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Andrea Nahles ist die erste Chefin der SPD-Bundestagsfraktion.
© Mike Wolff

Andrea Nahles über die SPD: "Ich will jetzt erstmal wissen, was Merkel vorhat"

SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles über den Widerstand in ihrer Partei gegen eine große Koalition und über den Autoritätsverfall der Kanzlerin.

Frau Nahles, wann wird Deutschland eine neue, stabile Regierung haben?

Im kommenden Jahr, da bin ich mir sicher.

Genauer geht es nicht?

Leider nein.

Aber die SPD wird diese Regierung bilden oder stützen?

Auch da muss ich Sie enttäuschen. Das weiß ich heute nicht.

Halb Europa appelliert an die SPD, ihrer Verantwortung für Deutschland und die EU gerecht zu werden – und zwar durch den Eintritt in eine große Koalition…

Dieses Vertrauen in die SPD ehrt uns. Wir sind uns sehr bewusst, dass Deutschland ein wichtiger Akteur in Europa und der Welt ist. Es gibt in vielen europäischen Ländern aber Minderheitsregierungen, die durchaus stabil sind, etwa in Schweden. Wir Sozialdemokraten werden uns deshalb nicht treiben lassen. Wir nehmen Verantwortung wahr, so oder so.

Mit Verlaub: Deutschland ist möglicherweise doch ein anderes Kaliber in Europa als Schweden…

Sie können es ja gern versuchen. Aber wir lassen uns nicht die Verantwortung für das peinliche Scheitern von Jamaika zuschieben. Es ist an der Zeit, dass CDU, CSU, FDP und Grüne ihr Versagen eingestehen.

Ein solches Eingeständnis ändert doch nichts daran, dass Deutschland schnell eine Regierung braucht…

Wir haben eine geschäftsführende Regierung, es gibt keine Staatskrise und deswegen auch keinen übermäßigen Zeitdruck. Die SPD hatte gute Gründe, nach der Bundestagswahl in die Opposition zu gehen. Diese Gründe gelten weiter. Und gleichzeitig ist eine neue Lage entstanden. Deshalb sind wir nun bereit für Gespräche, die das Ziel haben, wieder zu einer legitimierten Regierung zu kommen.

Nicht nur der Druck aus Europa ist hoch, auch in Deutschland sind die Erwartungen groß. Kann sich die SPD einer großen Koalition überhaupt noch verweigern?

So eindeutig, wie Sie das sagen, sehe ich das nicht. Verschiedene Umfragen ergeben ein unklares Meinungsbild, genauso wie die Kommentare in den Zeitungen. Auch in meiner eigenen Partei wird das sehr unterschiedlich gesehen, deshalb müssen wir nun gründlich und offen diskutieren.

Nach dem Treffen der Vorsitzenden von CDU, CSU und SPD beim Bundespräsidenten wird es weitere Gespräche geben – und von nun an werden Sie dabei sein. Was haben Sie sich vorgenommen?

Erstmal werden wir in unserer Partei sprechen. Sollte uns das Votum auf dem Parteitag in diese Gespräche schicken, gehe ich da sehr offen rein, aber auch sehr kritisch und aufmerksam. Ich muss ein Gefühl dafür kriegen, ob wir mit der Union überhaupt eine stabile Regierung bilden können. Ich möchte nicht, dass es wie bei Jamaika einen „Crash“ gibt, eine unvorhersehbare Entwicklung nach Wochen der Gespräche. Die Lage bei der Union ist doch so: Frau Merkel ist schwer angeschlagen, Herr Seehofer bereits angezählt.

Vertrauen Sie Ihren Gesprächspartnern?

Das ist die nächste Frage. Angela Merkel hat die SPD noch Anfang Oktober auf absehbare Zeit für nicht regierungsfähig erklärt. Das war nicht in Ordnung und sie weiß, dass es falsch war. Wir waren immer regierungsfähig, und wir sind es auch heute. Und natürlich war der Alleingang von Agrarminister Christian Schmidt (CSU) bei der Glyphosat-Zulassung ein schwerer Vertrauensbruch. Mir ist sein Verhalten völlig unverständlich.

Unter welcher Überschrift könnte eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit von Union und SPD stehen?

Viele Menschen erleben, wie der Gemeinsinn erodiert. Wenn wir darauf eine Antwort geben und den Zusammenhalt stärken, kann ich mir sowohl die Tolerierung einer Minderheitsregierung als auch eine neue große Koalition vorstellen. Ich will aber jetzt erstmal wissen, was Angela Merkel eigentlich mit dem Land vorhat. Für ein bloßes Weiter-So, bei dem es nur um die Machtsicherung von Angela Merkel geht, stehen wir ganz sicher nicht zur Verfügung.

Ist der Widerstand gegen eine große Koalition in Ihrer Partei auch deshalb so groß, weil sie Angst vor Angela Merkel hat?

Unsinn, niemand muss Angst vor Angela Merkel haben. Jeder spürt doch: Die Autorität dieser Kanzlerin hat nach der Wahlniederlage schwer gelitten, sie hat grobe handwerkliche Fehler bei den Jamaika-Sondierungen gemacht, ihr politischer Instinkt hat sie offenbar verlassen.

Ist es eigentlich ein Naturgesetz, dass die SPD aus großen Koalitionen immer geschwächt hervorgeht – oder hängt das von ihr selbst ab?

Nein. 1969 ist die SPD gestärkt aus der großen Koalition mit der Union hervorgegangen, Willy Brandt wurde Kanzler. Entscheidend ist, ob man es als kleinerer Partner schafft, als treibende Kraft wahrgenommen zu werden, am Ende mit geschärftem Profil herauszukommen und die besseren Ideen für ein besseres Leben der Menschen in Zukunft zu haben.

Das heißt, die große Koalition, die bei vielen in der SPD verhasst ist, könnte auch eine große Chance für Ihre Partei sein?

Jede Option enthält Chancen und Risiken. Für die SPD geht es jetzt darum, selbstbewusst alle Möglichkeiten für eine stabile Regierung zu prüfen.

Sehr selbstbewusst wirkt die SPD im Moment aber nicht…

Ich empfehle uns eine optimistische Grundhaltung. Diese Verzagtheit, die in manchen Debatten in unserer Partei zu spüren ist, können wir uns nicht leisten. Egal, für welche Lösung wir uns entscheiden, wir müssen sie selbstbewusst und mit voller Kraft vertreten.

War die SPD in der letzten großen Koalition zu brav?

Wir haben uns sehr darauf konzentriert, unsere Wahlkampfversprechen umzusetzen. Wir konnten zum Schluss guten Gewissens sagen: Versprochen – gehalten! Als Bundesarbeitsministerin habe ich fast alle Projekte, die wir in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt hatten, der Reihe nach abgearbeitet. Aber für ein gutes Wahlergebnis hat das nicht gereicht.

Was folgt daraus?

Für die SPD geht es immer darum, für die Menschen im Land mehr herauszuholen – auch wenn es Widerstand gibt. Wir haben gelernt: Wir müssen raus aus den Hinterzimmern, rein ins Parlament. Der demokratische Prozess braucht wieder mehr Transparenz. Nur mit einer klaren Haltung, die man so auch deutlich macht, gewinnt man Profil.

Kann es eine Einigung mit der Union auf eine Zusammenarbeit geben, ohne eine gemeinsame Vision für die Zukunft Europas?

Das ist ein wichtiger Punkt. Wir wollen wissen, ob die Union mit uns zusammen eine positive Antwort auf die EU-Reformvorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron geben will. Die Union hat sich in den vergangenen Jahren allen Vorschlägen für ein sozialeres Europa verweigert. Das müsste sich ändern.

Die Alternative zur großen Koalition wären Neuwahlen. Ist die SPD in der Verfassung einen weiteren Bundestagswahlkampf zu bestehen?

Wir haben keine Angst vor Neuwahlen, aber wir streben sie auch nicht an. Wir müssen erst die anderen Optionen prüfen, also Minderheitsregierung oder große Koalition.

Ist die SPD auf Neuwahlen vorbereitet, haben im Willy-Brandt-Haus die Planungen schon begonnen?

Wir werden bereit sein, wenn es dazu kommt. Diese Option ist ja nicht vom Tisch.

Manche in der SPD sagen, der Zug zur großen Koalition sei längst abgefahren, die Parteiführung wolle die Entscheidung nur über den Parteitag hinauszögern, damit es keinen Aufstand gibt…

Das ist wirklich falsch. Denn auch in der engeren Parteiführung gibt es sehr unterschiedliche Meinungen darüber, wie es weitergehen soll. Die gleichen plausiblen Argumente, die auch an der Basis diskutiert werden, prallen auch in der Debatte der Führung aufeinander. Selbst wenn wir in Gespräche mit der Union gehen – am Ende eines solchen Prozesses werden ohnehin die Mitglieder das letzte Wort haben.

Ist Vertrauen, ist Glaubwürdigkeit verloren gegangen, weil sich die Führung so kategorisch auf ein Nein zur großen Koalition festgelegt hatte und nun doch wieder ergebnisoffen reden will?

Die Entscheidung für die Opposition war richtig. Jetzt haben wir durch das verantwortungslose Agieren der Jamaika-Parteien eine komplett neue Lage. Da muss man uns eine Korrektur schon zugestehen. Uns allen ist doch klar, dass es keine einfache Antwort gibt. Deshalb werden wir verantwortungsvoll alles ausloten, gründlich und Schritt für Schritt.

Zu dem, was sie ausloten wollten, gehört auch eine Minderheitsregierung. Glauben Sie, dass die Deutschen sich damit anfreunden könnten?

Wir werden auch diese Option diskutieren. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Wähler eine Minderheitsregierung akzeptieren würden – nicht als Dauerlösung, aber für eine Übergangszeit. Es wäre ein Experiment, das Deutschland sicher nicht in eine Staatskrise stürzen würde, aber ob es unser Land wirklich voran bringt, bezweifle ich.

Kommende Woche ist SPD-Parteitag. Sind Sie sicher, dass die Delegierten dann nicht gegen eine große Koalition stimmen?

Ich habe immer Respekt vor Parteitagen. Dieser wird sicher besonders spannend werden. Wir sind in einer schwierigen Lage. Es geht jetzt darum, dass die Basis Martin Schulz das Vertrauen ausspricht und uns ein Mandat für weitere Gespräche gibt. Wir wollen die Delegierten überzeugen und nicht überrennen.

Welches Ergebnis erwarten Sie für Martin Schulz bei seiner Wiederwahl?

Ein gutes.

Das heißt in Zahlen?

Das werden wir sehen.

Falls es Neuwahlen gibt: Wen wird die SPD dann als Kanzlerkandidaten aufstellen?

Der Parteivorsitzende hat das Vorschlagsrecht. Das werden wir entscheiden, wenn es ansteht.

In der Parteiführung gibt es also keine Verabredung, dass Martin Schulz verzichten muss?

Nein, die gibt es nicht.

Darf ein SPD-Vorsitzender den Satz sagen „Ich strebe gar nix an“, wenn es um die Regierungsbildung in Deutschland geht?

Sie zitieren Martin Schulz nicht vollständig, es fehlt davor und dahinter etwas. Vollständig zitiert sehen Sie die rhetorische Figur. Es ging dabei um verschiedene Optionen der Regierungsbildung, der nächste Satz lautet: Ich will das Leben der Menschen in Deutschland besser machen. Das ist sein Ziel, und das ist unser aller Ziel.

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