Empörung ist der Anfang: Ich war nicht einverstanden - und wurde politisch
Am 14.7. hat die Schülerin Jette in einem Beitrag für "Spiegel Online" darüber geschrieben, dass sie zwar politisch interessiert ist, aber nicht so recht eine Möglichkeit sieht, sich einzubringen. Denn: "In der Schule lernt man keine Haltung - man lernt auswendig". Eine Antwort.
Liebe Jette,
als ich Schülerin der 11. Klasse war, das ist keine sieben Jahre her, stand die Wahl der Leistungskurse für die Abiturphase an. Das Schulfach Sozialwissenschaften war zu dieser Zeit mein liebstes. Ich interessierte mich für ökonomische Theorien, soziologische Konzepte, politische Modelle. Zu Tisch diskutierte meine Familie über die Fragen: Woher kommt unser Wohlstand? Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Ist Demokratie mehr Ideal denn Wirklichkeit? Schon damals zitierte ich Richard von Weizsäcker, mein Vater Karl Marx.
Es war ein Montagmorgen, als sich meine Mitschüler dicht an dicht vor den Aushängen der Schule tummelten. Die neuen Leistungskurse sollten bekannt gegeben werden. Wir konnten die Lehrerzuordnung kaum abwarten. Doch als ich bis zu den Listen vorgedrungen war, stand da nichts von einem Leistungskurs Sozialwissenschaften.
Ich hielt die Nichtnennung für ein Versehen, ein Missverständnis aus den Tiefen der Schulbürokratie. Als ich mich aber am nächsten Tag zur Schulleitung durchstellen ließ, empfing mich mein Direktor mit mitleidigem Blick. Der Kurs komme nicht zustande. Zu viele der angemeldeten Schüler seien versetzungsgefährdet. Das Risiko, den Kurs am Ende des nächsten Schuljahres nur noch mit der Hälfte der Schüler fortführen zu müssen, sei nicht hinnehmbar. Äußerlich reagierte ich besonnen. Im Innern regte sich Widerstand.
Eine Schule, die nicht an ihre Schüler glaubt. Welch’ Misstrauen gegenüber denen, die gerade jetzt auf Unterstützung angewiesen sind. Darf eine Schulleitung wild in die Zukunft spekulieren? Ich war nicht einverstanden. Am nächsten Morgen trommelte ich. Mit überzeugter Schülerschar im Rücken stürmte ich das Direktorat. Diesmal weniger besonnen. Diesmal mit Heugabeln und Fackeln. Als die Schulleitung nicht nachgab, zogen wir die Konsequenzen: Wir wechselten zur Konkurrenzschule. Im Folgejahr richtete meine alte Schule einen Leistungskurs Sozialwissenschaften ein.
Mit freudiger Erwartung startete ich ins neue Schuljahr. Doch schon bald war die Euphorie verflogen. Nach zwei Wochen Leistungskursunterricht kam ich zum gleichen Ergebnis wie Du: In der Schule lernt man keine Haltung. Man lernt auswendig. Statt über die Angemessenheit staatlicher Regulierung, über die korrekten Zuständigkeiten politischer Ebenen und das Richtig und Falsch von Gesetzen zu diskutieren, wurden wir bloß an die Architektur und die Funktionsweise staatlicher Apparate und Prozesse herangeführt. Wir diskutierten nicht zu Ende.
"Das gibt der Lehrplan nicht her"
Eines Tages fing ich meinen Lehrer ab. Ich erzählte von meinen Erwartungen und bat um mehr Raum für Diskussionen. Mir war unverständlich, weshalb wir zwar über den Aufbau der Europäischen Union und das europäische Demokratiedefizit sprachen, nicht aber über gemeinsame Lösungsmodelle nachdachten. Warum gibt es keine echten europäischen Parteien, sondern bloß europäische Zusammenschlüsse nationaler Entsandter? Warum darf das Europäische Parlament nicht von sich aus Gesetzesvorschläge unterbreiten? Wieso wählen wir keinen Kommissionspräsidenten? Mein Lehrer lächelte müde. "Das ist nicht vorgesehen", antwortete er. "Das gibt der Lehrplan nicht her." Erneut reagierte ich äußerlich besonnen, während sich im Innern Widerstand regte. Ich war nicht einverstanden.
Nach den Hausaufgaben setzte ich verschiedene Briefe an die Kultusministerien auf. Ich erklärte mein Anliegen und forderte eine Lehrplanreform. Weil ich schon dabei war, beschwerte ich mich darüber, dass wir in der Abiturphase bloß zwischen einem naturwissenschaftlichen und einem sprachlichen Schwerpunkt wählen durften. Wo war da der gesellschaftswissenschaftliche? Ich hielt ein Plädoyer für die Bedeutung der Geschichtslehre, die ins Zukünftige hinausstrahlt, über die Notwendigkeit, die in alle Lebensbereiche eingezogenen Marktprozesse verstehen zu können, und über das Interesse des Staates, uns durch einen stärkeren Bezug zu den Gesellschaftswissenschaften sensibler zu machen gegenüber Fragen des Gemeinwohls, des gesellschaftlichen Zusammenhalts, des modernen Bürgerseins.
Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Antworten. Ich weiß bloß, dass sie mich allesamt nicht zufriedenstellten, dass sie mich allesamt bedauernd vertrösteten. Ich war geknickt. Mir schien ausgeschlossen, meinem Interesse für Politik im Rahmen des Schulunterrichts hinlänglich nachgehen zu können. Eine Alternative musste her.
Ich komme aus einer Familie ohne Parteigeschichte. Mein eigenes politisches Profil war nicht ausreichend entwickelt, um einer Partei beitreten zu wollen. Das Ja für eine Partei war gleichbedeutend mit einem Nein gegenüber allen anderen - dieser Schritt schien mir zum damaligen Zeitpunkt zu gewaltig. Aus dem Grund suchte ich nach überparteilichen und parteilosen Foren für junge Menschen. Doch ich fand nichts. Da war keine Politik AG an meiner Schule. Es gab keinen mir bekannten Debattierclub in der Stadt.
Ich flüchtete ins Netz. Auf Facebook las ich Kommentare auf den politischen Nachrichtenseiten. Ich verlinkte politische Berichterstattung und äußerte mich meinungsgebend. Mit zunehmendem Engagement wurde mein Blick differenzierter, meine Urteile schärfer. Ich bloggte, ich kommentierte. Immer öfter war ich nicht einverstanden. Immer öfter setzte ich Petitionen auf, schrieb offene Briefe. Nach dem Abitur saß ich in der Politikredaktion der Tageszeitung "Die Welt".
In dieser Zeit wurde ich Mitglied meiner Partei. Partei ist der Politikmacher Nummer eins, davon war und bin ich überzeugt. Wir können jahrelang Unterschriften sammeln für eine nachhaltige Umweltpolitik, wir können hunderte Demonstrationen anmelden für eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik - am Ende des Tages sind wir nur allzu oft davon abhängig, dass die Abgeordneten der Parteien auf unsere Zurufe reagieren. Eine Einflussmöglichkeit, die mir als zu gering erschien.
Politisch sein heißt, Verantwortung nicht zu scheuen
Ich wollte Parteimitglied werden.
Ich stellte eine Formel auf, vergab Punkte für die Grundwerte der Parteien, ihre historischen Errungenschaften, ihre aktuellen Forderungen. Ich war angetan vom Menschenbild und der Gesellschaftslehre der Christdemokraten, ich mochte das liberale Bürgerverständnis, ich mochte den Pragmatismus. An den aktuellen Forderungen hatte ich einiges auszusetzen - aber so ist das eben: Finde eine Partei, in der Du mit allem übereinstimmst - Du wärest ihr einziges Mitglied.
Nach dem Parteibeitritt kam die Ernüchterung. Ich hasste die eintönigen Bürgersprechstunden und die selbstgerechten Abgeordnetenmonologe. Ich hatte keine Lust auf undurchsichtige Parteihierarchien, pedantisches Satzungsgedöns, strikte Anwesenheitskultur. Ich wollte mich nicht anziehen wie ein Aristokrat und nicht sprechen wie ein Diplomat. Ich war nicht einverstanden. Ich wollte Öffentlichkeit statt Hinterzimmer, Kontroverse statt Beifall auf Bestellung und Repräsentanten, die diesen Titel auch verdienten. Doch wie war das erreichbar, wenn man nur von außen schimpft, nicht aber von innen bewegt?
"Da regt sich nichts. Da passiert gar nichts. Wie soll ich denn da Politik machen, wenn man sich nur jedes halbe Jahr zum Stammtisch trifft?", habe ich einmal den heutigen Bundesinnenminister Thomas de Maizière gefragt. "Die Behäbigkeit der Kreisverbände begünstigt gerade die, die Feuer machen", hatte er damals geantwortet. Das habe ich mir zu Herzen genommen. Ich übernahm Ämter in der Jugendorganisation meiner Partei. Aus ineffizienter Zettelarbeit im lichtverschlossenen Parteibüro wurde schnelles mobiles Arbeiten per Online-Dokument. Aus unpolitischen Sitzungstreffen bei Wasser und Salzstangen wurde politisches Kabarett mit Diskussion im Altstadtviertel. Man muss doch brennen für das, was man in anderen entzünden will, hat schon Augustinus von Hippo gesagt. Demokratie muss gelebt werden, stammt von Konrad Adenauer.
Erwarte nicht, dass man Dich über Türschwellen bittet
Es war im letzten Jahr im Oktober, ich saß gerade im Hörsaal meiner Universität, als mich ein Anruf aus der Parteizentrale der CDU erreichte. Mein Generalsekretär bestellte mich in die Hauptstadt. Ich sollte mitarbeiten in seiner Parteireformskommission. Man habe mich gelesen, hieß es. Auf einmal saß ich zwischen bekannten Politikern wie Hamburgs Ex-Bürgermeister Ole von Beust und dem ehemaligen Gesundheitspolitiker Jens Spahn. Nach der ersten Sitzung war ich Leiterin der AG Jugend.
Ich lud Jugendliche nach Berlin ein. Wir sammelten, wie sich Partei verändern muss, damit sie für uns Junge attraktiv ist. Mehr Demokratie wagen. Mehr Digitalisierung wagen. Offen sein für echte Meinungsbildung. Repräsentanz leben. Auch die Jungen müssen in Amt und Mandat, nicht nur unsere Großeltern, da hast Du recht. Doch bleiben wir Jungen draußen, bestimmen die Alten, wer der Kandidat wird für den Bundestag. Du weißt, worauf ich hinaus will.
Ich war Schülerin eines Leistungskurses Sozialwissenschaften und habe im Anschluss Politikwissenschaft studiert. Ich habe in einer Politikredaktion gearbeitet und schreibe Dir heute aus dem Büro eines Bundestagsvizepräsidenten. Nichts davon hat mich politisch gemacht; es hat mich bloß enger an politische Themen herangeführt. Wirklich politisch aber war ich den Momenten, in denen ich gegen die eigene Schulleitung aufbegehrte, in denen ich Schüler von meiner Kritik überzeugte, in denen wir geschlossen zur Konkurrenzschule wechselten. Politisch war ich in den Momenten, in denen ich Lehrpläne hinterfragte, Reformvorschläge machte, die Kultusministerien nervte. Politisch war ich immer dann, wenn ich im öffentlichen Raum mit etwas nicht einverstanden war – und dann die Verantwortung zur Verbesserung nicht scheute.
Die Streitschrift "Empört Euch!" des ehemaligen französischen Widerstandskämpfers und UN-Diplomaten Stéphane Hessel bringt es bereits im Titel auf den Punkt. Empörung ist der Anfang allen Wandels. Empörung ist der Motor des Politischen. Wer sich empört, bezieht Stellung. Wer sich empört, bekennt Farbe. Wer sich empört, besitzt seinen eigenen Kompass; der weiß für sich um Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, um ein Richtig und ein Falsch. Das ist Politik.
Da ist eine Welt außerhalb des Klassenzimmers. Meinung ist nicht bloß möglich, sondern erst nützlich fernab der Politikklausur. Veränderung wird erst dann wirklich, wenn sie die Fiktivabstimmung auf der Kreidetafel hinter sich lässt. Schule ist nicht der Raum des Zuendediskutierens. Politikunterricht lehrt keine Überzeugungen. Er soll es auch nicht, denke ich heute.
Erwarte nicht, dass man Dich über Türschwellen bittet. Du musst schon selbstständig eintreten. Oft ist das nicht einfach. Parteien hieven Dich selten beschwingt an ihre Spitzen. Zu oft sind sie noch closed shops. An vielen Ecken ist Demokratie also tatsächlich mehr Ideal denn Wirklichkeit. Aber schon Richard von Weizsäcker soll gesagt haben: Wie traurig wäre diese Wirklichkeit auch, nähme sie uns die Möglichkeit, im unermüdlichen Einsatz einen Unterschied machen zu können. Warum soll das nicht auch auf den Politikbetrieb selbst zutreffen? Seien wir nicht einverstanden. Fangen wir an.
Hier lesen Sie den Beitrag der Elftklässlerin Jette aus Bremen für "Spiegel Online".
Diana Kinnert
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