Bürger zu Europa: Ideen fürs Zusammenwachsen
Ein gemeinsamer Fernsehkrimi und Interrail-Tickets für alle 18-Jährigen – so kann Europa gelingen. Ideen aus der Bürgersprechstunde im Auswärtigen Amt
Das Auswärtige Amt und die Stiftung Mercator luden am 10. Februar 2017 zur „Bürgerwerkstatt Außenpolitik“ nach Berlin. Mehr als 100 Teilnehmer diskutierten die Frage: Welches Europa wollen wir? Der Tagesspiegel hat sich unter ihnen nach guten Ideen für die EU umgehört.
Leoni Härtl, 17, Neumarkt i. d. Oberpfalz, Schülerin
MEHR INFORMATIONEN IN DER SCHULE
Ich bin in einem Europa groß geworden, in dem es scheinbar schon immer eine gemeinsame Währung und keine Grenzkontrollen gab. Für meine Generation fühlt sich das selbstverständlich an. Über die Institutionen der EU habe ich auf dem Gymnasium erst etwas in der zwölften Klasse erfahren. Und was ist mit allen, die zum Beispiel eine Real- oder eine Hauptschule besuchen und gar keine zwölf Jahre zur Schule gehen? Wann lernen die etwas darüber? Ich glaube, viele wissen sehr wenig über Europa. Es wäre wichtig, dass man das ändert.
Christoph Kirtzel, 19, Prisdorf bei Hamburg, Freiwilliges Ökologisches Jahr
MODELL FÜR NACHHALTIGKEIT
Ich habe im vergangenen Jahr Abi gemacht und leiste gerade ein Freiwilliges Ökologisches Jahr. Wie man die Weltwirtschaft gerecht gestalten kann – das interessiert mich sehr. Ab dem Sommersemester werde ich zu diesem Thema ein Studium beginnen. Ich finde, Europa sollte sich seiner Verantwortung bewusst werden, nicht nur gegenüber zukünftigen Generationen, sondern auch gegenüber den Menschen aus der Dritten Welt. Die EU sollte, mit anderen Worten, global eine Vorreiterrolle in Sachen Nachhaltigkeit spielen. Ich denke da zum Beispiel an Handelsstandards, die soziale und ökologische Aspekte miteinbeziehen. Wir müssen zum Beispiel aufhören damit, billige Lebensmittel in die Dritte Welt zu exportieren und damit den Leuten vor Ort, die so was produzieren, die Lebensgrundlage zu entziehen.
Dirk Kinzius, 49, Mülheim a. d. Ruhr, Lehrer
MEHR CHARAKTERKÖPFE
Die deutschen Politiker auf europäischer Ebene kennen viele Menschen nicht mal dem Namen nach. Kein Wunder. Wir brauchen da mehr Charakterköpfe. Martin Schulz ist so ein Mann mit Ecken und Kanten. Im Europäischen Parlament hat er Klartext gesprochen, damit war er eine Ausnahme in Brüssel. Nun will Schulz ja Kanzler werden, schade für Europa. Das Grundproblem ist meiner Meinung nach: Bisher gibt es auf europäischer Ebene nur Zusammenschlüsse nationaler Parteien. Diese Parteien versuchen, nationale Probleme nach Europa zu bringen, um sie über diesen Umweg zu lösen. Das kann nicht der richtige Weg sein, da wird Europa missbraucht. Wenn wir die EU weiterdenken wollen, dann muss es echte europäische Parteien geben.
Patrick Timmer, 21, Lingen, Student
POPULISMUS BEKÄMPFEN
Mir ist wichtig, dass Europa den aufkommenden Populismus bekämpft. Ich denke, viele Menschen kennen die guten Seiten Europas zu wenig. Die hören nur, dass wir Deutsche Nettozahler sind, dass wir mehr an Geld hineingeben, als wir herausbekommen. Die sehen nur die Millionen, die nach Griechenland fließen. Der Frieden, in dem wir leben, erscheint ihnen selbstverständlich, ebenso wie die Freiheit, sich in Europa zu bewegen. Ich glaube, diese Errungenschaften muss man den Leuten wieder näherbringen.
Felix Hemmann, 29, Freiberg, Chemiker
EIN STÄRKERES PARLAMENT
Ich stamme aus Berlin, wo ich an der HU studiert habe, und fühle mich zuerst als Europäer, dann als Berliner und dann erst als Deutscher. Heute bin ich wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Bergakademie Freiberg. Aus dem wissenschaftlichen Umfeld kenne ich die Zusammenarbeit mit vielen Leuten aus anderen Ländern. Ich finde, das Europäische Parlament muss gestärkt werden – und dann eine echte europäische Regierung wählen können. Damit die Interessen kleinerer Nationen in einem solchen System nicht untergehen, muss man natürlich sicherstellen, dass sie immer in ausreichender Zahl im Parlament vertreten sind. Mittel- oder langfristig, vielleicht in 20 oder 30 Jahren, sollte das Ziel ein föderaler europäischer Staat sein, ähnlich den USA. Außenpolitik zum Beispiel würde dann nur noch in Brüssel gemacht.
Inge Verweyen, 65, Darmstadt, pensioniert
AUSTAUSCH FÜR ERWACHSENE
Für Studenten gibt es innerhalb von Europa schon ein gutes Austauschprogramm: Erasmus. Dass etwas Ähnliches auch für Azubis existiert, hat sich noch nicht so richtig herumgesprochen, aber immerhin. Was ich mir wünsche, ist eine Austauschbörse für Erwachsene, die schon im Beruf sind, aber dann mal 14 Tage nach Polen oder Spanien reisen könnten. Dazu bräuchte es natürlich finanzielle Unterstützung. Bis zu meiner Pensionierung war ich Lehrerin. An meiner Schule haben wir auch für drei, vier Jahre an einem Austausch mit Kollegen in anderen Ländern teilgenommen. Alle Beteiligten haben zunächst für sich ein gemeinsames Thema bearbeitet und sich dann in einem Land getroffen. Das war sehr schön! Ich schlage außerdem vor, in den Schulen eine Europa-Woche einzurichten, sodass die Lehrer wirklich Zeit haben, über das Thema zu reden.
Sabine Andert, 28, Rostock, Doktorandin
ENGER ZUSAMMENWACHSEN
Ich komme aus der Landwirtschaft und in diesem Bereich ist die EU eine tragende Säule. Viele Landwirte erhalten Zahlungen aus Brüssel, auf die sie angewiesen sind. Als Erasmus-Studentin war ich in Barcelona und Uppsala, habe viel gesehen und bin immer mit großer Euphorie nach Hause in die Altmark zurückgekehrt. Leider musste ich dann feststellen, dass meine Europa-Begeisterung von vielen nicht geteilt wird. Das gilt für viele Alte, aber auch für die Jungen. Vor allem, glaube ich, gibt es einen großen Gegensatz zwischen Deutschland und den Ländern an der Peripherie. Die EU ist noch ein Flickenteppich. Mein Wunsch ist, dass wir enger zusammenwachsen, dass aus den einzelnen Flicken wirklich ein ganzes Stück wird.
Stefan Kahnert, 23, Münster, Student
EIN GEMEINSAMES TV-ERLEBNIS
Ich wünsche mir, dass die vielen Errungenschaften der EU, vom Frieden im Großen bis zu den abgeschafften Roaming-Gebühren im Kleinen, erhalten bleiben. Was die Europäer vielleicht brauchen, sind mehr gemeinsame Erlebnisse, die die Menschen länderübergreifend verbinden. Vor ein paar Jahren gab es mal einen Krimi – ich glaube, das war ein deutsch-britisches Projekt –, der zeitgleich ausgestrahlt wurde und den man auch in beiden Sprachen anschauen konnte. Das war eine gute Sache, aber bloß einmalig. Fernsehen erreicht immer noch sehr viele Leute. Also warum nicht einen europäischen Krimi wie den „Tatort“ schaffen oder ein anderes regelmäßiges europäisches Fernseherlebnis, das in den großen Kanälen gezeigt wird? Das müsste natürlich finanziell unterstützt werden, so, wie es jetzt ja auch regionale Filmförderwerke gibt.
Felix Edeha, 23, Kiel, Student
EIN INTERRAIL-TICKET FÜR JEDEN
Europa ist unglaublich vielfältig. Um eine europäische Identität zu entwickeln, muss man den Kontinent erst mal kennenlernen. Deshalb, finde ich, sollte jeder 18-jährige Europäer das Recht auf ein Interrail-Ticket haben – um damit eine Zeit lang kostenlos durch Europa reisen zu können.
Wilhelm Peter Meurers, 61, Selfkant, Vorruhestand
EIN KERNEUROPA, DAS VORANGEHT
Ich stamme aus Selfkant, der westlichsten Gemeinde Deutschlands. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten wir lange zur Niederlande. Damals war die nächstgrößere Stadt, in die meine Familie regelmäßig fuhr, das niederländische Sittard. Dort sind wir einkaufen gegangen, dort war ich als Junge im Sportverein – zumal auf beiden Seiten der heutigen Grenze der gleiche Dialekt gesprochen wird. Hochdeutsch habe ich in der Schule wie eine Fremdsprache gelernt, mit allen Schwierigkeiten der Grammatik. Erst 1963 kaufte der westdeutsche Staat Selfkant zurück. Da mussten wir nun immer Geld umtauschen, wenn wir nach Sittard oder anderswo in die Niederlande fuhren, furchtbar! Als Kind des Drei-Länder-Ecks bin ich überzeugter Europäer. In Holland oder Belgien fühle ich mich genauso zu Hause wie in Deutschland. Aber die EU, so wie sie jetzt aufgebaut ist? Das funktioniert nicht! Es braucht eine Strategie für die Zukunft, und das kriegen Sie mit 28 Mitgliedern unmöglich hin. Da gibt es immer einen, der nicht einverstanden ist und sein Veto einlegt. Ich glaube, es braucht ein Kerneuropa. Vor allem Franzosen und Deutsche sehe ich in der Pflicht. Die Benelux-Staaten wären auch dabei und sicher auch Österreich. Diese Staaten müssen enger zusammenarbeiten, und sie müssen als Gruppe vorangehen. Wer dann noch mitmachen will, soll das gerne tun – aber zu den vorher von Kerneuropa formulierten Bedingungen.
Protokoll: Björn Rosen