Bundeswehr in Afghanistan: "Ich dachte, das war es jetzt"
Einsatz am Hindukusch: Episoden aus dem Alltag der deutschen Soldaten in Afghanistan – und über ihre Ängste.
Für die deutschen Soldaten, die in den Einsatz nach Afghanistan fliegen, geht es in Köln los. Porz-Wahn heißt der Stadtteil, in dem der militärische Teil des Flughafens liegt. Drei Stunden vor Abflug müssen die Soldaten in der Regel dort sein. Vor dem flachen Abfertigungsgebäude wimmelt es dann von Uniformen, drinnen ist für so viele Leute gar kein Platz. Selbst bei Abflug im Februar, wenn am Hindukusch noch tiefster Winter ist, wählen sie meist schon die Tropenuniform – sie bleiben ja vier Monate, und in der Zwischenzeit wird es dort unten schnell heiß. 20 Kilo Gepäck darf jeder mitnehmen. Außerdem dürfen 8,5 Kilo Handgepäck mit. Das gute Stück darf aber nur maximal sieben Kilo wiegen – denn bevor es in den Flieger geht, bekommt jeder noch eine 1,5-Liter-Flasche Wasser in die Hand gedrückt. An Bord des Airbus gibt es zwar auch Getränke, aber dafür muss jeder zahlen, für eine Cola 60, für einen Orangensaft 70 Cent.
Mit der rosa Bordkarte (auf dem Gepäckabschnitt steht derzeit gern El Paso, die müssen offenbar weg) geht es in ein großes beiges Zelt mit Holzfußboden, Bierbänken, einem kleinen Ausschank und ein paar Sitzreihen. Bis es weitergeht, kann es dauern. Aus dicken Röhren wird im Winter warme und im Sommer kühle Luft in diese Abflughalle gepustet, eine wirklich angenehme Temperatur ergibt das allerdings nie. Waffen trägt hier übrigens keiner.
Sechs Stunden später landet der Airbus in Termez, Usbekistan. 240 Bundeswehrsoldaten schieben an diesem Umschlagplatz im Nirgendwo kurz vor der afghanischen Grenze Dienst. Bei der Ankunft nachts gegen 23 Uhr darf nicht einfach jeder aussteigen. Als Erstes kommt eine streng blickende Usbekin herein. Also: ruhig sitzen bleiben und abwarten, bis der Name aufgerufen wird. Vom Wohlwollen der Dame hängt ab, wie schnell es geht. In einem an Playmobil erinnernden Bus geht es ein paar Meter weiter zum Lager. Steinplatten als Weg, Sanitärcontainer, ein Steingebäude für Verwaltung und Internetplätze, ansonsten vor allem Zelte, Zelte, Zelte. Eins ist für Frauen („Ladies“) reserviert, es sind noch immer nicht so viele. Drinnen: Feldbetten, Neonlicht, die raue Bundeswehr-Decke holt sich jeder bei der Ausgabe hinter dem Eingang – und gibt sie da auch wieder ab. Früh gegen sechs oder sieben heißt es meist schon wieder antreten zum Abflug (auch wenn es dann gern getreu dem Motto „hurry up and wait“ nicht sofort weitergeht). Aber die meisten haben sowieso kein Auge zu getan.
Wer in die „Trall“ steigt, hat meist ein leichtes Drücken in der Magengrube. Denn jetzt geht es nach Afghanistan. Über die Berge. Gute Schussposition für Taliban. Der betagte Transportflieger hat zwar ein Schutzsystem, das sogenannte Flares abwirft, sobald sie am Boden Verdächtiges bemerken. Aber ob das im Zweifel hilft? „Solange es draußen kracht, haben wir kein Problem. Wenn es drinnen kracht, haben wir ein Problem“, versucht der Lademeister einen lockeren Spruch. Wenn sie die Flairs abfeuern, wird es blitzen. In 25 Minuten wird der dickbäuchige Flieger übers Gebirge nach Masar-i-Scharif hüpfen, wenn er ausweichen muss, kann es wackelig werden.
Ankunft in Masar-i-Scharif, die Klappe der Transall öffnet sich, noch bevor die Maschine steht. Zuerst ist da der Berg. Mächtig steigen die Gipfel in den Himmel. Im Winter würde jeder am liebsten sofort die Ski anschnallen. Aber die Minen. Willkommen in Afghanistan. Auch in den glühend heißen Sommermonaten wirkt das Marmal-Gebirge, als liege es direkt vor der Tür des deutschen Camps mit dem Hauptquartier des RC North, des Regionalkommandos Nord der Isaf-Schutztruppen. Doch das täuscht. Es sind noch 18 Kilometer. Die werden die meisten, die hier ankommen, nie hinter sich lassen. Sie bleiben im Camp Marmal. Der bisherige Kommandeur (bis zum vergangenen Mittwoch), Dieter Dammjacob, war offenkundig daran interessiert, dass möglichst viele Soldaten auch das Land vor den Toren des ein mal zwei Kilometer messenden größten deutschen Camps zu sehen bekommen.
Im Lager kann man sich verdammt schnell auf die Nerven gehen. Wenn sich die, die zusammen leben müssen, nicht gut verstehen, kann ein Tag zur Tortur werden. Wen es ganz hart trifft, bei dem sind Arbeits- und Schlafplatz nur durch Vorhänge getrennt. Wenn da einer aufsteht, sind alle wach. Weil es jetzt so viele sind, schlafen die Soldaten in Masar zu dritt in einem Containerabteil, früher waren sie nur zu zweit. Draußen auf dem Flur ihrer sandfarbenen Baracken sieht es jeden Tag aus wie zu Nikolaus. Auf metallfarbenen Mülleimern reiht sich Stiefelpaar an Stiefelpaar. Niemand erträgt auf den paar Quadratmetern im Zimmer den Geruch, den die Tropenstiefel nach einem Tag in mehr als 40 Grad verströmen. Und da es hier so nette Tiere wie Skorpione gibt, wird ihnen empfohlen, Schuhe hoch zu lagern – und einen Socken drüberzuziehen. Tagaus, tagein sind die meisten Soldaten im Lager, sei es im Logistikzentrum Masar oder im Wiederaufbauteam Kundus. In Masar können sie auf bunten Mountainbikes immerhin sechs Kilometer pro Runde radeln, ihren Frust abstrampeln, oder sich im Gym an den Geräten auspowern, in einem kleinen Lädchen Getränke, Süßigkeiten oder Playmobil für die Kinder zu Hause einkaufen. Der Laden hat sinnigerweise andere Öffnungszeiten als das Feldpostamt direkt nebenan. Sogar eine Kapelle haben sie hier. Im „Supreme“, ihrer Kantine, gibt es jeden Tag Essen aus deutschen Landen frisch auf den Tisch. Nicht eine Melone wird auf dem Markt gekauft. Aus Sicherheitsgründen.
Etwas abgelegen von den Gebäuden stehen in Masar im Schotter zwei Mauern im Winkel, 26 Steintafeln sind darauf angebracht. 21 deutsche Namen, fünf Soldaten anderer Nationen – das Ehrenmal. An diesem Ort kommt der Kampf ganz nah. Einer mit Tätowierung auf dem Arm sagt bitter: „Das hier ist Krieg. Nichts anderes. Das sollen die zu Hause auch endlich mal sagen.“ Ein Findling steht dort, wo sich die Mauern treffen, ein weiß-hellblauer Blumenkranz aus Plastik, von der Sonne gebleicht, vom Wind gezaust, liegt dort. Auf dem Stein steht: „Zum Gedenken an unsere toten Kameraden“ und „In deine Hände befehle ich meinen Geist“, in Englisch „Lest we forget“ – auch zwei Zeilen in der lokalen Sprache. Umrahmt ist der stille Gedenkort von Flaggen. Inzwischen wehen sie fast jeden Tag auf Halbmast. Geflaggt wird auch für die Opfer in den anderen Kommandobereichen des Landes. In den vergangenen Monaten starben in Afghanistan mehr internationale Soldaten als im Irak.
Martin, blond, schlank, Mitte 20. Zur Begrüßung verschwinden die eigenen Finger in seinen Pranken. Ein bisschen verlegen legt er den Kopf schief. Soll er das wirklich sagen? Martin war in Kundus. Da, wo seit Monaten immer wieder Raketen auf das Lager des deutschen Wiederaufbauteams gefeuert werden. Er war im Innendienst. Aber dann haben sie gefragt, ob mal jemand mit raus will. Martin wollte. Jetzt war er schon Monate da, sein fünfter Auslandseinsatz, einmal wollte er sehen, in welchem Land er ist. Doch irgendwie hatte er sich das anders vorgestellt als sein Chef. Es wurden zwei Wochen Patrouille. Martin schluckte. „Was habe ich gemacht? Die hatten wohl zu wenig Leute. Das war doch gar nicht mein Job.“ Aber gesagt war gesagt. Seiner Frau hat er es nach langem Ringen mit sich selbst erzählt. „Wenn was passiert wäre, hätte sie doch gedacht, ich lüge sie an.“ Sie war alles andere als begeistert. Martin hatte zu kämpfen: mit seiner Angst. „Da draußen laufen die Selbstmordattentäter rum, und wir gehen zu Fuß durch Kundus.“ Ein Scheißgefühl war das. „Im Kosovo haben sie uns immer wieder gesagt, du stehst sowieso mit einem Bein im Gefängnis, wenn du einen erschießt.“ Sie wissen, dass sie nicht einfach drauflosschießen dürfen. Was, wenn plötzlich einer das Gewehr auf einen richtet? „Ich weiß nicht, ob ich da mein Regelbuch noch mal durchgehe“, sagt er.
Sie hatten sie instruiert, worauf sie achten sollten. Solange die Straße belebt ist, gilt sie als relativ sicher. Vorsicht ist geboten, wo kaum Menschen unterwegs sind. Oder wenn ein Fahrzeug mutterseelenallein am Straßenrand steht. Dann fahren sie durch die Stadt. Martin sieht das Moped im letzten Augenblick. Niemand steht daneben. Er schließt nur noch die Augen. „Ich dachte, das war es jetzt.“ Irgendwann macht er die Augen dann doch wieder auf. Es ist nichts passiert. Er ist heilfroh, als endlich die zwei Wochen rum sind.
Drei der Soldaten in Kundus haben gerade erst nicht so viel Glück gehabt. Auf einer Patrouille in ihrem Fennek wurden sie angegriffen. Nur leicht verletzt, heißt es offiziell. Zumindest am Körper. Reden sie darüber in Kundus? Die Vorgesetzten haben gesagt, dass es Verletzte gab. Martin macht sich so seine Gedanken, wie das wohl wäre, wenn plötzlich einer weggeputzt würde, mit dem er beim Frühstück noch am Tisch saß. „Das würde einen bestimmt tief treffen“, sagt er. Aber nie hätte er einen der Verwundeten gefragt. „Pflaster drauf – und gut ist“, sagt er flapsig.
Draußen, das heißt auch Armut. Jürgen kann noch gar nicht fassen, was er erlebt hat. Menschen, die in Erdlöchern hausen. „Wirklich Löchern“, wiederholt er fassungslos. „Da kann man gar nicht wohnen. Und wir zu Hause streiten uns über Benzinpreise.“ Und dann dieses Kind. „Ich wusste erst gar nicht, was das ist, da am Hang.“ Es war ein Mädchen, sein Körper endete mit der verkrüppelten Hüfte. „Sie lief auf den Händen den Hang rauf.“ Auch das wiederholt er noch mal, als könnte er es selbst nicht glauben. „Auf den Händen.“
Nacht in Kundus.
Raketenalarm
. Alle müssen in die Schutzräume. Die Soldaten sind das schon fast gewohnt, so oft ist Alarm. Aber viele sind es leid. „Wenn der Alarm kommt, ist die Rakete doch schon abgeschossen. Die, die sie abgefeuert haben, machen sich längst aus dem Staub. Die wollen doch nicht geschnappt werden“, sagt Andreas. „Da kommt keine zweite mehr.“ Es ist zwar gegen die Order, aber inzwischen bleiben manche bei Alarm einfach im Bett liegen.