitzungen, wirkte immer wie jemand, der auch zehn Jahre jünger sein könnte.

Um so erschütternder ist für das politische Berlin an diesem Montag die Nachricht, dass Thomas Oppermann in einem Göttinger Krankenhaus gestorben ist. Er war am Sonntag bei Dreharbeiten für die ZDF-Sendung "Berlin direkt" zusammengebrochen - nach Angaben des Senders kurz, bevor er live in die Sendung geschaltet werden sollte.

„Ich habe ihn über viele Jahre als verlässlichen und fairen sozialdemokratischen Partner in großen Koalitionen geschätzt“, lässt Kanzlerin Angela Merkel mitteilen. Als Vizepräsident des Bundestags habe sich Oppermann "in turbulenter Zeit um unser Parlament verdient gemacht“.

Der Niedersachse hatte als Vizepräsident bis zuletzt darum gekämpft, dass der Bundestag eine Wahlrechtsreform hinbekommt, um die Zahl der Sitze nachhaltig zu reduzieren. Aus seiner Enttäuschung darüber, dass die große Reform ausblieb, machte er dann kein Geheimnis.

Neben der Teilnahme an zahllosen Koalitionsgipfeln verband ihn mit Merkel eine ganz besondere Erfahrung: Er begleitete sie zum Fußball-WM-Finale 2014 nach Rio, genoss in der Residenz des deutschen Generalkonsuls die Aussicht auf den Zuckerhut, bevor es ins Maracana ging und Deutschland in jener magischen Julinacht mit dem 1:0 über Argentinien den Titel holte.

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Im Vorfeld hatte er für seine Verhältnisse mal richtig daneben gelegen, als er auf Brasilien als Weltmeister tippte. Jahrelang war Oppermann auch ein begeisterter Fußballer im Team des FC Bundestag.

Seinen Wahlkreis Göttingen hatte er viermal hintereinander direkt gewonnen. Und schon früh vertrat er Positionen, die manchmal quer zur Parteilinie lagen. Als niedersächsischer Wissenschaftsminister unter dem Ministerpräsidenten Gerhard Schröder war er zum Beispiel für Studiengebühren – später fand er deren Abschaffung aber auch okay.

In den USA war er politisiert worden

Der Sohn eines Molkereimeisters hatte übrigens als erster Vertreter seiner Familie studieren können – und wurde Jurist. Zuvor war der Kriegsdienstverweigerer in den USA zur Politik gekommen. Er arbeitete Ende der 70er Jahre dort als freiwilliger Helfer bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und half in der Feld- und Wanderarbeitergewerkschaft UFW/AFL-CIO. USA-"Bashing" war Oppermann deshalb fremd, mit dem Land war er Zeit seines Lebens innerlich verbunden geblieben.

Seinen großen Traum in der Bundespolitik konnte sich der Niedersachse aber nicht erfüllen: Jahrelang hatte er darauf hingearbeitet, den Posten des Bundesinnenministers zu übernehmen. Liberalität und Ordnung, für diese Werte wollte er eintreten und ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild schaffen. Der SPD-Politiker gehörte auch dem Schattenkabinett von Kanzlerkandidat Peer Steinbrück an.

Auch Humor gehörte zu seinen Markenzeichen: Thomas Oppermann, der am Sonntag überraschend starb.
Auch Humor gehörte zu seinen Markenzeichen: Thomas Oppermann, der am Sonntag überraschend starb.
© REUTERS

Doch nach der Bundestagswahl 2013 erhob die SPD in den Verhandlungen mit der Union keinen Anspruch auf das Amt, stattdessen bekam die SPD das Wirtschaftsressort, das Gabriel selbst besetzte, und das Justizressort, das Heiko Maas übernahm. Es brauchte viele Gespräche, bis Oppermann überzeugt werden konnte, dass er seiner Partei im Amt des Fraktionschefs mehr dienen konnte.

Als 14. SPD-Fraktionsvorsitzender seit 1949 hielt er zusammen mit Unions-Fraktionschefs Volker Kauder (CDU) den Koalitionsladen im Bundestag beisammen, auch wenn es für Kauder nicht die gleiche freundschaftliche Zusammenarbeit wie mit Peter Struck war.

Zumal wenig später die Edathy-Affäre Oppermann schwer unter Druck setzte, die Union forderte seinen Rücktritt. Er hatte die Informationskette offengelegt, wer wann was gewusst hatte von den Kinderporno-Ermittlungen gegen den SPD-Politiker Sebastian Edathy.

CSU-Innenminister Hans-Peter Friedrich musste zurücktreten. Damals herrschte Groll in der Union. Umso bemerkenswerter ist, dass viele Vertreterinnen und Vertreter von CDU und CSU Oppermanns Wirken und Person nun in ihren Nachrufen mit viel Emotionen positiv würdigen.

An der reinen Lehre der SPD hatte er wenig Interesse

Oppermann aber bezeichnete sich weiter selbstbewusst als „Stabilitätsanker der Koalition“. Von den Linken in seiner Partei wurde er während seiner Zeit als Fraktionschef misstrauisch beobachtet – vielen von ihnen galt er als Anpasser, dem der eigene Auftritt wichtiger sei als die reine sozialdemokratische Lehre.

Eine gewisse Eitelkeit war dem Niedersachsen nicht fremd, manche in der Fraktion warfen ihm vor, er schmücke sich mit der Arbeit anderer Abgeordneter, statt weniger bekannten Genossen die Bühne zu überlassen.

Vermittler: Thomas Oppermann mit Volker Kauder, Angela Merkel (beide CDU) und Gerda Hasselfeldt (CSU) im Bundestag.
Vermittler: Thomas Oppermann mit Volker Kauder, Angela Merkel (beide CDU) und Gerda Hasselfeldt (CSU) im Bundestag.
© REUTERS

In Talkshows war er ein viel gefragter Gast, der seine Argumente oft mit fast lausbubenhafter Fröhlichkeit vortrug. Was leicht wirkte, war in Wirklichkeit hart erarbeitet: Oppermann bereitete sich auf Interviews, Auftritte und Streitgespräche stets akribisch vor.

Immer hatte der Jurist ein gutes Gespür dafür, dass seine Partei sich nicht zu weit von der Lebenswirklichkeit ihrer Wählerinnen und Wähler entfernen dürfe. Er haderte mit den starken Kräften in der Funktionärspartei SPD, die sich vorwiegend mit sich selbst beschäftigten, Kompromisse als Zumutung empfanden und sich deshalb ständig von der eigenen Regierungsarbeit distanzierten.

Das Bild der SPD in der Öffentlichkeit habe auch "mit verlorenem Selbstbewusstsein zu tun", sagte er dem Tagesspiegel im Juni 2019: "Die SPD zeigt eine stark autoaggressive Tendenz." Sie sehe bei allem, was sie tue "das Glas immer halb leer, nie halb voll". Deshalb müssten sich die Sozialdemokraten die ungerechte Verteilung von Lob und Tadel in der großen Koalition "auch ein gutes Stück selber zuschreiben".

Stolz auf die eigenen Erfolge

Oppermann selbst war Distanz zum Wähler fremd. Und er hielt, wenn man mit ihm in Göttingen unterwegs war, nicht mit seinen Erfolgen hinterm Berg. Wenn er vor einem Modell der ESA-Raumsonde Rosetta stand, wies er nachdrücklich darauf hin, dass er das Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung als Wissenschaftsminister entscheidend gefördert hatte.

Zuletzt war es etwas ruhiger um den Vater von vier Kindern geworden. Er hatte vor wenigen Wochen erklärt, er wolle nicht erneut für den Bundestag  kandidieren.

„Nach 30 Jahren als Abgeordneter im Niedersächsischen Landtag und im Deutschen Bundestag ist für mich jetzt der richtige Zeitpunkt, noch einmal etwas anderes zu machen und mir neue Projekte vorzunehmen“, erklärte er. Sein plötzlicher Tod hat diesen Plan zunichte gemacht.

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