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Jens Söring (hier auf einem undatierten Bild)
© dpa/obs

Jens Söring kommt aus US-Haft frei: „Ich habe 2008 meinen Glauben verloren“

Jens Söring verbüßte in den USA 33 Jahre Haft für einen Doppelmord, den er nicht begangen hat. Wir dokumentieren hier noch einmal ein Interview von 2012.

Jens Söring kommt frei - nach 33 Jahren in US-Haft für einen Doppelmord, den er nicht begangen hat. In einigen Tagen wird er nach Deutschland überführt.

In einem Interview mit dem Tagesspiegel hat der deutsche Diplomatensohn 2012 erzählt, wie er mehr als zwei Dutzend Jahre im Gefängnis überlebt hat, wie er den Glauben an Gott verlor, nicht aber die Hoffnung auf Freiheit. Sehr klarsichtig sagte er voraus, auf welchem Weg er frei kommen könnte, welche Freunde und Politiker dabei die größte Hilfe sein werden und welche Herausforderungen auf ihn in Deutschland warten: ein Land, das der heute 53-Jährige zuletzt als Teenager gesehen hat.

Wir dokumentieren hier noch einmal Jens Sörings Aussagen von 2012. 

Ihre Stimme klingt so energisch, Sie strahlen eine souveräne Ruhe aus. Sind Sie wirklich in einer gefestigten Verfassung?
Ich habe nicht aufgegeben. Zugleich sehe ich meine Situation sehr realistisch. Heute bin ich genau 26 Jahre, drei Monate und 25 Tage im Gefängnis. Ich weiß, wie schlecht meine Lage ist. Aber erstens bin ich unschuldig. Deshalb kann ich nicht aufhören zu kämpfen. Ich kann doch nicht der Gegenseite recht geben. Ich habe mir die Sache selbst eingebrockt, indem ich die Polizei belogen habe, als ich ein 19-jähriger dummer Bursche war.

Falsche Geständnisse gibt es überraschend häufig. In 25 Prozent der Fälle, wo die Unschuld durch DNA-Tests bewiesen wurde, gab es vorher falsche Geständnisse. Es ist nicht so ungewöhnlich, was ich da als 19-Jähriger gemacht habe. Im Übrigen habe ich das der Polizei damals gesagt, dass ich bereit wäre, mich für schuldig zu erklären, obwohl ich die Tat nicht begangen habe. Das ist keine Ausrede, die ich mir später ausgedacht habe ...

… erlauben Sie mir …
... lassen Sie mich das noch sagen – dann können Sie fragen: Ich habe eine klitzekleine Chance auf Bewährung, weil ich zu den Altfällen aus der Zeit vor 1995 gehöre. Damals gab es die Möglichkeit noch. 1995 wurde die Freilassung auf Bewährung abgeschafft. In Virginia wird das zwar nur in zwei bis drei Prozent der Altfälle genehmigt und bei Lebenslänglichen ist die Quote noch niedriger.

Viele meiner Kollegen hier, die nach 1995 verurteilt wurden, wissen, dass sie im Gefängnis sterben werden. Lebenslänglich heißt für sie wirklich: bis zum Tod. Ich bin so dankbar, dass ich wenigstens eine ganz kleine Chance habe, rauszukommen. Und dass ich so viel Unterstützung bekomme.

Sie haben noch Hoffnung auf ein Leben in Freiheit?
Ja. Während wir telefonieren, schaue ich auf Zelle 111. Da wohnt ein Mann, der ist geisteskrank. Er sitzt seit 44 Jahren. Daneben, in Zelle 110, lebt ein 84-Jähriger. Der wurde erst vor ein paar Tagen wieder abgelehnt vom Parole-Board (Bewährungsausschuss), weil er angeblich ein Risiko für die Gesellschaft ist. Dabei ist er blind. Wir müssen ihm jeden Tag helfen, den Teller mit dem Fraß bei der Essensausgabe in Empfang zu nehmen, weil er das nicht allein kann. Und der soll eine Gefahr sein? Mit mir sitzen einige, die sind unsichtbar geworden für die Außenwelt. Ich bin nicht unsichtbar.

Welchen Weg halten Sie für den chancenreichsten: Gnadenakt des Gouverneurs, Überstellung nach Deutschland, Bewährungsverfahren?
Einen Gnadenakt wird es nicht geben. Das ist politisch zu riskant für den Gouverneur. Ein Verfahren zur Haftüberstellung müsste ich juristisch eigentlich gewinnen. Aber es gibt hier in Virginia keine unabhängige Justiz. Deshalb glaube ich nicht mehr an den Erfolg dieser Option, sondern setze meine Hoffnung ganz auf Parole, also Bewährung, was im Ergebnis die Abschiebung nach Deutschland bedeutet. Darüber entscheidet ein Ausschuss, der offiziell unabhängig ist. Der Gouverneur muss keine politische Verantwortung übernehmen, seine Fingerabdrücke wären nicht zu sehen. Das wäre ein Vorteil.

Der Gouverneur hat die Vorsitzende des Ausschusses, die ihren Antrag abgelehnt hatte, ausgetauscht. Ein gutes Zeichen?
Nein. Diese Posten sind Belohnungen für Leute, die im Wahlkampf geholfen haben. Jeder neue Gouverneur ernennt ein neues Parole-Board und nimmt dafür Freunde, denen er einen Gefallen tun will. Der Lohn ist hoch, und die Arbeit ist leicht.

Sie haben kürzlich gesagt, nur Berlin kann Sie rausholen. Welche Rolle spielt die deutsche Unterstützung ganz konkret?
Die deutsche Politik spielt eine Schlüsselrolle. Die Entscheidung wird letztlich nicht vom Parole-Board gefällt, sondern im Amt des Gouverneurs. Auf ihn muss politischer Einfluss genommen werden. Der kann nur aus Washington und aus Berlin kommen. Ohne ihn wird man mich nicht freilassen.

Wie gut fühlen Sie sich dabei unterstützt? Wie oft erhalten Sie zum Beispiel Besuch von deutschen Diplomaten?
Knut Abraham, Generalkonsul seit 2011, besucht mich alle zwei bis drei Monate. Zuvor sein Vorgänger Klaus Botzet.

Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, war bei Ihnen im Gefängnis.
Richtig. Und ebenso der Abgeordnete Peter Beyer, Berichterstatter für die atlantischen Wirtschaftsbeziehungen.

Halten Sie es für hilfreich, deutsche Firmen einzuschalten – nach der Devise: Wir würden ja gerne in den USA investieren, aber dem Gouverneur von Virginia müssen wir sagen, in ihrem Staat gibt es ein Problem, das uns davon abhalten könnte?
Es gibt vielversprechende Kontakte zu Firmen. Die wollen sich momentan noch im Hintergrund halten. Aber ich bekomme Unterstützung, dafür bin ich dankbar.

Hilft eher stille Diplomatie oder öffentlicher Druck?
In den USA hilft die stille Diplomatie, in Deutschland hilft die öffentliche Diplomatie. Virginia will sich nicht von Ausländern sagen lassen, wie sie ihr Justizsystem zu organisieren haben. Das kann ich verstehen. In Deutschland bemühe ich mich dagegen sehr um Öffentlichkeit, dort ist die politische Lage ganz anders.

Am Ende muss beides zusammen wirken. Sie haben die schriftliche Unterstützung von 54 Abgeordneten. Aber Sie wissen, dass die Meinung deutscher Abgeordneter in Virginia wenig zählt.
Gewiss, aber Deutschland ist das wirtschaftlich wichtigste Land in Europa. Egal, ob Obama oder Romney die Präsidentenwahl im November gewinnt, er wird nach Deutschland kommen zu einem offiziellen Besuch. Dann wird es eine Gelegenheit geben, mit ihm über meinen Fall und seine Bedeutung für die deutsch-amerikanischen Beziehungen zu sprechen.

Die meisten Deutschen sind mit Ihrem Fall nicht vertraut. Halten Sie sich tatsächlich für unschuldig? Sie haben doch in jedem Fall Gesetze gebrochen, wenn Sie durch ein falsches Geständnis die Aufklärung eines Doppelmordes verhindert haben
Unschuldig bin ich nicht. Der Titel meines Buches lautet „Nicht schuldig“. Das ist ein wichtiger Unterschied. Ich bin nicht schuldig an den Morden, für die ich verurteilt wurde. Die Straftat, die ich begangen habe, heißt im amerikanischen Recht „Komplizenschaft nach der Tat“. Das ist kein Verbrechen, sondern ein Vergehen, und die Höchststrafe dafür ist ein Jahr.

Sie haben zwei Mal das Geständnis abgelegt, die Morde an den Eltern ihrer damaligen Freundin begangen zu haben.
Es waren zwei unterschiedliche Geständnisse, beide enthielten Abweichungen vom Tatverlauf, der sich aus den Spuren am Tatort ergab. Es ist zum Beispiel eindeutig, dass zwei Täter dort waren. Ich hatte jedoch „gestanden“, dass ich die Tat alleine begangen habe. 2009 gab es neue DNA-Tests. Von 42 Spuren waren 31 ungeeignet dafür, aber elf konnte man untersuchen. Man weiß nicht, von wem sie stammen, aber sicher ist: Sie stammen nicht von mir. Das beweist, dass mein Geständnis nicht wahr sein kann. Denn ich hatte „gestanden“, dass ich mich an der Hand geschnitten und am Tatort geblutet habe. Wenn das wahr gewesen wäre, hätte man doch mindestens eine Blutspur mir zuordnen können müssen.

Sie sprechen mit einer erstaunlichen Ruhe und Reflexion über diese schwierigen Aspekte. Sie wissen, das sind keine Beweise für Ihre Unschuld. Es zeigt nur, dass keine der Blutspuren zu Ihnen gehört.
Richtig. Aber es beweist, dass mein Geständnis nicht wahr sein kann.

Nach Ihrer Darstellung hat Ihre damalige Freundin Elizabeth Haysom ihre Eltern getötet. Sie waren nicht dabei. Sie haben aus Liebe zu ihr erst versucht, die Morde zu vertuschen, und haben dann die Tat auf sich genommen, um Elizabeth vor der Todesstrafe zu retten. Später sind Sie gemeinsam vor der US-Justiz ins Ausland geflohen und wurden in London festgenommen.
Ja. Ich dachte damals, dass ich über meinen Vater, der Konsul in Detroit war, Immunität genieße oder nach Jugendstrafrecht höchstens zehn Jahre bekomme.

Haben Sie Kontakt zu Elizabeth Haysom?
Nein, seit 1987 nicht mehr.

Hatten Sie irgendwann die Hoffnung: Wenn Elizabeth Ihre Darstellung bestätigen würde, dann hätten Sie eine Chance frei zu kommen?
Juristisch gesehen: nein. Das Gesetz in Virginia erlaubt es nicht, so einen Fall neu aufzurollen. Selbst nach einem Geständnis von Elizabeth nicht. Außerdem war sie damals schon von drei Psychologen als „Borderline“-gestört diagnostiziert worden. Dazu gehört krankhaftes Lügen. Womöglich weiß sie gar nicht mehr, was die Wahrheit ist.

Was ist mit ihrer eigenen Familie?

Meine Mutter starb 1997. Mein Vater unterstützte mich viele Jahre ganz toll. Kurz nachdem der Oberste Gerichtshof der USA 2001 meine letzte Berufung abgelehnt hatte, kam es zum Bruch mit ihm.

Manche Ihrer Unterstützer in Deutschland nennen als ein zusätzliches Problem, dass Sie in einem rechtsstaatlichen Verfahren verurteilt worden sind. Das sagt auch Markus Löning. Sehen Sie das auch so?

Keineswegs. Ich respektiere Herrn Löning und bin ihm dankbar für seine Unterstützung. Aber der Richter in meinem Prozess war voreingenommen. Er war ein Freund der Opfer und hat bereits vor Prozessbeginn in einem Interview gesagt, dass er mich für schuldig halte. Zweitens war mein Rechtsanwalt während des Prozesses geistesgestört. Deshalb hat ihm die Anwaltskammer die Lizenz entzogen. Drittens wurde mir bei den Verhören in London vier Tage lang ein Rechtsbeistand verweigert, obwohl ich immer wieder um einen Anwalt gebeten hatte. Viertens wurde im Berufungsverfahren 1996 festgestellt, dass die Staatsanwaltschaft Beweise unterschlagen hat.

Amnesty International möchte sich für Sie nicht vorrangig einsetzen. Ärgert Sie das?

Nein. Ich kann das verstehen. Amnesty hat mir erklärt, dass so vieles im US-Justizsystem im Argen liegt, sie sich auf Fälle mit Todesurteil konzentrieren und keine Zeit für normale Fälle wie mich haben. Man darf daraus nicht schließen, dass mein Schicksal Amnesty gleichgültig sei.

Falls Sie nach Deutschland kämen, was würden Sie tun?
Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich konzentriere mich darauf, wie ich herauskomme. Ich habe einen großen Unterstützerkreis, und mehrere Freunde haben mir Jobs versprochen.

Es gab auch Interviewäußerungen, Sie würden in ein Kloster gehen.
Das war 2007. Die fünf Jahre seither waren sehr schwer für mich. Erst die Hoffnung, dass ich frei kommen würde, dann die schreckliche Enttäuschung. Das hat mir innerlich Schaden zugefügt.

Wird man in solchen Momenten religiös oder verliert man den Glauben?
Ich habe 2008 meinen Glauben verloren. Das war sehr schmerzhaft. Es hat ungefähr ein Jahr gedauert, bis ich das emotional verarbeitet habe. Meine Freunde in Deutschland, aber vor allem in den Vereinigten Staaten haben mir sehr geholfen. 22 Jahre lang konnte ich glauben und hoffen. Aber irgendwann ging etwas innerlich kaputt. Wenn man zu viele und zu tiefe Enttäuschungen erfährt, kann man sich nicht mehr überzeugen, dass es einen Gott gibt, der einem Gutes will.

Wie ist der Kontakt zu Mitgefangenen?
Ich erlebe keine Anfeindungen, habe aber auch keine Sonderstellung, weil mein Fall so bekannt ist. Ich bin ein alter Hase. Je länger jemand im Gefängnis war, desto größer wird der Respekt der anderen. Die Wärter behandeln uns gut.

Gelten Sie als einer, der intelligent ist, sich mit dem Recht auskennt und helfen kann?
Ja, vor allem im früheren Gefängnis, ehe ich 2009 hierher verlegt wurde. Viele Gefangene sind ja sehr ungebildet. Die brauchen Hilfe mit Briefen oder anderen Dingen. Auch so erwirbt man sich Respekt.

Das Leben draußen hat sich stark verändert in der Zeit. Deutschland ist wieder vereinigt. Handys sind verbreitet. Machen Sie sich manchmal Gedanken, ob Sie sich in den neuen Zuständen zurechtfinden?
Natürlich. Deshalb lese ich viel, um mich auf dem Laufenden zu halten, und versuche mir vorzustellen, wie sich das anfühlt, wenn ich ein Handy in der Hand halte. Man muss sich eben anstrengen.

26 Jahre – wie verkraftet man das?
Verkraften kann man das nicht. Ich bin innerlich schwer verwundet worden. Etwas anderes zu behaupten wäre Selbsttäuschung. Aber die ganze Zeit habe ich ganz wunderbare Freunde gehabt, vor allem in Amerika, aber auch in Deutschland. Ich konnte hoffen, und das verdanke ich diesen Freunden.

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